Stellungnahme 15 (2001)1 zu dem Empfehlungsentwurf des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten des Europarats betreffend "Die Beteiligung der Bürger am öffentlichen Leben auf kommunaler Ebene"

Allgemeine Vorbemerkungen

1. Der Kongress der Gemeinden und Regionen Europas (KGRE) begrüsst die Initiative des Ministerkomitees zur Ausarbeitung eines Empfehlungsentwurfs betreffend "Die Beteiligung der Bürger am öffentlichen Leben auf kommunaler Ebene". Eine Annahme dieser Empfehlung im Internationalen Jahr des Ehrenamtes gäbe ein wichtiges Signal zur Stärkung der Gemeindedemokratie in den Mitgliedstaaten des Europarats;

2. Der KGRE hält die Form dieses Dokuments - eine Empfehlung mit zwei Anhängen - für geeignet, die Umsetzung der vorgeschlagenen Massnahmen unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und damit angepasst an die jeweiligen örtlichen Besonderheiten zu ermöglichen;

3. Der KGRE stimmt mit der Analyse der die kommunale Selbstverwaltung gegenwärtig bedrohenden Herausforderungen und den Schlussfolgerungen des Ministerkomitees weitgehend überein. Internationale Studien belegen sowohl hinsichtlich des politischen Verhaltens der Bürger als auch hinsichtlich der Reform der kommunalen Selbstverwaltung in den Mitgliedstaaten des Europarats unterschiedliche Tendenzen und Entwicklungen;

4. Der KGRE bekennt sich zum Grundsatz der repräsentativen Demokratie als Basis der Bürgerbeteiligung nicht nur auf kommunaler, sondern auch auf regionaler sowie nationaler Ebene und als gemeinsames Erbe der Mitgliedstaaten des Europarats;

5. Angesichts veränderter Erwartungen der Bürger ist es richtig, die repräsentative Demokratie durch Elemente der direkten Demokratie zu ergänzen. Ausserdem empfiehlt es sich, Massnahmen zu treffen, um den Bürgern die Übernahme von Verantwortungen bei der Gestaltung des kommunalen Lebens zu ermöglichen;

6. Der KGRE hat sich in den letzten Jahren aktiv mit verschiedenen Aspekten der Stärkung der Gemeindedemokratie in den Mitgliedstaaten des Europarats befasst. In diesem Zusammenhang sind insbesondere zu nennen:

- die Europäische Charta der Beteiligung der jungen Menschen am Leben der Gemeinde und der Region (Entschliessung 237 (1992) des Kongresses der Gemeinden und Regionen Europas);

- die Entschliessung 243 (1993) des Kongresses der Gemeinden und Regionen Europas über Bürgerlichkeit und tiefe Armut: die Erklärung von Charleroi;

- die Entschliessung 15 (1995) betreffend die Gemeindedemokratie;

- die Entschliessung 91 (2000) betreffend bürgerschaftliche Verantwortung und Beteiligung am öffentlichen Leben;

Der vorliegende Empfehlungsentwurf des Ministerkomitees liegt auf der Linie der obengenannten Entschliessungen des KGRE. Diese Texte sollten daher auch in der Präambel zu der Empfehlung Erwähnung finden.

Nach eingehender Beratung hält es der KGRE für notwendig, die Empfehlung des Ministerkomitees folgendermassen zu ergänzen:

7. Der KGRE ist der festen Überzeugung, dass die Bereitschaft der Bürger zur Übernahme von Verantwortungen und zur Beteiligung an den "politischen Geschäften" in den Mitgliedstaaten des Europarats von der Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung abhängt. Mit der Annahme der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung ist eine gemeinsame europäische Norm geschaffen worden, an welcher sich die kommunale Selbstverwaltung in den einzelnen Mitgliedstaaten des Europarats messen lässt. Die der kommunalen Selbstverwaltung entsprechend der Europäischen Charta zugrundeliegenden Prinzipien sind: Selbstverwaltung (Eigenverantwortlichkeit in Sachen administrative Organisation und Finanzierung) und Bürgerschaftlichkeit (Formen und Verfahren der Bürgerbeteiligung);

8. Die Erfüllung ihrer zukünftigen Aufgaben durch die Gemeinden wird davon abhängen, inwieweit es gelingt, ihnen mehr Entscheidungskompetenz, verbunden mit der dafür nötigen Ausstattung in Form frei verfügbarer finanzieller Eigenmittel zu verschaffen;

9. Die Gemeinden stellen die Strukturen für die Politik auf örtlicher Ebene dar. Sie erbringen die öffentlichen Dienste am Ort; sie müssen über unabhängige Handlungsmöglichkeiten verfügen, damit sich der Bürger mit seiner Gemeinde identifiziert. Sie müssen beitragen zur Herstellung öffentlichen Konsenses, zur Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit, zur Wahrung der Rechtsordnung und zur Verkörperung der kulturellen Vielfalt. So bildet sich bei den Bürgern ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl zu ihrer Stadt, ihrer Gemeinde aus;

10. Deshalb hält es der KGRE für nötig, in die Empfehlungen zuhanden der Mitgliedstaaten folgenden Passus einzufügen:

"die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, sofern dies noch nicht geschehen ist, zu unterzeichnen und zu ratifizieren und dies mit gesetzlichen Massnahmen zu verbinden, die entsprechend den in der Europäischen Charta festgelegten Grundprinzipien der kommunalen Selbstverwaltung eine Stärkung der Handlungsfähigkeit und finanziellen Autonomie der Gemeinden bewirken";

11. Demokratie erschöpft sich nicht in der Ausübung des Wahlrechts. Die Einflussnahme des Bürgers auf die Gestaltung der Politik kann und muss auch in anderen Formen ermöglicht werden. Es lässt sich an eine Entwicklung von Spielarten der direkten Demokratie, aber auch an die Nutzung des Wissens und der Einsatzbereitschaft des Bürgers als des durch politische und administrative Beschlüsse unmittelbar Betroffenen denken, um hier zu geeigneten und bürgernahen Lösungen zu finden. Die Entwicklung einer Kultur des Dialogs zwischen Verwaltung, Politikern, Bürgern, gesellschaftlichen Gruppierungen, Verbänden, Wirtschaftsvertretern und anderen Akteuren ist somit unumgänglich. Der KGRE begrüsst deshalb ausdrücklich die in Anhang I niedergelegten Grundprinzipien zur Verbesserung der politischen Beteiligung auf örtlicher Ebene;

12. Der KGRE erachtet es für notwendig, darauf hinzuweisen, dass den in liberalen Rechtsstaaten dem Bürger eingeräumten Rechten auch Pflichten und Verantwortlichkeiten gegenüberstehen. Die auf den Menschen- und Bürgerrechten fussende Rechtsordnung und die Erfüllung der daraus folgenden Rechtspflichten ist eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingung für ein gedeihliches Zusammenleben. Nur wenn die durch Rechte und Freiheiten garantierten Handlungsspielräume der Bürger ethisch und moralisch gestaltet werden, kann das Zusammenleben in einer Gesellschaft menschenwürdig gelingen. Der KGRE ist daher der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten wie auch die kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften aufgefordert werden sollten, die in der Entschliessung 91 (2000) dargelegten Leitprinzipien für eine Politik der verantwortlichen Beteiligung der Bürger am Leben der Gemeinde und der Region zu prüfen, zu übernehmen und umzusetzen. Die in der Entschliessung 91 dargelegten ethischen und moralischen Grundsätze könnten in Form eines Anhanges III der Empfehlung angefügt werden;

13. Der KGRE nimmt mit Befriedigung zur Kenntnis, dass die in der Entschliessung 91 enthaltenen Vorschläge zugunsten besserer Transparenz der politischen Entscheidungsfindung auf kommunaler Ebene im Anhang II A des Empfehlungsentwurfs übernommen worden sind;

14. In der repräsentativen Demokratie wächst die politische Legitimität mit der Höhe der Wahlbeteiligung. Mit Sorge beobachtet nun der KGRE die sich in nahezu allen Mitgliedstaaten des Europarats abzeichnende Tendenz zu geringerer Wahlbeteiligung auf allen politischen Ebenen. Der KGRE hält es daher für erforderlich, dass in Anhang II B neben den bereits vorgeschlagenen Verbesserungen auch eine Ergänzung der Wahlverfahren empfohlen wird, dergestalt, dass die Bürger mehr Einfluss auf die Zusammensetzung ihrer Ratsversammlung nehmen können. Als hierfür brauchbar haben sich in der Praxis die Wahlverfahren des Kumulierens und Panaschierens erwiesen; die Bürger verfügen dabei über mehr als eine Stimme, die sie einer Person oder mehreren Personen einer einzigen oder mehrerer Parteien geben können;

15. Städte und Gemeinden, die sich zum Leitbild gemacht haben, eine "Gemeinde von Bürgern" zu sein, fördern die bürgerschaftliche Aktivität ihrer Einwohner im Sinne einer möglichst weitreichenden kommunalen Selbstverwaltung. Der KGRE begrüsst in diesem Zusammenhang die in der Empfehlung des Ministerkomitees aufgeführten Schritte und Massnahmen zur Förderung der Direktbeteiligung an der Entscheidungsfindung auf Gemeindeebene und an der Führung der Gemeindegeschäfte. Die in Anhang II C figurierenden Vorschläge stimmen überein mit den in der Entschliessung 91 enthaltenen Vorschlägen des Kongresses;

16. Zur Förderung einer verstärkten Beteiligung auch der jungen Frauen und Männer optiert der Kongress sowohl für eine Senkung des Wahlalters als auch dafür, die Schaffung von Jugendräten oder Jugendparlamenten zu unterstützen;

17. Im weiteren bittet der Kongress, in den Anhang II C einen Vorschlag zur Schaffung eines "Bürgerhaushaltes" aufzunehmen. Ziel eines solchen auf die Einbeziehung des Bürgers in die Haushalts- und Finanzplanung abzielenden Verfahrens ist die Erstellung eines Haushaltsplans, der auch dem Laien verständlich ist. Ein derartiger Plan muss im Rahmen örtlicher Bürgerversammlungen erklärt und unter Berücksichtigung der offenstehenden Optionen mit den Bürgern diskutiert werden. Die "Bürgervoten" zu den einzelnen Haushaltspositionen müssen bei den nachfolgenden Haushaltsberatungen mitberücksichtigt werden;

18. Die verstärkte Aktivierung bürgerschaftlichen Engagements ist ein entscheidendes Element für die Zukunftsfähigkeit der Städte und Gemeinden. Der KGRE ist daher der Auffassung, dass die kommunalen Gebietskörperschaften aufgefordert werden müssen, Strukturen zu schaffen, die geeignet sind, den Bürgern, Aktionsgruppen und Vereinen in ihrem Bestreben nach Beteiligung an der kommunalen Gestaltung des Zusammenlebens zu helfen. In diesem Zusammenhang empfiehlt der KGRE, auf die wichtige Arbeit von Seniorenbüros, Freiwilligenagenturen, Umweltschutzgremien (Lokale Agende 21), Vereinen, Netzwerken und Stiftungen hinzuweisen. Internet-Sites für Bürgermeldungen und Informationen sowie ein aktives Beschwerdemanagement können beitragen zur Aufdeckung von - inhaltlich oder auch organisatorisch begründeten - Schwierigkeiten in der Verwaltung, in Institutionen oder in anderen Dienstsleistungsstellen;

19. Der KGRE hält es auch für wichtig, zuhanden der kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften der Mitgliedstaaten des Europarats die nachfolgenden Erfolgsfaktoren als Voraussetzung für ein stärkeres Engagement vonseiten der Bürger zu nennen:

a. die Bürger - Frauen wie Männer - müssen fühlen, dass sie ernst genommen werden. Die kommunalen Gebietskörperschaften zeigen dies am besten dadurch, dass sie überzeugende Angebote zur Zusammenarbeit und zur Beteiligung vorlegen, die den Möglichkeiten, Motivationen und Problemen der Bürger Rechnung tragen. Vor allem müssen dabei die spezifischen Schwierigkeiten der Frauen hinsichtlich einer Beteiligung am politischen Leben in Rechnung gestellt und Massnahmen zu deren Überwindung getroffen werden;

b. das Interesse der Bürger, Vereine und Aktionsgruppen lässt sich auch durch Belohnungen und Anreize (Ehrungen, öffentliche Auszeichnungen, Qualifikationsangebote, Erstattung von Auslagen, Sponsoring) wecken;

c. Bürger und Bürgergruppen, die in irgendeiner Form zur Einsparung von Haushaltsmitteln beitragen, sollen auf einen Teil dieser Einsparungen zur Stärkung ihrer ehrenamtlichen Arbeit Zugriff haben dürfen;

d. um alle Bevölkerungsgruppen zu erreichen und ihnen Gelegenheit zu geben, sich zu engagieren, muss sich die Gemeinde an gewisse Gruppen gegebenenfalls energischer und in besonderer Weise wenden. Die Bürger möchten persönlich und nicht nur in allgemeiner Form angesprochen werden. Das ist der Grund, weshalb einfache Vermittlungsangebote nicht genügt haben;

e. bei der Förderung neuer Formen der Bürgerbeteiligung darf die traditionelle ehrenamtliche Tätigkeit nicht vergessen werden. Bürger, die zu Vereinen oder Gruppen gehören, welche schon seit vielen Jahren wichtige Aufgaben ehrenamtlich auf sich nehmen, dürfen nicht den Eindruck bekommen, dass ihre Verdienste bei den politischen Akteuren nicht mehr Anerkennung finden.

1 Diskussion und Annahme durch den Kongress am 29. Mai 2001, 1. Sitzung (siehe Dok. CG (8) 3, Entwurf einer Stellungnahme, vorgelegt durch die Herren M. Guégan und M. Haas, Berichterstatter).