13. PLENARTAGUNG

DREIZEHNTE TAGUNG

(Straßburg, 30. Mai – 1. Juni 2006)

Empfehlung 191 (2006)1

über

Tschernobyl, 20 Jahre danach:

Katastrophenmanagement durch lokale und regionale Behörden

(1) Diskussion und Annahme durch den Kongress am 31. Mai 2006, 2. Sitzung (siehe Dok. CG(13)9, Empfehlungsentwurf vorgelegt durch G. Doganoglu (Turkei, L, EVP/CD) und W. Van Gelder (Niederlande, R, EVP/DC)


1. Vor zwanzig Jahren, am 26. April 1986, erschütterte eine schreckliche Tragödie im Kernkraftwerk von Tschernobyl die Welt. Die Katastrophe, die 1986 in Tschernobyl geschah, war weltweit die schwerste in der Geschichte der zivilen Atomindustrie und ein großer radioaktiver Zwischenfall;

2. Dieser Unfall war ein Alarmsignal für die ganze Welt und zeigte, welche Fragen das Management der zivilen Atomindustrie, die Verbreitung von Informationen und Verantwortung bei den Entscheidungen über den Bau und die Nutzung der Kernkraftwerke aufwarf;

3. Auch zwanzig Jahren danach leiden die von der Katastrophe betroffenen Regionen in der Ukraine, Belarus und Russland immer noch unter den Folgen: Radioaktivität, sanitäre Schäden und sozioökonomische Schwierigkeiten, ohne die schwerwiegenden psychologischen Probleme zu erwähnen, unter denen die Bevölkerung und die Noteinsatzteams leiden;

4. Der Kongress wollte den Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl mit einer Konferenz begehen „Tschernobyl 20 Jahre danach: Katastrophenmanagement durch lokale und regionale Behörden“ in Slavutych, einer neu gebauten Stadt, 50 km von Tschernobyl entfernt, in der die Angestellten des Kernkraftwerkes und ihre Familien leben;

5. Die Konferenzteilnehmer richteten an den Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates den „Appell von Slavutych“ und setzten fünf große Prinzipien für die nukleare Sicherheit fest;

6. Der Kongress begrüßt die Ergebnisse der Konferenz, die der Ausschuss für nachhaltige Entwicklung gemeinsam mit der Stadt Slavutych organisiert hat und befürwortet diese Initiative;

7. Angesichts des Vorangegangenen empfiehlt der Kongress dem Ministerkomitee des Europarates:

a. den Appell und die Prinzipien von Slavutych  zu übernehmen;

b. den Appell von Slavutych an die Mitgliedstaaten des Europarates weiterzuleiten, damit sie die Prinzipien von Slavutych in ihre Aktionen und Politik zur nuklearen Sicherheit aufnehmen;

c. gemäß Appell und Prinzipien von Slavutych, Erfahrungen und Informationen in spezifischen Bereichen des Katastrophenmanagements auszutauschen, wie z.B. Informationen über Risiken und - in Krisenzeiten - über Informationssysteme und Evakuierungsprogramme, die in interregionalen europäischen Programmen wie ESCAPE, AWARE und „Sicherheitskette“ gegeben werden;

d. diesen Appell an das Abkommen EUR-OPA zu Gefahren und erhöhten Sicherheitsrisiken zu richten, damit die Prinzipien diesem als Leitlinien bei seinen Arbeiten dienen und an die Unterzeichnerstaaten des Teilabkommens weitergeleitet werden, insbesondere im Hinblick auf die kommende Ministertagung (Marakesch, Marokko, 31. Oktober 2006), die besonders die Rolle der Gemeinden und Regionen bei der Prävention und dem Katastrophenmanagement behandelt. 


ANHANG

Appell von Slavutych

der internationalen Konferenz

„Tschernobyl 20 Jahre danach:

Katastrophenmanagement durch lokale und regionale Behörden“

Slavutych (Ukraine), 2. – 4. März 2006

Wir,

die Teilnehmer der internationalen Konferenz „Tschernobyl 20 Jahre danach“, die lokalen und regionalen Vertreter, Parlamentarier und Vertreter der Regierungen, internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen und Experten,

vereint in Slavutych, um den 20. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl zu begehen,

richten einen Appell an den Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates und ein Kommunique an die anderen zuständigen Organisationen.

Hier, fünfzig Kilometer von Tschernobyl entfernt, 20 Jahre nach der schrecklichsten technologischen Katastrophe in der Geschichte der Menschheit, erachten wir es als notwendig, feierlich die fünf großen Prinzipien zu bekräftigen, die wir von jetzt an „Prinzipien von Slavutych“ nennen werden und die den staatlichen Behörden bei der nuklearen Sicherheit als Leitlinien dienen sollten.

Wir wünschen, dass dieser Appell die Arbeiten des Kongresses inspiriert und, wenn dieser einverstanden ist, Gegenstand einer Empfehlung an das Ministerkomitee des Europarates sein könnte.

Die „Prinzipien von Slavutych“:

1.         Die zentrale Rolle der Regierung

Die Atomindustrie liegt aufgrund der Komplexität und der Gefährlichkeit der damit verbundenen Verfahren von Natur aus in der Verantwortung des Staates, insbesondere bei den großen Problemen der Energietechnologie, Ansiedlung von Anlagen und die damit verbundenen Sicherheitsproblemen.

Die große Verantwortung des Staates kann nicht abgetreten werden. Nur eine Kontrolle durch die Regierungen in Zusammenarbeit mit der Völkergemeinschaft ermöglicht weltweit ein globales Management der nuklearen Sicherheit. Außerdem können nur die Regierungen die notwendigen Ressourcen für die Ausbildung und wissenschaftliche Forschung zur Verfügung stellen, die wichtig sind und die einen ersten Schritt für eine langfristige Präventionspolitik darstellen.

2.         Die bedeutende Rolle der Gebietskörperschaften

Die Gebietskörperschaften spielen aufgrund ihrer Position in vorderster Reihe und ihrer Nähe zu der direkt betroffenen Bevölkerung, die sie vertreten, in Zusammenarbeit mit der Zentralregierung eine entscheidende Rolle bei der Einbindung der Bürger und dem Schutz der Bevölkerung.


3.         Nachbarschaftssolidarität

Die Katastrophe von Tschernobyl ist zu einem Symbol dafür geworden, dass ein Reaktorunfall keine lokalen, nationalen und internationalen Grenzen kennt.

Die nukleare Sicherheit darf sich nicht auf die politischen und administrativen Grenzen unserer Staaten beschränken. Sie erfordert eine wirksame Nachbarschaftssolidarität und grenzüberschreitende Zusammenarbeit, damit sichergestellt werden kann, dass die betroffenen Gebiete, unabhängig zu welchem Staatsgebiet sie gehören, gleichberechtigte Akteure sind. 

4.           Transparenz und Information

Informationen müssen umfassend und ständig zugänglich sein. Die internationalen Organisationen, die Regierungen, die Reaktorbetreiber und die Verwalter der Kernkraftwerke sind verpflichtet, die Bevölkerung der betroffenen Gebiete, die Nachbarbevölkerung und die Völkergemeinschaft ehrlich und umfassend zu informieren. Dieser Pflicht müssen sie sowohl in normalen Zeiten als auch in Krisenzeiten nachkommen.

5.         Einbindung und Konsultation der Bürger

Bei den großen technologischen Entscheidungen auf nationaler Ebene, insbesondere bei der zivilen Kernkraft, aber auch auf lokaler Ebene bei Anlagen, Sicherheitsmaßnahmen und der Schließung der Anlagen muss die unmittelbar betroffene Bevölkerung eingebunden und konsultiert werden, je nach den gängigen Verfahren des Landes einschließlich der direkten Konsultation.

Diese Einbindung ist notwendig, um eine Sicherheitskultur zu schaffen, die der einzige glaubwürdige Schutz angesichts des Ausmaßes der Risiken und eine unabdingbare Bedingung für die Umsetzung globaler Sicherheitspläne ist.

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Außerdem ist es wichtig, dass die Gebietskörperschaften, die bereits die Erfahrung gemacht haben oder die mit dem Risiko einer Katastrophe konfrontiert werden, Erfahrungen austauschen können. Sie appellieren an den Kongress des Europarates und den Ausschuss der Regionen der Europäischen Union, diesen Problemen bei ihren Arbeiten Priorität einzuräumen. Das „Europäische Forum für Katastrophenmanagement auf lokaler und regionaler Ebene“, das bei der Konferenz von Slavutych ins Leben gerufen wurde, kann hierbei eine wichtige Rolle übernehmen. 

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Abgesehen von der Bekräftigung der „Prinzipien von Slavutych“ würdigt die Konferenz die ukrainischen Regierung und die Gebietskörperschaften dieses Landes, die seit zwanzig Jahren die tragischen Folgen der Katastrophe von Tschernobyl tragen. Wir würdigen die Völkergemeinschaft, die beträchtliche Anstrengungen zugunsten der betroffenen Länder unternommen hat.

Wir rufen heute alle Akteure auf, die neue Einhausung des Blocks 4 im Einklang mit den geltenden internationalen Umweltnormen zu bauen. Wir sind überzeugt, dass eine technische und finanzielle Hilfe unabdingbar ist, damit die Gebietskörperschaften dieses düstere Kapitel unserer Industriegeschichte abschließen können und wir verpflichten uns unsererseits, diese Ziele weiterzuverfolgen.