Kammer der Gemeinden

19. TAGUNG

CPL(19)3
22. September 2010

Soziale Zeit, Freizeit: Welche lokale Zeitplanungspolitik ist sinnvoll?

Ausschuss für soziale Kohäsion

Berichterstatter: Clotilde TASCON-MENNETRIER, Frankreich (L, SOZ[1])

A. Entschliessungsentwurf 2

B. Empfehlungsentwurf 3

Zusammenfassung

Zeit ist einer der wichtigsten Aspekte der täglichen Lebensqualität der Bürger und gleichzeitig ein erheblicher Faktor für Ungleichheit.

Aus diesem Grund führen immer mehr Gemeinden eine Zeitplanungspolitik ein, die die Raumplanungspolitik ergänzt und die Organisation staatlicher und privater Dienste besser mit den veränderten Lebensmustern abstimmt.

Die Umsetzung dieser integrierten Politik lässt neue Formen von Institutionen, kommunaler Verwaltung und Kommunikation entstehen.

Die Entwürfe der Entschließung und der Empfehlung des Kongresses zielen auf die Verabschiedung von Zeitpolitik durch die Gemeinden in Europa ab und sollen die Einrichtung von Zeitbüros fördern, die wichtige Instrumente für diese innovative Politik sind.


A. ENTSCHLIESSUNGSENTWURF[2]

1 Mit der „Zeitpolitik für die Stadt" ist ein neuer öffentlicher Aktionsplan und eine neue Betrachtungsweise der Raumverwaltung in Europa[3] Anfang der 1990er entstanden. Dieser Ansatz für die Stadt- und Raumplanung betrachtet Zeit als Schwerpunkt im Hinblick auf Anwendung, Analyse und Maßnahmen.

2. Neue Raumplanungspraktiken und eine ungezügelte Stadtentwicklung sowie immer flexiblere Arbeitszeiten, Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, vermehrte Nichtarbeitszeiten, veränderte Lebensstile und eine andere Nutzung von Zeit und Raum und Umbrüche in den Familienstrukturen führen zu einem enormen Anwachsen der Mobilität und bringen Konflikte, Spannungen und Ungleichheit im Hinblick auf die Flächennutzung mit sich.

3. Die Qualität der Verwaltung und Regulierung von Zeit ist zu einem wichtigen Faktor des Raumentwicklungsprozesses geworden. Raum und Zeit sind interdependent und die Zeitplanung ist ein Kernelement der Raumplanung.

4. Die lokale Zeitplanungspolitik, auch als Zeitpolitik bekannt, soll die Lebensqualität verbessern und einen größeren sozialen Zusammenhalt schaffen. Ihre Entwicklung erfordert einen umfassenden, sektorübergreifenden und interdisziplinären Ansatz.

5. Neue Formen von Institutionen, wie z. B. „Zeitbüros" und „Zeitagenturen" haben zur Entstehung neuer Methoden der Analyse und Entwicklung öffentlicher Stadtplanungspolitik geführt und neue Formen der kommunalen Verwaltung auf der Grundlage partizipatorischer Demokratie nach sich gezogen.

6. Da Zeit ein wichtiger Aspekt der Lebensqualität und ein erheblicher Faktor für Ungleichheit ist, nimmt der Kongress der Gemeinden und Regionen Kenntnis von der Entstehung lokaler Zeitpolitik, wünscht diese in Europa auf allen Regierungsebenen zu fördern und stimmt zu, den Zeitfaktor in seine eigenen Aktivitäten aufzunehmen, insbesondere in die Aktivitäten, die mit der Stadtplanung zusammenhängen.

7. Er bezieht sich auf die Europäische Städtecharta II[4], die die wesentliche Rolle der städtischen Bürger als Kernstück der Stadtpolitik betont und sich mit der Notwendigkeit befasst, neue Modelle der Mobilität zu schaffen und städtische Gebiete komfortabler, zugänglicher und lebendiger für ihre Bewohner zu gestalten, ungeachtet ihres sozialen Hintergrunds, Alters oder Gesundheitszustands.

8. Angesichts des Vorstehenden ruft der Kongress die städtischen Behörden, kommunalen Stellen und untergeordneten Verwaltungsebenen auf:

a. das Bewusstsein der Bürger über das Organisieren von Zeit in ihren Familien und ihrer unmittelbaren Umgebung zu erhöhen und die Notwendigkeit, diese zu ändern und mit der Zivilgesellschaft daran zu arbeiten, neue Organisationsformen zu entwerfen, um die Herausforderungen einer modernen Gesellschaft zu meistern;

b. zu ermitteln, in welchem Maße Zeitfragen und zeitliche Konflikte Probleme für Bürger und Unternehmen im lokalen Kontext bedeuten;

c. Zeitbüros einzurichten, die Schlüsselelemente der lokalen Zeitpolitik sind, um Angebot und Nachfrage nach Zeit abzustimmen, Initiativen zu ergreifen und zu koordinieren, um Zeitpläne zu optimieren, und die Verfügbarkeit öffentlicher Dienste zu verbessern, um das tägliche Leben der Bürger zu vereinfachen;

d. eine sektorübergreifende, interdisziplinäre Studie über Mittel und Wege zur Förderung der Zeitpolitik im kommunalen Umfeld durchzuführen;

e. zu versuchen, die städtische Zeit und die soziale Zeit zu harmonisieren, um den Bedarf an zeitlichen Anpassungen alltäglicher Verpflichtungen und der räumlichen und zeitlichen Zugänglichkeit der städtischen Einrichtungen und Dienste zu erfüllen; diese Bemühungen müssen gleichzeitig die Solidarität unterstützen, die soziale Ausgrenzung bekämpfen und den Zusammenhalt fördern;

f. die zeitliche Dimension in alle ihre politischen Maßnahmen aufzunehmen;

g. die Konzepte anzuwenden und die Instrumente zu nutzen, die für die Umsetzung dieser Politik zur Verfügung stehen, und gleichzeitig ihre Relevanz sicherzustellen; neue Formen der Partizipation (gemeinsame Planungsorgane, gesellschaftlicher Dialog) und neue Tools für die Auswertung und Darstellung der räumlichen und zeitlichen Realität eines Gebietes zu etablieren (chronotopische Analysen und Karten);

h. beste Praktiken mit anderen Behörden auf nationaler und internationaler Ebene auszutauschen, um so Lernprozesse in diesem Bereich zu initiieren oder zu verstärken.

9. Abschließend weist der Kongress seinen Ausschuss für soziale Kohäsion an, die Möglichkeiten für die Förderung von Wissen über diese Politik in Europa zu untersuchen und die besten Praktiken für die Zusammenarbeit mit relevanten Organen des Europarats auszutauschen, insbesondere dem Europäischen Ausschuss für sozialen Zusammenhalt (CDCS).

B. EMPFEHLUNGSENTWURF[5]

1. In ihrer Suche nach Zeitgleichheit verabschieden immer mehr europäische Gemeinden und Regionen zeitgestützte Ansätze und richten Zeitbüros mit dem Ziel ein, die Lebensqualität ihrer Bürger durch ein Abstimmen der öffentlichen und privaten Dienste mit sich verändernden Lebensmustern zu verbessern.

2. Dieser neue Ansatz in der Stadt- und Raumverwaltung versucht, angesichts sich verändernder Lebensstile, die auf veränderte Arbeitsmuster und soziale Verhaltensweisen zurückzuführen sind, die städtische Zeit mit sozialer Zeit zu vereinbaren.

3. Die Zeitplanungspolitik betrachtet Zeit sowohl als Ressource als auch als kulturelles Medium und sie hinterfragt traditionelle Raumplanungsmechanismen. Sie hat zur Entwicklung neuer Formen von Institutionen (Zeitbüros) und zu neuen Formen der lokalen Partizipation und Kooperation geführt (z. B. der kommunale Bürgerdialog und öffentlich-private-Partnerschaften).

4. Diese Politik muss auf kommunaler Ebene umgesetzt werden, aber die Staaten können bei der Verbreitung und Etablierung derselben eine wichtige Rolle spielen. Einige Pionierarbeit leistende Staaten[6] haben sogar nationale und regionale Gesetze verabschiedet, welche Zeitbüros und die Zeitnutzungsplanung verpflichtend machen.


5. Der Europarat befasst sich seinerseits seit vielen Jahren durch seine Europäische Sozialcharta (1961), seine überarbeitete Europäische Sozialcharta (1996)[7], und die Arbeit des Lenkungsausschusses für die Gleichheit von Mann und Frau (CDEG) zur Vereinbarung von Berufs- und Privatleben implizit mit Zeitpolitik.

6. Der Kongress der Gemeinden und Regionen, im Bewusstsein der Ungleichheit, die sich aus der Zeitverteilung ergeben kann, ist der Überzeugung, dass der Europarat das Entstehen der Zeitpolitik anerkennen und deren Umsetzung fördern sollte.

7. Dementsprechend empfiehlt er dem Ministerkomitee des Europarats die Mitgliedsstaaten aufzurufen:

a. ein stärkeres Bewusstsein für die veränderten Muster des urbanen Lebens zu fördern, u.a. über die Medien;

b. die Zeitplanungspolitik auf kommunaler Ebene zu fördern und ihre Verabschiedung andernorts zu ermutigen;

c. eine Politik zu verfolgen, die Behörden dazu auffordert, in städtischen Gebieten Zeitbüros einzurichten, praktische Maßnahmen zu fördern und private Unternehmen zu unterstützen, die eine Zeitplanungspolitik verabschieden;

d. vollständig das bestehende Wissen und die bestehenden Fähigkeiten zu nutzen und Exzellenzzentren einzurichten, die von den kommunalen Stellen als Referenzpunkte genutzt werden können;

e. die besten Praktiken zu verbreiten und Netzwerkarbeit zu fördern;

f. die Tools und Instrumente für die Einführung und Unterstützung einer Zeitpolitik zu identifizieren, die auf nationaler Ebene und in anderen Staaten zur Verfügung stehen, deren Entwicklung zu fördern und die wissenschaftliche Bewertung derselben zu unterstützen;

g. Forschung in diesem Bereich zu fördern, insbesondere durch das Einrichten akademischer Fächer und von „Zeitlaboren”.

8. Abschließend ruft der Kongress das Ministerkomitee des Europarats auf, das „Recht auf Zeit" einzubeziehen. Er empfiehlt dem Ministerkomitee, die relevanten Organe des Europarats aufzurufen, insbesondere jene, die sich mit der Gleichstellung der Geschlechter und sozialem Zusammenhalt befassen, sich ausdrücklich mit der Zeitpolitik zu befassen und die Zeitverwaltung in ihre Aktivitäten aufzunehmen, zusammen mit den Konzepten „Zeit-Wohlbefinden" und „zeitliche Lebensqualität".



[1] L: Kammer der Gemeinden / R: Kammer der Regionen

ULDG: Unabhängige und liberaldemokratische Gruppe des Kongresses

EVP/CD: Europäische Volkspartei – Christdemokraten des Kongresses

SOZ: Sozialistische Gruppe des Kongresses

NI: Mitglieder, die keiner politischen Gruppe des Kongresses angehören

[2] Vorentwurf der Entschließung und Empfehlung, am 16. März 2010 vom Ausschuss für soziale Kohäsion der Kammer der Gemeinden angenommen.

Mitglieder des Ausschusses:

V. Rogov (Präsident), B.-M. Lövgren (Vizepräsident), S. Aliyeva, A. Antosova, S. Barnes, B. Belin, S. Bohatyrchuk-Kryvko, L. Chunaeva, Jetty Eugster-Van Bergeijk, P Filippou, S. Geirsson, I. Henttonen, G. Horvath, A. Kordfelder, I. Kuret, E. Maurer, A. Mimenov, K. Ölcenoglu, R. Ropero Mancera, J. Smyla, C. Tascon‑Mennetrier, A. Toader, E. Van Vaerenbergh (Stellvertreter: J. Michaux), F. Wagner, John Warmisham (Stellvertreter: V. Churchman).

NB: Die Namen der Mitglieder, die an der Abstimmung teilnahmen, sind kursiv gedruckt.

Sekretariat des Ausschusses: D. Rios und M. Grimmeissen

[3] In Italien.

[4] Im Mai 2008 vom Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats verabschiedet.

[5] Siehe Fußnote 2

[6] Italien.

[7] Artikel 22 – Die Arbeitnehmer haben das Recht auf Beteiligung an der Festlegung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Arbeitsumwelt, Artikel 23 – Alle älteren Menschen haben das Recht auf sozialen Schutz, Artikel 26 - Das Recht auf Würde am Arbeitsplatz, Artikel 27 - Das Recht von Arbeitnehmern mit Familienverpflichtungen auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung.