17. PLENARTAGUNG
Straßburg, 13. – 15. Oktober 2009

Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen: Hin zu einem Mehrebenen-Regierungssystem

Entschliessung 293 (2009)[1]

1. Der Europarat legt großen Wert auf die Stärkung der lokalen und regionalen Demokratie, da es vor allem die lokale und regionale Ebene ist, wo die Demokratie in Anwendung des Subsidiaritätsprinzips dem Bürger am nächsten ist. Regionale Demokratie ist ein wichtiges Element des konstitutionellen Systems der "checks and balances", vor allem in Bundesstaaten, und eine Garantie für ein effektives und demokratisches Mehrebenen-Regierungssystem. Die Bürgerinnen und Bürger identifizieren sich besonders stark mit ihrer Region auf Grund von kulturellen und sprachlichen Banden, aber auch aus historischen, geographischen und gesellschaftlichen Gründen.

2. Der Kongress ist überzeugt, dass gute regionale Regierungsführung einen zusätzlichen Wert darstellt, was sich darin zeigt, dass Regionalisierungen in den vergangenen Jahren in vielen Mitgliedstaaten stattgefunden haben. Neue regionale Institutionen wurden gegründet oder bestehende mit zusätzlichen Verantwortlichkeiten ausgestattet. Dies führte zu einer reichen Vielfalt von Regionen, die sich an unterschiedlichen Modellen orientieren.

3. Der Fortschritt der Regionalisierung in den einzelnen Staaten hängt in gewisser Weise einerseits von ihrem historischen Hintergrund und andererseits von den Erfahrungen in anderen Staaten ab. Der Prozess der europäischen Integration, vor allem die Schaffung des Kongresses der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften des Europarates und des Ausschusses der Regionen der Europäischen Union – beide im Jahr 1994 eingerichtet - trägt auch zu dieser Entwicklung bei. Der Prozess jedoch ist langsam und folgt keinem systematischen Muster. Der Kongress ist sich dieser Tatsache bewusst und überzeugt, dass im gegenwärtigen europäischen und internationalen Kontext der Prozess unumkehrbar ist.


4. Ein Mehrebenen-Regierungssystem muss von gegenseitige Kooperation und Interaktion zwischen europäischen, nationalen, regionalen und lokalen Behörden mit Rücksichtnahme auf die Rolle, Funktionen, Kompetenzen und Aktivitäten der jeweiligen Ebene geleitet sein. Frühere hierarchische Modelle der Unterordnung werden zugunsten eines lösungsorientierten Ansatzes der Kooperation aufgegeben. Eine klare Abgrenzung der Zuständigkeiten bei Querschnittsthemen ist eine Voraussetzung für ein intaktes und erfolgreiches Mehrebenen-Regierungssystem. Vor diesem Hintergrund begrüßt der Kongress das Weißbuch über das Regieren in einem Mehrebenen-Regierungssystem, das am 17. Juni 2009 vom Ausschuss der Regionen angenommen wurde (Dokument CDR 89/2009 fin).

5. Deshalb und weil er von den Verdiensten guter regionaler Regierungsführung überzeugt ist, hat der Kongress die Empfehlung 240 (2008) zum Entwurf einer europäischen Charta der regionalen Demokratie angenommen und arbeitet nun an der Entwicklung eines Referenzrahmens über regionale Demokratie mit.

6. Regionalisierung ist ein Mittel, um den Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen "Ownership" und anderen Regionen eine Mitsprache bei der Entwicklung von Politiken und interpolitischen Entscheidungsfindung zu geben. Direkt gewählte Regionalversammlungen sind ein Element zum Abbau des parlamentarischen Defizits auf der regionalen Ebene. Diese Nähe zu den europäischen Bürgerinnen und Bürgern stärkt die Demokratie und führt zu mehr direkter Bürgermitwirkung, und bringt (politische) Prozesse näher an das tägliche Leben der Bürgerinnen und Bürger. Dies führt dazu, dass die Entscheidungen auch besser regionale und kulturelle Unterschiede berücksichtigen. Die Exekutiven (regionale Regierungen) sind diesen Parlamenten politisch verantwortlich.

7. In Bundesstaaten übertragen im Allgemeinen die Gliedstaaten Verantwortlichkeiten auf die gemeinsam eingerichtete Bundesebene, während in den meisten Einheitsstaaten und regionalisierten Staaten gewisse Verantwortlichkeiten auf die substaatlichen Ebenen übertragen werden. In den letzten Jahrzehnten erhielten Regionen in zahlreichen Staaten gesetzgebende Befugnisse. Allerdings wurden ihre Rolle, Aufgaben und Verantwortlichkeiten grundsätzlich auf nationaler Ebene durch Verfassungen oder föderale Vereinbarungen festgelegt. Diese Vereinbarungen regeln das Ausmaß der Gesetzgebungsbefugnisse, die den Regionen übertragen werden. Regionale Behörden müssen die Zuständigkeiten haben, Gesetzgebung für die Organisation und das Management ihrer Aufgaben auf ihrem Gebiet zu erlassen. Darüber hinaus können sie nur effektiv und effizient arbeiten, wenn ihre wirtschaftlichen, verwaltungstechnischen und strukturellen Bedürfnisse dementsprechend berücksichtigt wurden. Unter diesen Rahmenbedingungen können Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen einen Teil der öffentlichen Angelegenheiten im Interesse ihrer Bevölkerung regulieren und umsetzen. Diese Art von Regionen kann in gewisser Weise als Speerspitze für andere Regionen gesehen werden, die keine vergleichbaren Kompetenzen haben.

8. Regionen sollten auch bei der Entwicklung von Politiken und der Entscheidungsfindung auf nationaler und internationaler Ebene eingebunden werden, wenn ihre Gesetzgebungsbefugnisse betroffen sind. Das Kolloquium über "Zweikammersysteme und die Vertretung von Regionen und Kommunen: Die Rolle zweiter Kammern", organisiert vom Kongress in Zusammenarbeit mit dem französischen Senat im Oktober 2008 hält in den Schlussfolgerungen fest, dass "…der Senat die Bevölkerung auf einer geografischen Basis und das Territorium als souveräne Körperschaft vertritt". Zweite Kammern sollten "den territorialen Einheiten einen Landes politische Repräsentation ermöglichen". Die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten der zweiten Kammer müssen "regionale und andere territoriale Gebietskörperschaften in die Lage versetzen, Entscheidungen, die Auswirkungen auf sie haben, zu untersuchen und zu unterstützen. … das Prinzip der Territorialität scheint die einzige Grundlage zu sein, aus der ein Oberhaus [zweite Kammer] ihre Identität ableiten kann." [2]


9. Regionale Demokratie ist wegen ihrer Bürgernähe ein Mittel, um Minderheitenfragen zu behandeln. Die Übertragung von Gesetzgebungszuständigkeiten an regionale Behörden in Konfliktgebieten kann einen Beitrag zur Schaffung von Frieden und demokratischer Stabilität schaffen. "… den Regionen/Völkern/Nationalitäten oder Nationen eine wichtige Rolle als substaatliche Institutionen zu geben [ist] der einzige Weg, nationalistische Ansprüche zu befriedigen, die sonst mangels Alternativen, die Schaffung eines neuen Staates fordern würden". [3]

10. Im Hinblick auf die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzkrise bemühen sich die Regionen, ihre regionale Wirtschaft zu unterstützen. Im Gefolge des G20-Gipfels vom April 2009 wurden internationale Regulierungen und Beobachtungsaufgaben an internationale Finanzinstitute übertragen. Im Hinblick auf ihre spezifischen Gesetzgebungsbefugnisse auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet können die Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen jedoch wichtige Beiträge leisten, um die Krise zu bewältigen. Dies nicht nur, weil sie regionale Wiederaufbaupläne entwickeln können, die direkte Wirkungen auf Wachstum und Beschäftigung haben, sondern auch weil sie auf Grund ihrer Bürgernähe, Maßnahmen viel schneller als die nationale oder europäische Ebene entwickeln und umsetzen können.

11. Finanzielle Autonomie ist ein Schlüsselfaktor für eine adäquate Bekämpfung der gegenwärtigen Wirtschaftskrise. Die budgetären und fiskalen Entscheidungen von regionalen gesetzgebenden Körperschaften können sicherstellen, dass die Besteuerung der Bevölkerung fair, vernünftig und, vor allem dem regionalen wirtschaftlichen und sozialen Kontext entsprechend angepasst ist.

12. Die Arbeitsgruppe "Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen" initiierte die erste Konferenz der Präsidenten von Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen im Jahr 2000 unterhält seither enge Beziehungen mit der Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten von Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen (REGLEG). Sie hält auch engen Kontakt mit der Konferenz europäischer gesetzgebender Regionalparlamente (CALRE). Der Kongress hält es für äußerst wichtig, Möglichkeiten einer intensiveren Kooperation mit diesen Organisationen zu prüfen, die regionale Regierungen und regionale Parlamente vertreten.

13. Der Kongress begrüßt die fortwährende Unterstützung durch die Parlamentarische Versammlung des Europarates für regionale gesetzgebende Parlamente, die durch die Unterzeichnung eines Abkommens zwischen ihr (der Parlamentarischen Versammlung) und der CALRE Form angenommen hat. Der Kongress bekräftigt die Bedeutung dieser Zusammenarbeit und möchte seinerseits die Zusammenarbeit mit dieser Organisation ausbauen.

14. Vor diesem Hintergrund:

a. begrüßt der Kongress die Stärkung der Beziehungen zwischen ihm, der Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten von Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen (REGLEG) und der Konferenz europäischer gesetzgebender Regionalparlamente (CALRE);

b. tritt der Kongress dafür ein, die Vertretung von Regionen in den zweiten Kammern der nationalen Parlamente zu untersuchen und fördern;

c. wird der Kongress seine Überlegungen über den Sonderautonomiestatus von Regionen in Europa fortsetzen, die anlässlich der Herbstsession im Jahr 2008 in der Kammer der Regionen begonnen wurden;


15. Empfiehlt der Kongress die Arbeitsgruppe "Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen":

a. die Schlussfolgerungen des Kolloquiums über "Zweikammersysteme und die Vertretung von Regionen und lokalen Gebietskörperschaften: Die Rolle zweiter Kammern" vom 21. Februar 2008 umzusetzen, vor allem durch eine Untersuchung der Rolle der Regionen in ihrer zweiten Kammern; dies soll durch einen Bericht und eine Follow-up-Konferenz geschehen. In diesem Zusammenhang dankt der Kongress der Präsidentin der Region Piemont und Präsidentin von REGLEG im Jahr 2009, Frau Mercedes Bresso, für ihre Einladung, eine solche Konferenz in ihrer Region im Jahr 2009 oder 2010 abzuhalten;

b. ihre Arbeit über das Thema Sonder-Selbstverwaltungsstatus und Konfliktlösung fortzusetzen, vor allem im Hinblick auf jüngste Entwicklungen im Südkaukasus und eine Konferenz zu diesem Thema im Jahr 2010 zu organisieren. In diesem Zusammenhang dankt der Kongress dem Präsident der autonomen Region Madeira, Portugal, Alberto Joao Jardim, für seine Einladung, eine solche Konferenz in seiner Region im Jahr 2010 abzuhalten;

c. die Auswirkungen der Globalisierung auf die Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen, die als ein Gegengewicht wirken können, zu untersuchen;

d. die politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen der Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen und ihren Beitrag zu den wirtschaftlichen Wiederaufbauplänen als konkrete Beispiele für den zusätzlichen Wert von Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen für Bürger, Unternehmen und Gemeinden zu untersuchen (Analyse und Vergleich von regionalen Wiederaufbauplänen);

e. in Übereinstimmung mit der Resolution des Kongresses Nummer  265 (2008), die Schlüssel-Themen im Hinblick auf regionale Finanzen anzusprechen, vor allem, wie die Regionen zur Lösung der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise beitragen können und wie die Regionen aus den Vorteilen des Fiskalföderalismus Nutzen ziehen können;

f. die Zusammenarbeit mit der interregionalen Gruppe "Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen" im Ausschuss der Regionen der Europäischen Union zu stärken;

g. die Zusammenarbeit mit der Venedig–Kommission des Europarates in ihrer Arbeit über Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen und Föderalismus fortzusetzen.

16. Macht die Regionen Europas aufmerksam auf:

a. die Schlüsselrolle, die Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen bei der Entwicklung regionaler Demokratie und bei der Gewährleistung von Dienstleistungen für die Bürger spielen;

b. die Notwendigkeit sich selbst als aktive Partner bei der Suche nach Lösungen von Querschnittsthemen in einem Mehrebenen-Regierungssystem einzubringen, das auf Kooperation und gegenseitigem Respekt der verschiedenen involvierten Ebenen basiert;

c. die gute Regierungsführung, die auf den Status, die Zuständigkeiten, Finanzen, gemeinsamer Entscheidungsfindung, Teilhabe und die administrative Strukturen zurückzuführen ist, über die Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen verfügen;

d. den Mehrwert, den autonome Regionen mit Sonderstatus einbringen, da sie eher in der Lage sind, für die Friedenssicherung und die Gewährleistung von Sicherheit einzutreten, und dadurch zur Einheit des Staates beitragen;

17. Da die Arbeitsgruppe als anspornendes Element in regionalistischen Bemühungen mit dem Ziel, eine breitere und besser organisierte Selbstverwaltung zu erreichen, dient, beauftragt der Kongress sein Präsidium, das Mandat der Arbeitsgruppe "Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen" für den Zeitraum 2010-2012 zu erneuern.



[1] Diskussion und Zustimmung durch die Kammer der Regionen am 14. Oktober 2009 und Annahme durch den Kongress am 15. Oktober 2009, 3. Sitzung (siehe Dokument CPR(17)2, Begründungstext, Berichterstatter : B. Petrisch, Österreich (R,EVP/CD)).

[2] Zweikammersysteme und die Vertretung von Regionen und Kommunen, die Rolle zweiter Kammern, 21. Februar 2008, Senat, Paris (Frankreich), Schlussfolgerungen von Jean-Claude Van Cauwenberghe, Vorsitzender der Arbeitsgruppe "Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen"

[3]Regionalisierung in Europa, Parlamentarische Versammlung des Europarates, Berichterstatter : Lluis Maria de PUIG (Dokument 11373 vom 14.September 2007)