Empfehlung 43 (1998)1 über territoriale Selbstverwaltung und nationale Minderheiten

Der Kongress,

In Anbetracht der am 26. Oktober 1997 in Cividale del Friuli angenommenen Erklärung über Föderalismus, Regionalismus, kommunale Selbstverwaltung und Minderheiten;

In Anbetracht der anlässlich seiner vierten Tagung angenommenen Entschliessung 52 (1997) über "Föderalismus, Regionalismus, kommunale Selbstverwaltung und Minderheiten";

Bedenkend, dass die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips einen nützlichen Beitrag zur Lösung des Problems des Schutzes der nationalen Minderheiten leisten kann;

Empfiehlt dem Ministerkomitee des Europarats, gestützt auf den dem vorliegenden Text beigefügten Entwurf eine Empfehlung zuhanden der Mitgliedstaaten anzunehmen.

ANHANG

VORENTWURF EINER EMPFEHLUNG
DES MINISTERKOMITEES AN DIE MITGLIEDSTAATEN
BETREFFEND DIE TERRITORIALE SELBSTVERWALTUNG
UND DIE NATIONALEN MINDERHEITEN
_____

Das Ministerkomitee, kraft Artikel 15b des Statuts des Europarats,
In Anbetracht dessen, dass es das Ziel des Europarats ist, zwischen seinen Mitgliedern eine engere Einheit herzustellen, um die Ideale und Prinzipien, die ihr gemeinsames Erbe darstellen, zu schützen und zu verwirklichen;
Die in der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen und in dem Rahmenübereinkommen über den Schutz der nationalen Minderheiten enthaltenen Grundsätze bekräftigend, die einen allgemeinen Zugang zu dem Problem darstellen;
In Erwägung, dass der Schutz der nationalen Minderheiten, unter denen die historischen Minderheiten Europas zu verstehen sind, eine Frage der Menschenrechte ist;
Der Überzeugung, dass die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, wonach Entscheidungen auf der bürgernächsten Ebene getroffen werden, einen nützlichen Beitrag leisten kann zur Lösung des Problems des Schutzes der nationalen Minderheiten;
Bedenkend, dass das Subsidiaritätsprinzip Gestalt gewinnt in der Anerkennung und Instituierung territorialer Selbstverwaltung, die kommunal oder regional sein kann;
In Anbetracht dessen, dass das Konzept der territorialen Selbstverwaltung nicht bedeutet, dass die einer bestimmten - kommunalen oder regionalen - Regierungsebene übertragenen Kompetenzen überall die selben sein müssen, sondern dass den Gebietskörperschaften ein und derselben Regierungsebene je nach den wirtschaftlichen, geographischen, historischen, sozialen, kulturellen oder sprachlichen Erfordernissen unterschiedliche Kompetenzen übertragen werden können;
Bekräftigend, dass der Einsatz des Subsidiaritätsprinzips als Beitrag zur Lösung des Problems des Schutzes der nationalen Minderheiten die Einheit des Staates nicht beeinträchtigt, sondern vielmehr eine Möglichkeit sein sollte, die innere Kohäsion und Solidarität des betreffenden Staates zu stärken, wobei allerdings auch die wachsende Interdependenz der nationalen mit der gesamteuropäischen Bevölkerung zu berücksichtigen ist;
In Anbetracht der Empfehlung Nr. 43 des Kongresses der Gemeinden und Regionen Europas (KGRE);

EMPFIEHLT
A. Jenen Mitgliedstaaten, deren administrative Unterteilungen bereits festgelegt sind, wenn in einer bestimmten Gebietskörperschaft die Angehörigen einer Minderheit einen erheblichen Bevölkerungsanteil darstellen, sodass spezifische Schutzmassnahmen gerechtfertigt sind,
a) eine Veränderung der geographischen Grenzen der betreffenden Gebietskörperschaft zum Zweck einer Änderung der Bevölkerungszusammensetzung zum Nachteil der Minderheit zu vermeiden;
b) die Möglichkeit zu prüfen, Gebietskörperschaften zusammenzulegen oder deren Zusammenschluss zu fördern, sodass eine Zusammenlegung der Mitglieder der nationalen Minderheit entsteht, welche Schutzmassnahmen rechtfertigt;
c) den fraglichen Gebietskörperschaften gesetzlich festgelegte, erweiterte Kompetenzen in all jenen Bereichen zu übertragen, wo ein wirksamer Schutz der Mitglieder der Minderheiten möglich ist, insbesondere in den Bereichen Sprache, Bildung und Kultur;
d) in den durch Minderheiten bevölkerten Gebieten die Legitimität der besonderen Rechtsvorschriften anzuerkennen, die jene Bereiche kennzeichnen, worin deren Besonderheit zum Ausdruck kommt;
e) das Recht der Gebietskörperschaften anzuerkennen, sich mit anderen Gebietskörperschaften mit ähnlichen Merkmalen zu kulturellen Zwecken oder zwecks Förderung der Sprache zu verbinden und, sofern es sich um Gebietskörperschaften an der Grenze handelt, grenzüberschreitende Verbindungen mit Gebietskörperschaften ähnlicher Prägung im Nachbarstaat einzugehen;
f) den Gebietskörperschaften die Kompetenz zuzugestehen, über den Gebrauch der Regional- oder Minderheitensprache in ihren gewählten Organen und im Publikumsverkehr ihrer Verwaltungen sowie, in Übereinstimmung mit Artikel 10.2 g) der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, auch über den Gebrauch korrekter, traditioneller Orts- und Flurnamen in der betreffenden Regional- oder Minderheitensprache, (gegebenenfalls zusammen mit den Bezeichnungen in der/den offiziellen Sprache/n), selber zu entscheiden.
g) im System der Gemeindefinanzen Eigenmittel und/oder Überweisungen vorzusehen, die solche Gebietskörperschaften in die Lage versetzen, es mit den vermehrten und spezifischen Verpflichtungen aufzunehmen, die sich aus der Anwesenheit von Mitgliedern einer nationalen Minderheit ergeben;
h) den Gebietskörperschaften die Kompetenz zu übertragen, im Sinne der Förderung des guten Einvernehmens zwischen Mehrheit und Minderheit Strukturen für die Vermittlung und Zusammenarbeit einzurichten;
i) den Mitgliedern einer Minderheit eine angemessene Vertretung in den gewählten Organen der Gebietskörperschaften sowie in jenen Organen zu gewährleisten, die diese Gebietskörperschaften auf der Ebene des Bundes- oder Nationalstaats vertreten;

B. Jenen Mitgliedstaaten, die eine Änderung ihrer administrativen Untereinheiten und insbesondere die Schaffung einer regionalen Ebene in Gebieten planen, wo nationale Minderheiten einen erheblichen Bevölkerungsanteil darstellen, zusätzlich zu den weiter oben unter A (a) bis (i) genannten weitere Massnahmen zu treffen:
a) um die Schaffung von Gebietskörperschaften zu gewährleisten, die eine Zerstreuung der Angehörigen einer nationalen Minderheit vermeiden und ihren wirksamen Schutz ermöglichen, sofern dem nicht andere, gebührend begründete Erwägungen wirtschaftlicher, sozialer oder geographischer Art entgegenstehen;
b) um den kommunalen oder regionalen Gebietskörperschaften die für die Verwirklichung eines angemessenen Schutzes der Minderheiten notwendige Macht zu erteilen;
c) entsprechend den Bestimmungen in Artikel 5 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung die betroffenen Bevölkerungen hinsichtlich der geographischen Abgrenzung der ins Auge gefassten Gebietskörperschaften zu befragen;
d) wenn regionale Gebietskörperschaften bereits geschaffen sind, dafür zu sorgen, dass auch sie über weitreichende Kompetenzen zur regionalen Entwicklung unter voller Nutzung der ihnen durch ihre Geschichte, Tradition und Multikulturalität gebotenen Potentiale verfügen.

1 Diskussion und Annahme durch den Kongress am 27. Mai 1998, 2. Sitzung (siehe Dok. CG (5) 11, Empfehlungsentwurf vorgelegt von Herrn G. MARTINI, Berichterstatter und F. ÖHMAN, Co-Berichterstatter)