Stellungnahme 18 (2002)1 zu dem Vorentwurf einer Empfehlung des CDLR betreffend Nahdienste in benachteiligten Stadtgebieten

A - PRÄAMBEL:

1. Der Kongress der Gemeinden und Regionen Europas (KGRE)2 begrüsst die Initiative des Ministerkomitees, einen Empfehlungsentwurf betreffend "Nahdienste in benachteiligten Stadtgebieten" auszuarbeiten. Eine Annahme dieser Empfehlung zu einem Zeitpunkt, da die öffentliche Meinung zunehmend empfindlich auf die Folgen des Verfalls gesellschaftlicher Bindungen in manchen benachteiligten Stadtgebieten reagiert, ist geeignet, die gesellschaftliche Kohäsion, eine der bleibenden Grundlagen der Gemeindedemokratie, zu stärken;

2. Der KGRE hält die Form der Empfehlung mit einem Anhang, worin konkrete Handlungselemente vorgeschlagen werden, für geeignet zur Anwendung gemäss dem Subsidiaritätsprinzip und in Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten;

3. Der KGRE geht im allgemeinen einig mit den Befunden aus der Analyse der Herausforderungen, vor die sich die verantwortlichen Politiker der Mitgliedstaaten sowie der kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften aufgrund der Schwierigkeiten gestellt sehen, welche benachteiligte Stadtgebiete zur Zeit bieten;

4. Der KGRE geht einig mit dem Befund des Ministerkomitees, wonach der Verfall benachteiligter Stadtgebiete nur durch entschiedenes und langfristiges Handeln vonseiten der Behörden einzudämmen ist, das darauf abzielt, die Lebensbedingungen in solchen Stadtgebieten zu verbessern, die Integration ihrer Bewohner zu fördern und für die Durchsetzung des Rechts zu sorgen - wobei keines dieser drei Ziele für sich allein genügt;

5. Ebenso teilt der KGRE die Ansicht, wonach diese Ziele nur mithilfe eines starken politischen Willens zu erreichen sind, wie ihn insbesondere das Vorhandensein von Nahdiensten bezeugt, welche es ermöglichen, durch die Erbringung wesentlicher Leistungen zur Befriedigung spezifischer öffentlicher Bedürfnisse der Solidarität der Gesellschaft Gestalt zu geben;

6. Der KGRE nimmt die aktuelle Entwicklung der öffentlichen Dienste, vor allem auch den - legitimen - Willen zur Kontrolle ihrer Kosten, zur Kenntnis, teilt aber auch die Zielvorstellung, die Gleichheit des Zugangs und Garantien für die Benutzer öffentlicher Dienste sicherzustellen - während es diesbezüglich eben doch noch erhebliche Ungleichheiten gibt;

7. Der KGRE zeigt sich erfreut darüber, dass seine Arbeiten zu jenen Elementen gehören, auf welche man sich bei der Ausarbeitung der Empfehlung des Ministerkomitees stützte, worunter insbesondere die folgenden:

a. die Empfehlung 19 (1996) über die Aspekte der Städtepolitik in Europa;

b. die Empfehlungg 26 (1996) betreffend "Gesundheit und Bürgerrechte: der Zugang zu Pflege für die Ärmsten Europas";

c. die Empfehlung 36 (1997) betreffend Kriminalität und Unsicherheit in den Städten Europas;

d. die Empfehlung 80 (2000) betreffend Kriminalität und Unsicherheit in den Städten Europas: die Rolle der Gemeinden;

e. die Europäische Städtecharta;

8. Der KGRE möchte daran erinnern, dass die Einbeziehung der kommunalen Gebietskörperschaften in die Lösung der Probleme benachteiligter Stadtgebiete bereits besteht: sind es doch in erster Linie die lokalen Abgeordneten, die sich mit den Problemen solcher Stadtgebiete und mit deren Bewohnern, denen gegenüber sie nicht gleichgültig bleiben können, zu befassen haben;

B - BETREFFEND DEN EMPFEHLUNGSENTWURF

9. Der KGRE ist nach eingehender Diskussion der Ansicht, dass der Empfehlungsentwurf im Hinblick auf eine Verstärkung seiner Wirksamkeit ergänzt werden sollte. Er schlägt dem Ministerkomitee hierfür die folgenden Elemente vor:

10. Der KGRE nimmt mit Befriedigung zur Kenntnis, dass die Rolle der Gemeinden als vorrangig für die Wiederherstellung harmonischer Lebensbedingungen in benachteiligten Stadtgebieten erkannt wird, möchte aber doch unterstreichen, dass diesbezüglich auch die Rolle der Staaten wesentlich ist, denn:

a. die Festlegung der gesetzlichen Bedingungen und Regelungen, die den Gebietskörperschaften ein Eingreifen und Handeln überhaupt ermöglichen, liegt bei den Staaten;

b. sie spielen auch eine bedeutende Rolle bei der Festlegung bzw. Zuteilung der finanziellen Mittel, die für die Umsetzung einer starken Dienstleistungspolitik in benachteiligten städtischen Milieus notwendig sind;

c. schliesslich sind die Staaten häufig selbst direkt (oder indirekt über öffentliche oder private Unternehmen) für örtliche Dienstleistungen verantwortlich;

11. Der KGRE begrüsst es, dass die Empfehlung die Staaten dazu auffordert, ihre Zusammenarbeit mit den kommunalen Gebietskörperschaften und mit anderen Erbringern öffentlicher Dienstleistungen zu verstärken. Er schlägt vor, deutlich darauf hinzuweisen, dass das Angebot von Nahdiensten in solchen Stadtgebieten "an Umfang mindestens demjenigen der üblicherweise der Bürgerschaft angebotenen Dienste entsprechen und in seiner Form und Qualität der Besonderheit der Stadtgebiete angepasst sein" solle. Ein Zusatz in diesem Sinne zu § 1 der Empfehlung wäre sinnvoll;

12. Der KGRE besteht darauf, dass die Aufrechterhaltung öffentlicher Dienste in benachteiligten Stadtgebieten unverzichtbar ist für die gesellschaftliche Kohäsion und für die Gleichheit des Zugangs aller Bürger zu den öffentlichen Diensten:

a. es gilt daher anzukämpfen gegen eine allzu durchgängige Tendenz, die öffentlichen Dienste im Rahmen einer Politik der Rentabilisierung und verbesserten finanziellen Leistung abzuschaffen;

b. die Beurteilungskriterien für die Leistungen eines öffentlichen Dienstes können nicht ausschliesslich finanzieller Natur sein;

c. vor diesem Hintergrund besteht der KGRE auf der Notwendigkeit, die öffentlichen Dienste in solchen Stadtgebieten aufrechtzuerhalten, und zwar auch dann, wenn eine Analse ihrer finanziellen Rentabilität Schliessungen nahelegen könnte;

13. Wenn die Bedingungen für die Schaffung oder Aufrechterhaltung öffentlicher Dienste finanziell offensichtlich allzu belastend sind, muss nach Alternativlösungen wie etwa einer räumlichen Zusammenlegung von Dienststellen oder einer Mehrfachfunktion von Diensten gesucht werden. Eine solche Lösung entspricht etwa dem one-stop-shop und bedeutet für die Bewohner solcher Stadtgebiete, die angesichts der Vielfalt zu erledigender Formalitäten und zu kontaktierender Personen oft entmutigt sind, eine erhebliche Vereinfachung;

14. Die Gesamtheit der Akteure (Staat, kommunale Gebietskörperschaften, öffentliche und private Unternehmen) muss die für die Aufrechterhaltung oder Wiedereröffnung öffentlicher Nahdienste in den benachteiligten Stadtgebieten benötigten finanziellen Mittel zur Verfügung stellen: diese Mittel können nicht einzig von den Gebietskörperschaften erwartet werden, können diese doch einer die gesamte Bevölkerung des jeweiligen Staates betreffenden Herausforderung nicht allein begegnen;

C - BETREFFEND DEN ENTWURF DES ANHANGS "Leitlinien betreffend Nahdienste in benachteiligten Stadtgebieten"

15. Wie bereits gesagt (§ 2, oben), nimmt der KGRE mit Befriedigung die im Anhang zu der Empfehlung enthaltenen "Leitlinien betreffend Nahdienste in benachteiligten Stadtgebieten" zur Kenntnis. Nach aufmerksamer Prüfung dieses Anhangs schlägt der KGRE folgende Änderungen an diesen Leitlinien vor:

a. dem Konzept der "Prävention" des Verfalls von Stadtgebieten, also der Intervention "stromaufwärts", sollte im Text mehr Gewicht gegeben werden. Insbesondere ist das in der Präambel vorkommende Konzept der "Aufrechterhaltung" der bestehenden Dienste eine Vorbedingung für deren Anpassung an die besonderen Bedürfnisse der Bewohner;

b. im Zusammenhang mit der Abgrenzung der ins Auge gefassten Stadtgebiete (§I - 1) sollten die Untersuchungen es ermöglichen, "die in Schwierigkeiten befindlichen oder in solche hineingeratenden Gebiete geographisch abzugrenzen".

c. wir teilen die Sorge um die Verbesserung der Zugänglichkeit von Dienstleistungen (§ II - 2). Der KGRE heisst die vorgeschlagenen Massnahmen gut. Doch sollten vielleicht zwei Punkte in diesen Stadtteilen besonders berücksichtigt werden: die Anwesenheit zahlreicher Personen ausländischer Herkunft und daher mit besonderen sprachlichen Schwierigkeiten sowie von Personen mit süeziellen Transportproblemen. Er schlägt daher vor, die vorgeschlagene Liste folgendermassen zu ergänzen:

i. "Berücksichtigung der sprachlichen Probleme zahlreicher Bewohner dieser Stadtteile";

ii. "leistungsfähige öffentliche Verkehrsmittel, um den Zugang zu öffentlichen Diensten, die nicht dezentralisiert werden können, zu erleichtern";

d. der Entwurf will die Bewohner auch zur Beteiligung ermutigen und sie in die in dem Stadtteil durchgeführten Projekte einbeziehen. Der KGRE stimmt diesem Vorschlag, der in die selbe Richtung wie seine eigenen Sorgen geht, zu. Gestützt auf die Erfahrungen einiger Mitglieder schlägt er vor, die aufgeführten Massnahmen folgendermassen zu ergänzen: "Die Bezeichnung von gewählten Abgeordneten, die speziell dafür verantwortlich sind, die Probleme des Stadtteils querschnittartig zu beobachten (Übertragung oder Delegation von Kompetenzen auf geographischer und nicht nur auf thematischer Basis)";

e. die Einführung eines globalen, integrierten und mehrjährigen Ansatzes ist geeignet, ein auf Dauer angelegtes, wirkungsvolles Handeln zu fördern, um ein Ziel von allgemeinem Interesse zu erreichen. Dazu ist aber eine bessere Koordination aller Akteure unerlässlich. Die in § III-1 erwähnten Datenbanken liessen sich ergänzen durch "die vollständige Liste der verschiedenen Akteure (öffentliche Akteure, private Akteure, NROs), die in dem Stadtteil aktiv sind";

f. die neuen Technologien bieten beachtliche Möglichkeiten des Informationsaustauschs. Allerdings sollte man auch ihre Grenzen im Auge behalten und sich vor allem darüber klar sein, dass der Zugang zu diesen neuen Technologien (etwa dem Internet) für manche benachteiligten Gruppen nicht zu den vorrangigen Anliegen gehört, ist es doch für diese Bürger oft wichtiger, die Sprache zu erlernen als die Nutzung einer elektronischen Datenbank;

g. überdies sind die Kosten dieser neuen Technologien nicht zu vernachlässigen. Vor ihrer systematischen Einführung muss deshalb eine Kostenevaluierung durchgeführt und sichergestellt werden, dass diese Investitionen und die Kosten ihrer Nutzung nicht zulasten des Betriebskapitals gehen: Ziel öffentlichen Handelns darf nicht die Produktion von Statistiken sein;

h. wie oben (§ 15 - e) gesagt, ist die Koordination aller handelnden Parteien unerlässlich. Zusätzlich zu den in § III - 2 des Entwurfs eines Anhangs aufgeführten Argumenten fördert sie die Übersicht über die Handelnden und ihre Aktionen;

i. die persönlichen und familiären Situationen, die vorrangige Beachtung erfordern, sind zahlreich (§ IV-1 des Anhangs). Zu den bereits aufgeführten sollten noch Analphabetismus und Sprachprobleme hinzugefügt werden;

1 Diskussion und Annahme durch den Ständigen Ausschuss des Kongresses am 15. November 2002 (s. Dok. CPL(9)6, Entwurf einer Stellungnahme, vorgelegt im Namen von Herrn L. Bartha, Berichterstatter, durch Herrn J.-C. Frécon).

2 Der KGRE dankt dem ehemaligen Vizepräsidenten des Kongresses, Herrn Claude CASAGRANDE, für die Abfassung des vorliegenden Entwurfs einer Stellungnahme.