Kammer der Regionen

17. PLENARSITZUNG

CPR(17)3
21. August 2009

Überschuldung der privaten Haushalte und Wucherzinsen: Die Verantwortung der Regionen

Ausschuss für soziale Kohäsion

Berichterstatter: Carmen Patrizia MURATORE, Italien (R, ULDG[1])

A. Entschliessungsentwurf 2

B. Empfehlungsentwurf 4

Zusammenfassung

Die Wirtschafts- und Finanzkrise wirkt sich auf das Konsumverhalten vieler Familien aus, insbesondere auf die schwächsten, die Überschuldung oder Wucherpraktiken ausgesetzt sind, wenn sie versuchen, ihre Grundbedürfnisse zu stillen.

Ergänzend zur notwendigen Entwicklung nationaler Bestimmungen schlägt dieser Bericht regionale Maßnahmen vor, insbesondere präventive, um die Verbraucher zu schützen und die finanzielle Eingliederung der ärmsten Haushalte sicherzustellen.

Er befürwortet eine Kontrolle der Praktiken bei der Kreditvergabe und setzt sich für die Idee ein, ein europäisches Modell für einen Kodex guter Praktiken unter Anleitung des Europarats zu entwerfen, um allen Beteiligten an der Kreditvergabe ihre Verantwortung bewusst zu machen.


A. ENTSCHLIESSUNGSENTWURF[2]

1. Eine wachsende Zahl privater Haushalte in Europa erlebt aufgrund der Rezession eine Verschlechterung ihrer finanziellen Situation, eine Verschlechterung ihrer Verhandlungs- und Kaufkraft, einen steigenden Rückgriff auf Kredite, um die Grundbedürfnisse zu stillen, und vor allem die Situation, dass sie immer stärker Darlehen geringer Qualität und hoher Kosten ausgesetzt sind.[3] Dies und die gestiegenen Risiken für ein stabiles Einkommen führen sie manchmal in einen Teufelskreis der Überschuldung. Andere, denen der Zugang zu legalen Kreditquellen versperrt ist, werden Opfer ungesetzlicher Wucherer, die, neben anderen illegalen Aktivitäten, welche die öffentliche Sicherheit gefährden, Profit aus der verletzlichen Position dieser Familien ziehen.

2. Im Zuge der Marktderegulierung und angesichts des Fehlens präventiver Maßnahmen weitet sich dieses Phänomen aus und vertieft den Grad der Armut und der Ausgrenzung. Es wirkt sich aber auch auf die gesamte Gesellschaft aus und überlässt den kommunalen und regionalen Stellen die Aufgabe, die sozialen Folgen, wie. z. B. Zwangsräumungen und das Auseinanderbrechen der Familien, aufzufangen.

3. Der Kongress erinnert an seine aktuelle Arbeit zum verantwortungsvollen Konsum und der auf Solidarität basierenden Finanzierung[4] und betont, dass alle Beteiligten in der Gesellschaft gemeinsam Verantwortung für diese Angelegenheit tragen, und er weist darauf hin, dass es im gegebenen Kontext dringend einer Lösung dieses Problems der Überschuldung und des Wuchers bedarf, sei es gesetzlich oder nicht, und dass die finanzielle Eingliederung der ärmsten Haushalte gewährleistet werden muss.

4. Angesichts der Tatsache, dass es die Aufgabe der kommunalen und regionalen Stellen ist, den in Schwierigkeiten befindlichen Gruppen zu helfen, und um die Arbeit auf kommunaler Ebene zu unterstützen, fordert der Kongress die regionalen Verwaltungsstellen auf, Maßnahmen in Ergänzung der nationalen Vorschriften zu erlassen und sich für Kreditvorschriften einzusetzen, die sich mit den Problemen Kreditkartentausch, Produkte mit Zinswucher, Kickback-Zahlungen usw. befassen, möglicherweise durch gesetzgeberische Maßnahmen im Rahmen ihrer Befugnisse, um dieses Phänomen zu bekämpfen. Größere Aufmerksamkeit muss den Darlehensvergabepraktiken, der Kontrolle und den sozialen Folgen gewidmet werden.

5. Zu diesem Zweck fordert der Kongress die Regionen auf, in ihren Gebieten günstige Bedingungen für die Vernetzung von Kompetenzen, den Austausch von Know-how und das Schließen von Partnerschaften zwischen Institutionen und Beteiligten aus der Wirtschaft zu schaffen, um die folgenden Aktivitäten durchzuführen:

a. Aufklärung der Kreditgeber und Kreditvermittler hinsichtlich ihrer Verantwortung durch Festlegen von Vorschriften und Warnungen an ihre Mitarbeiter;


b. Schaffung, sofern noch keine existieren, und finanzielle Unterstützung effektiver Schuldnerberatungsagenturen und Verknüpfung dieses Angebots mit anderen städtischen und kommunalen Diensten; Überwachung des lokalen Bedarfs an diesen Diensten, Bereitstellen technischer Hilfe für diese Dienste und Ausbildung ihres Personals;

c. auf präventiver Basis die Entwicklung von:

i.          Haushaltshilfen für alle Bevölkerungsgruppen sowie Anlaufstellen und soziale, wirtschaftliche und juristische Hilfe für verschuldete Personen;

ii.          eine Einführung in das Bank- und Haushaltswesen für die Allgemeinheit, Einzelpersonen, vor kurzem eingestellte Mitarbeiter und schutzbedürftige Gruppen;

d. Unterstützung von Organisationen, die gegen Überschuldung kämpfen und verschuldeten Personen helfen und Förderung eines verantwortungsvollen Zugangs zu speziell angepassten Bankkonten und Kleinkrediten für Personen in ungesicherten Situationen;

e. Förderung eines Zugangs zu verantwortungsvollen Kreditprodukten, wenn erforderlich durch staatliche Stellen, um Menschen mit geringen Einkommen bei der Stellensuche oder dem Stellenerhalt, der Sicherung der Mobilität oder beruflichen Wiedereingliederung zu unterstützen oder bei der Wohnungssuche zu helfen;

f. Bekämpfung von Wucher, indem man die Opfer dazu ermutigt, Fälle illegaler Kreditgeschäfte über vertrauliche Telefon-Hotlines zu melden, und Einrichten von Spezialteams mit den erforderlichen Befugnissen, um Täter zu identifizieren und zu verfolgen;

g. Erfassen und Auswerten von Daten zur Kredit- und Schuldenberatung, Bereitstellen eines Jahresberichts zur Überschuldung, ihrer Ursachen und sozialen Folgen in ihrer Region und die wirksame Meldemöglichkeit von Fällen von Wuchergeschäften;

h. Unterstützung von Konferenzen und Treffen zwischen Verbrauchern, Kreditberatern und den Banken, um das öffentliche Bewusstsein zu steigern und Vertreter der verschiedenen Berufsgruppen zu informieren.

6. Der Kongress fordert die regionalen Regierungen auf, sich vom Multipartite Social Contract (Multilateraler Sozialvertrag) des Europäischen Komitees für soziale Kohäsion (CDCS) inspirieren zu lassen, wenn sie Mechanismen für die Unterstützung überschuldeter Personen einrichten. Diese Verträge bringen öffentliche Stellen und unterschiedliche Organisationen der Zivilgesellschaft zusammen, um zahlreiche gemeinsame Dienste anzubieten, wodurch eine Zergliederung von Bemühungen verhindert und die Verantwortung der Leistungsempfänger und deren Engagement für solidarische Initiativen gefördert wird.

7. Der Kongress erinnert an die Empfehlung CM/Rec(2007)8 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über rechtliche Lösungen des Schuldenproblems und ruft die Regionalregierungen auf, ihren Einfluss geltend zu machen, um sicherzustellen, dass ihre nationalen Stellen diesen Text umsetzen.

8. Abschließend bittet der Kongress seinen Ausschuss für sozialen Zusammenhalt, mit seiner Entsprechung im Ausschuss der Regionen zum Thema eines verantwortungsvollen Konsums und Kreditvergabe sowie zu den Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise zusammen zu arbeiten.


B. EMPFEHLUNGSENTWURF[5]

1. Die Kreditvergabe hat sich in einigen europäischen Staaten in den letzten Jahrzehnten erheblich ausgeweitet, manchmal ohne eine ausreichende Überwachung und Regulierung, zum Nachteil der Verbraucherrechte. Bestimmte unangemessene Marktpraktiken werden eingesetzt, um Familien zu einem Missbrauch von Konsumkrediten zu verleiten und einige dieser Familien, die am Rande eines Systems leben, das Kredite in unangemessener Weiser verteilt, greifen auf diese illegalen Praktiken des Wuchers zurück.

2. Spezialisierte öffentliche Stellen und Kredit- und Schuldnerstellen haben das Wiederauftauchen rücksichtsloser Kreditvergabepraktiken beobachtet, die von der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise angetrieben werden. Darüber hinaus sind die Verfahren zum Umgang mit Überschuldung, welche eine Reihe von Mitgliedstaaten eingeführt haben, häufig komplex und neigen dazu, die Schuldner zu bestrafen, indem sie diese und ihre Familien isolieren und sie dadurch von der Gemeinschaft abhängig machen.

3. Die Gemeinden und Regionen sind direkt mit den sozialen Folgen dieser Entwicklung konfrontiert, z. B. immer längeren Wartelisten für Sozialwohnungen, eine steigende Zahl von Personen ohne festen Wohnsitz und ein sich verschlechternder Gesundheitszustand. Der Kongress begrüßt die Bemühungen einiger Gemeinden und Regionen in Bezug auf die Anpassung ihrer Sozialpolitik in diesem Bereich.

4. Mit Verweis auf seine bisherige Arbeit zum verantwortungsvollen Konsum und einer auf Solidarität basierten Finanzierung [6] plädiert der Kongress an die Verantwortung der staatlichen Stellen auf allen Ebenen, aufeinander abgestimmte Maßnahmen zu ergreifen, um den Schutz von Kreditnehmern zu stärken und die finanzielle Eingliederung der schutzbedürftigsten Haushalte zu bewirken.

5. Zu diesem Zweck ruft der Kongress das Ministerkomitee auf, seine Mitgliedstaaten zu bitten:

a. alle ihre Mechanismen für den Umgang mit Insolvenz in Konsultation mit den Verbraucherverbänden zu überarbeiten und sich dabei auf den präventiven Aspekt zu konzentrieren;

b. die maximal zulässigen Zinssätze an Referenzsätze zu binden, anstatt an jene, die von Kreditinstituten benutzt werden;

c. allen Akteuren der Kreditkette ihre Verantwortung vor Augen zu führen, indem sie:

i.          eine nationale Datenbank einrichten, die alle von Privatpersonen eingegangenen finanziellen Verpflichtungen auflistet [7], und Auforderung an die Kreditgeber und Kreditvermittler, diese Datenbank zu durchsuchen, um alle erforderlichen Informationen der Darlehensantragsteller zu beziehen, um deren finanzielle Lage und Rückzahlungskapazität zu bewerten und um die geeignetsten Kreditarten und angemessensten Beträge zu ermitteln, die gewährt werden können.  Diese Datenbanken sollten überwacht werden, damit die Auflagen für Datenschutz und Wahrung der Privatsphäre eingehalten werden und um ihren Missbrauch zu verhindern (z. B. Kreditwürdigkeitseinstufungen, die ermöglichen würden, höhere Zinssätze von ärmeren Verbrauchern zu verlangen);

ii.          Einführen von Regelungen für die Förderung, Verwaltung und Umsetzung von Kreditverträgen, begleitet von zivil- und strafrechtlichen Sanktionen gegen Banken und Kreditorganisationen, z. B. Zinsverlust, und Aufforderung an die staatlichen Organe, deren Praktiken zu prüfen;


d. als Alternative zu juristischen Verfahren das Einrichten eines landesweiten Netzwerks von Schuldnerberatungen (staatliche oder private), die für die rechtliche Aufklärung von Schuldnern im Hinblick auf deren Rechte und Pflichten verantwortlich sind und ihnen helfen, den Kreditgebern Entschuldungspläne vorzuschlagen oder andere legitime Strategien für den Umgang mit ihrer Überschuldung zu entwickeln;

e. in einem Prozess des gegenseitigen Lernens die Förderung der Ausbildung von Verbrauchern in finanziellen Angelegenheiten und von Anbietern in sozialen Fragen zu unterstützen;

f. die Förderung der Entwicklung und Bereitstellung verantwortungsvoller Kreditprodukte im privaten, genossenschaftlichen und öffentlichen Sektor, welche den Kreditbedarf jener Personen erfüllen, die bisher vom traditionellen Wirtschafts- und Finanzsystem ausgeschlossen waren;

g. Zusammenarbeit mit den kommunalen und regionalen Stellen, um vor Ort gegen Wucher vorzugehen, durch klare rechtliche Definitionen von Wucher und durch das Bereitstellen personeller und finanzieller Mittel für die Einrichtung von Teams mit Sonderbefugnissen, um Untersuchungen durchzuführen und illegale Kreditgeber zu verfolgen;

h. regelmäßige Auswertung der Maßnahmen, die zur Verhinderung und zur Bekämpfung der Überschuldung privater Haushalte und zur Förderung der finanziellen Eingliederung ergriffen wurden.

6. Der Kongress fordert seine Mitgliedstaaten auf, den vom Europäischen Ausschuss für soziale Kohäsion (CDCS) in seinen multilateralen Sozialverträgen entwickelten Ansatz zu verbreiten, die kommunalen und regionalen Stellen und die zivilen Organisationen aufzurufen, ihre Bemühungen zu bündeln, um überschuldeten Personen zu helfen und Dienste anzubieten, einen Dialog mit ihnen zu führen und ihnen insbesondere zu gestatten, ihre Solidarität und zivile Verantwortung auszuüben. Außerdem bittet der Kongress das Ministerkomitee, die Arbeit des CDCS über gemeinsame soziale Verantwortung unter Einbeziehung von Bürgern um Kampf gegen Ausgrenzung zu verstärken.

7. Des Weiteren erinnert der Kongress an die Empfehlung CM/Rec(2007)8 an die Mitgliedstaaten über rechtliche Lösungen des Schuldenproblems, welche die Erleichterung der Auswirkungen einer Entschuldung und die Achtung der Menschenwürde von überschuldeten Personen und Familien fordert. Er bittet das Ministerkomitee, um eine effektive Umsetzung sicherzustellen:

a. die Bekanntgabe der Empfehlung in den Mitgliedstaaten bei allen Beteiligten zu gewährleisten;

b. praktische Maßnahmen zu ergreifen, um deren Umsetzung zu beurteilen, u.a. Sammeln von Informationen aus den Mitgliedstaaten und Austausch guter Praktiken auf nationaler und regionaler Ebene;

c. an der Einführung von Konzepten einer ethischen und sozialen Verantwortung bei Kreditvergabepraktiken zu arbeiten, indem sie die entsprechenden Organe des Europarats damit beauftragen, ein europäisches Modell für Wohlverhalten und ein Modell für eine verantwortungsvolle Kreditvergabe seitens der Banken und Kreditinstitute zu entwerfen, in enger Zusammenarbeit mit den relevanten Berufsvertretern und nichtstaatlichen Verbraucherverbänden, und den Kongress in deren Entwurf und Verbreitung einzubeziehen.

8. Abschließend bittet der Kongress das Ministerkomitee, die Mitgliedstaaten, die auch Mitglieder der Europäischen Union sind, aufzufordern, die Empfehlung CM/Rec(2007)8 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über rechtliche Lösungen des Schuldenproblems bei der Umsetzung der EU-Richtlinie 2008/48/EG über Kreditverträge für Verbraucher zu berücksichtigen, die sich auf Informationen für zukünftige Kreditnehmer konzentriert.



[1] L: Kammer der Gemeinden / R: Kammer der Regionen

ULDG : Unabhängige und Liberaldemokratische Gruppe des Kongresses

EVP/CD : Gruppe Europäische Volkspartei – Christdemokraten des Kongresses

SOZ : Sozialistische Gruppe des Kongresses

NI : Mitglied, das keiner politischen Gruppe des Kongresses angehört

[2] Vorentwurf der Entschließung und der Empfehlung am 28. August 2009 vom Ausschuss für soziale Kohäsion der Kammer der Regionen angenommen.

Mitglieder des Ausschusses:

E. Haider (Vorsitzender), M. Khan (stellv. Vorsitzender) (Stellvertreter: J. Edney), C. Aksoy, M. Aliev, S. Altobello, S. Berger (Stellvertreter: P. Schowtka), J.‑M. Bourjac, M. Castro Almeida, A. Clemente Olivert, A. Colucci, Z. Dragunkina, M. Gerasumenko, M. Gojkovic (Stellvertreterin: D. Davidovic), U. Hiller (Stellvertreter: G. Krug), T. Karol, F. Lastra Valdes (Stellvertreterin: P. Bosch I Codola), D. Lloyd‑Williams, D. Ronga, E. Simonetti (Stellvertreterin: P. Muratore), R. Tirle, P. Wies.

N.B.: Die Namen der Mitglieder, die an der Abstimmung teilnahmen, sind kursiv gedruckt.

Sekretariat des Ausschusses: D. Rios und M. Grimmeissen

[3] Insbesondere revolvierende Darlehen zu extrem hohen Zinssätzen, die zusammen mit den Kosten den Darlehensnehmer daran hindern, die ursprüngliche Kapitalsumme zurückzuzahlen.

[4] Entschließung 263 (2008) über verantwortungsvollen Konsum und ein auf Solidarität basiertes Finanzierungwesen.

[5] Siehe Fußnote 2.

[6] Empfehlung 244 (2008) über verantwortungsvollen Konsum und ein auf Solidarität basiertes Finanzierungwesen.

[7] So z. B. die Centrale des Crédits aux Particuliers, die von der belgischen Nationalbank geleitet wird.