Empfehlung 123 (2003)1 betreffend Perspektiven für ein drittes Gipfeltreffen des Europarats

Der Kongress,

1. Hat die Empfehlung 1568 (2002) der Parlamentarischen Versammlung betreffend die Durchführung eines III. Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten des Europarats zur Kenntnis genommen;

2. Hat den durch die Minister anlässlich ihrer 111. Tagung (6. und 7. November 2002) diesbezüglich eingenommenen Standpunkt sowie die Tatsache zur Kenntnis genommen, dass die Minister anlässlich ihrer nächsten Tagung im Mai 2003 die Themenvorschläge und die Durchführungsmodalitäten für ein solches Gipfeltreffen prüfen werden;

3. Dankt dem Präsidenten der ad hoc-Arbeitsgruppe der Ministerdelegierten für institutionelle Reformen dafür, dass er den Ständigen Ausschuss des Kongresses anlässlich von dessen Zusammenkunft am 15. November 2002 über die diesbezüglich laufenden Diskussionen und Arbeiten informiert hat;

4. Unterstützt den Vorschlag, baldigst ein drittes Gipfeltreffen des Europarats durchzuführen;

5. Ist der Ansicht, dass sich die Durchführung eines solchen Gipfels im gegenwärtigen politischen Kontext in Europa aufdrängt angesichts der bevorstehenden Erweiterung der Europäischen Union auf 25 Staaten, während der Europarat kurz vor dem Abschluss seiner eigenen geographischen Erweiterung steht;

6. Ist - in der Überzeugung, dass der Europarat eine tragende Rolle innehat beim Aufbau und bei der Stabilisierung dieses grossen demokratischen Europa - der Meinung, dass ein dritter Gipfel, nach denjenigen von Wien (1993) und Strassburg (1997), von Nutzen ist, um die Anerkennung dieser seiner Rolle in dem neu entstehenden geopolitischen Kontext neu zu festigen und um seine Prioritäten entsprechend neu zu setzen;

7. Unterstreicht, im Bewusstsein der Tatsache, dass verschiedene Gipfeltreffen auch anderer grosser europäischer Organisationen, insbesondere der Europäischen Union und der OSZE, in Vorbereitung sind, die Gunst dieser historisch einmaligen Stunde für Überlegungen zur Rolle der einzelnen Organisationen und ihrer Zusammenarbeit;

8. Ist der Ansicht, dass der Prozess der Vorbereitung eines dritten Europaratsgipfels den richtigen Boden für Überlegungen und Konsultationen darstellt, wie sie notwendig sind, um die Diskussionen zu konkretisieren und unsere Organisation für die kommenden Jahre mit einem kohärenten und anspruchsvollen Arbeitsrahmen zu versehen, wie er dem legitimen Streben aller europäischen Bürger nach einem demokratischen, grossen, friedlichen, blühenden und solidarischen Europa ohne neue Trennungslinien entspricht;

9. Ist erfreut über die Ausstrahlung des Europarats, dem es gelungen ist, Länder mit ganz unterschiedlicher Geschichte und Kultur auf der Basis gemeinsamer Grundwerte zu vereinigen, der bereits benachbarte Länder, vor allem in Südosteuropa und am Südrand des Mittelmeers, an seinen Arbeiten beteiligt und Staaten wie Kanada, den Heiligen Stuhl, Japan, Mexiko und die Vereinigten Staaten als Beobachter begrüssen darf;

10. Möchte, dass dieser dritte Gipfel auch Anlass ist, dieser Ausstrahlung die nötige Sichtbarkeit in ganz Europa und in der Welt zu verleihen;

11. Stellt die Förderung und Verteidigung der Menschenrechte und der pluralistischen Demokratie auf allen Ebenen, die nach seiner Auffassung voneinander untrennbar sind, ins Zentrum der Aufgaben des Europarats;

12. Ist fest überzeugt von der Notwendigkeit eines rechtlich kohärenten Schutzes der Menschenrechte in ganz Europa und befürwortet daher die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, hält es aber dennoch für notwendig, dass die Europäische Union der Europäischen Menschenrechtskonvention beitritt;

13. Sieht daher seine Tätigkeit und wesentliche Rolle innerhalb der Organisation in der Förderung der Gemeinde- und Regionaldemokratie in Europa unter Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und in der Förderung eines immer gerechteren und leistungsfähigeren Regierens;

14. Möchte sich, in Anbetracht der Bedeutung eines solchen Gipfels für die Zukunft des Europarats sowie angesichts seiner statutarischen Stellung in der Organisation, an den Überlegungen betreffend den Inhalt und die Botschaften eines solchen Ereignisses mit einem eigenen Beitrag beteiligen;

15. Schlägt deshalb in einem ersten Schritt untenstehend einige Elemente vor, die entweder in die zur Behandlung vorgesehenen Themen oder aber in einem zur Annahme an dem Gipfel vorgesehenen Aktionsplan Aufnahme finden sollten, um an Aussagekraft beizutragen zu einer konsistenten und anspruchsvollen Strukturierung jener Gebiete, auf denen der Europarat sich auszeichnet;

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Hinsichtlich der Elemente, die als Themen für das Gipfeltreffen oder als dort zu beschliessende vordringliche Handlungsziele zu erwägen sind, möchte der Kongress das Ministerkomitee auf folgende Punkte aufmerksam machen:

A. 1. Demokratie ist eine generelle Haltung, die sich auf allen Stufen und in allen Aspekten der gesellschaftlichen Organisation manifestieren muss, wenn sie wirklich fühlbar sein soll im Alltagsleben der europäischen Bürger. Daher ist die Förderung der Gemeinde- und Regionaldemokratie ist somit ein integrierender Bestandteil jener Werte, die der Europarat vertritt und zu denen sich seine Mitgliedstaaten bekennen.

2. Der Europarat verfügt über ein sehr solides Fundament an internationalen Übereinkommen, die er im Lauf der Jahre seit seiner Gründung ausgearbeitet hat und in denen die den Mitgliedstaaten vorgeschlagenen gemeinsamen Leitlinien ihren Niederschlag gefunden haben. Im Bereich der Gemeinde- und Regionaldemokratie ist die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung seit 1985 das internationale Referenzabkommen. Zur Zeit ist sie von 38 Mitgliedstaaten ratifiziert und von 3 weiteren unterzeichnet.

3. An diese Charta lehnen sich Arbeiten der Vereinten Nationen an, die damit eine welweite Anerkennung der darin enthaltenen Prinzipien erreichen möchten. Ausserdem unterstützen verschiedene Gesprächspartner unter den Institutionen der EU (Parlament und Ausschuss der Regionen) im Rahmen der Arbeiten des Konvents der Europäischen Union den Gedanken, dass die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung in der neuen Verfassung der Union ausdrücklich erwähnt und damit zu einem diesbezüglichen Bezugswerk werden sollte. Diesen Vorschlag unterstützt auch die Parlamentarische Versammlung in ihrer Entschliessung 1314 (2003) über den Beitrag des Europarats an die Ausarbeitung einer Verfassung für die Europäische Union, vor allem in ihrem Abschnitt vii.a, dem der Kongress völlig beistimmt.

4. Der Gipfel sollte deshalb hervorheben, dass die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung ein integrierender Bestandteil der Errungenschaften des Europarats ist. Der Kongress ist der Ansicht, dass die Charta zu den grundlegenden Texten gehören soll, die jeder Mitgliedstaat bei seinem Beitritt unterzeichnen muss - wie dies die Parlamentarische Versammlung bereits praktiziert.

5. Die als Entwurf vorliegende Europäische Charta der regionalen Selbstverwaltung sollte dieses internationale Übereinkommen noch ergänzen und so die Grundprinzipien einer Demokratie auf regionaler Ebene, unter Berücksichtigung der spezifischen Situation jedes Mitgliedstaats und der damit gebotenen Flexibilität, besser verankern.

B. Der Gipfel sollte auch eine Gelegenheit sein, der Fortsetzung und weiteren Entfaltung der Arbeiten des Kongresses zur Förderung der kommunalen und regionalen Demokratie Unterstützung zu bekunden. Diese Arbeiten untergliedern sich in folgende Hauptaspekte:

a. politische Kontrolle (monitoring) der Situation und des Reformstandes in den Mitgliedstaaten mittels entsprechend Artikel 2.3 der Statutarischen Entschliessung (2000)1 des Ministerkomitees betreffend den Kongress der Gemeinden und Regionen Europas ausgearbeiteten nationalen Berichten über die Gemeinde- und Regionaldemokratie;

b. Beobachtung von Kommunal- und Regionalwahlen und Festlegung europäischer Normen für Wahlen sowie insbesondere Ausarbeitung eines Europäischen Wahlkodex zusammen mit der Kommission von Venedig und der Parlamentarischen Versammlung, der zu einem neuen grundlegenden Übereinkommen des Europarats werden dürfte;

c. Mitwirkung an der gelegentlichen Gesetzgebungshilfe in Ländern, über die ein nationaler Bericht mit speziellen Empfehlungen hinsichtlich Gemeinde- und Regionaldemokratie erarbeitet worden ist;

d. Förderung, vor allem auf kommunaler und regionaler Ebene, der partizipativen Demokratie, die gegründet ist in einer vermehrten Beteiligung der Bürger und vor allem der jungen Menschen sowie der legal und dauerhaft innerhalb der Mitgliedstaaten niedergelassenen ausländischen Mitbewohner;

e. Umsetzung eines neuen kommunalen und regionalen Führungskonzepts, das gegründet ist auf Transparenz, Redlichkeit, Zugänglichkeit von Information sowie Anwendung des Subsidiaritätsprinzips bei der Verteilung der öffentlichen Zuständigkeiten;

f. Zusammenarbeit mit den Kommunal- und Regionalverbänden und der Bürgergesellschaft allgemein bei allen diesen Aktivitäten.

C. 1. Die Förderung der dezentralisierten Zusammenarbeit sowie der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit betrifft zwei wesentliche Aktionslinien angesichts der grossen europäischen Herausforderungen, nämlich der Festigung der demokratischen Stabilität und der Prävention von Konflikten. Auch hier verfügt der Europarat über leistungsfähige Instrumente und einen einzigartigen Erfahrungsreichtum, der seinem Wert entsprechend genutzt und in den grossen geographischen Räumen etwa am Mittelmeer, am Schwarzen Meer, an der Ostsee, in Südosteuropa und am Kaukasus zur Anwendung gelangen sollte.

2. In dieser Hinsicht wäre ein mehrere Europaratsstellen vereinigendes Projekt zur Ankurbelung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit innerhalb Europas ein nützlicher Schritt zur Förderung gutnachbarschaftlicher Beziehungen in Europa auf den Gebieten des interkulturellen Dialogs, der sozialen Kohäsion und der nachhaltigen Entwicklung in den Gemeinden. Zugleich würde ein solches transversales Projekt auch dadurch beitragen zur Feier (2005) des 25jährigen Jubiläums des Europäischen Rahmenübereinkommens über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Gebietskörperschaften, dass es alle in der Entwicklung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit aktiven Strukturen des Europarats (Fachausschuss für grenzüberschreitende Zusammenarbeit, Beraterkomitee, Parlamentarische Versammlung, Kongress) sowie die einschlägigen Generaldirektorate im Europarat in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft europäischer Grenzregionen miteinbezieht.

3. Das Gipfeltreffen muss der Anlass für die Lancierung von Programmen sein, die geeignet sind, die gutnachbarschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit nicht nur in Europa, sondern auch mit Ländern zu festigen, die noch nicht Mitglieder sind sowie mit solchen, die es nicht werden sollen, mit denen jedoch eine Fortdauer und Festigung des kulturellen, personellen und wirtschaftlichen Austauschs vorgesehen ist.

D. Der Europarat muss somit seine Zusammenarbeit mit den benachbarten Nichtmitgliedstaaten ausbauen und sich für die Übernahme der von ihm hochgehaltenen Werte durch diese Länder, vor allem diejenigen am Südufer des Mittelmeers und diejenigen Zentralasiens, einsetzen. Der Kongress erklärt sich im Rahmen seiner Zuständigkeiten zu solchen Tätigkeiten gemäss den durch den Gipfel festzulegenden Leitlinien bereit.

E. Der Gipfel sollte deutlich seine Unterstützung jeder Aktivität bekunden, die nach friedlichen Lösungen für jene in gewissen Regionen des erweiterten Europa leider immer noch bestehenden Konflikte sucht, welche die Bürger ein und derselben Gemeinschaft oder diesseits und jenseits einer Demarkationslinie voneinander trennen. Auch hier ist der KGRE bereit, sich an den Überlegungen in Zusammenarbeit mit dem Ministerkomitee der Parlamentarischen Versammlung und der Kommission von Venedig zu beteiligen, insbesondere mit Bezug auf die betroffenen Regionen im Kaukasus, auf Zypern, in der Bundesrepublik Jugoslawien und in der Moldau.

F. Ebenso kommt dem Europarat eine wesentliche Rolle zu bei der Förderung eines offenen Dialogs zwischen seinen Mitgliedstaaten innerhalb der Europäischen Union und denjenigen ausserhalb, seien sie nun EU-Beitrittskandidaten oder nicht. Der Gipfel sollte diese - in der Schaffung einer Plattform für verstärkte Zusammenarbeit und der Ermöglichung des freieren Personenverkehrs zwischen diesen Ländern bestehende - Rolle formell anerkennen. Deshalb sollte der Europarat in den ihn auszeichnenden Tätitgkeitsgebieten Programme ins Werk setzen, die auf Kooperationsabkommen zwischen den beiden Organisationen basieren. Der Kongress begrüsst in diesem Zusammenhang die stetige Verbesserung seiner Zusammenarbeit mit dem Ausschuss der Regionen der Europäischen Union.

G. 1. Der Umgang mit der kulturellen Verschiedenartigkeit unserer Gesellschaften bleibt ein wichtiger Bereich für unsere Überlegungen in den kommenden Jahren, denn diese Verschiedenartigkeit nimmt aufgrund der wachsenden Bevölkerungsbewegungen in Europa und in der Welt zu. So wertvoll sie sind: diese Mobilität und Verschiedenartigkeit bedeuten auch Herausforderungen, vor allem für die Gemeinden und Regionen.

2. Handle es sich nun um den Umgang mit Wanderungsbewegungen, um Massnahmen im Bereich der Integration, um die Rechte von Ausländern und ihren Nachkommen oder um den Dialog zwischen den Kulturen und den Religionen: es sind Lösungen vonnöten, welche die kommunale, regionale, nationale und internationale Ebene erfassen und einander vervollständigen. Auch auf diesen Gebieten ist der Kongress bereit, seine Arbeiten weiterzuverfolgen und entsprechend den durch den Gipfel gesetzten Prioritäten mit den übrigen Organen des Europarats zusammenzuarbeiten.

3. Zudem stellt die sprachliche und kulturelle Mannigfaltigkeit sowohl Europas wie seiner einzelnen Länder einen unschätzbaren Reichtum dar, um dessen Erhaltung und Förderung sich der Europarat mithilfe von geeigneten Programmen und Instrumenten bemühen muss.

H.1. In unseren sich zunehmend verstädternden Gesellschaften wird es immer wichtiger, Stadtplanungs- und -verwaltungsmodelle zu entwickeln, die eine stetige Hebung der Lebensqualität anstreben, und zwar nicht nur bezüglich der Umwelt, sondern auch im Hinblick auf die Sicherheit der Bürger, leichten Zugang zu den öffentlichen Diensten und zur Kultur, Aufrechterhaltung der sozialen Bindungen, Bekämpfung von Ausgrenzung usw.

2. Da diese Fragen unmittelbar den Tätigkeitsbereich des KGRE berühren, möchte dieser zusammen mit den übrigen betroffenen Partnern im Europarat einen konkreten Beitrag an die entsprechenden Arbeiten leisten, ohne dabei die damit zusammenhängende Problematik des Gleichgewichts Stadt/Land zu vernachlässigen. Der Gipfel könnte diesen intersektoriellen Zugang unterstützen und spezifische Tätigkeitsstränge innerhalb eines Tätigkeitsplanes festlegen.

I. 1. Alle diese Fragen einer nachhaltigen Entwicklung sind von einer Dringlichkeit, die immer noch allzu oft ungenügend berücksichtigt wird. Die mit einer schlechten Wasserbewirtschaftung oder mit unüberlegten Erschliessungen zusammenhängenden Gefahren, die Fragen des grenzüberschreitenden, insbesondere des transalpinen Verkehrs und die Risiken für die empfindlichen Alpengegenden, sodann ein umsichtiger Umgang mit Energie, mit Industrieabfällen und städtischem Müll, die Erfordernisse des Landschaftsschutzes gehören zu den Herausforderungen, für welche die europäischen Gesellschaften Lösungen finden müssen, die zugleich dauerhafter und umweltfreundlicher sind und oft einen täglichen Einsatz vonseiten der Gemeinden und der Regionen erfordern.

2. Der Gipfel sollte diese Priorität anerkennen und ein mehrjähriges Tätigkeitsprogramm einleiten, das verschiedene Sektoren des Europarats erfasst und worin dem KGRE eine wichtige Rolle zugewiesen ist.

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16. Abschliessend erklärt der KGRE dem Ministerkomitee und der Parlamentarischen Versammlung seine Bereitschaft, die Vorbereitung eines solchen Gipfeltreffens zu unterstützen und seine Vorschläge nach Massgabe des Fortschreitens der diesbezüglichen Diskussion zu präzisieren und zu vervollständigen.

17. Er erklärt sich ebenfalls bereit, zum gegebenen Zeitpunkt im Rahmen seiner spezifischen Zuständigkeiten seinen Beitrag zu leisten an die Umsetzung der an dem Gipfeltreffen gefassten Beschlüsse.

1 Diskussion und Annahme durch den Ständigen Ausschuss des Kongresses am 21. März 2003 (s. Doc. CG(9)25, durch Herrn Dr.Herwig van Staa, Berichterstatter, vorgelegter Empfehlungsentwurf)