Empfehlung 113 (2002)1 betreffend die Beziehungen zwischen Bürgern, Gemeindeparlament und Exekutive in der Gemeindedemokratie (der institutionelle Rahmen der Gemeindedemokratie)

Anwendung von Artikel 3.2 der Charta gemäß dem 5. Monitoring-Bericht über die Umsetzung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung

Der Kongress, mit Bezug auf den Vorschlag der Kammer der Gemeinden,

1. In Anbetracht von Artikel 3.2 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung (nachstehend: die Charta);

2. Erinnert daran, dass die Charta, insbesondere ihr Artikel 3.2, bis heute das erste internationale Vertragswerk ist, das die wesentlichen Merkmale der kommunalen Selbstverwaltung und ihres institutionellen Rahmens definiert;

3. Nach Kenntnisnahme des 5. allgemeinen Monitoring-Berichts über die Anwendung der Charta auf den institutionellen Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung (Artikel 3.2) (nachstehend: 5. Bericht), den Herr Anders KNAPE (Schweden), unterstützt durch die dem Institutionellen Ausschuss des Kongresses beigeordnete Gruppe unabhängiger Experten für die Charta, vorgelegt hat;

4. Überzeugt, dass die kommunalen Selbstverwaltungsrechte durch demokratisch gewählte Organe ausgeübt werden müssen;

5. Erinnert daran, dass jede Form von demokratisch gewählter Gemeinderegierung das Vorhandensein von durch den Bürger in Direktwahl gewählten Abgeordnetenversammlungen (mit oder ohne nachgeordnete Exekutivorgane) voraussetzt, was gemäss Artikel 3.2 einen Rückgriff auf Bürgerversammlungen, Volksbefragungen oder jede sonstige Form unmittelbarer Beteiligung der Bürger, soweit gesetzlich erlaubt, nicht berührt;

6. Nimmt zur Kenntnis, dass die Gesetzgebungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Wahl- und Ernennungsverfahren der Exekutive sowie hinsichtlich der Gestaltung der Beziehungen zwischen den Abgeordnetenversammlungen und den Exekutiven eine Vielzahl verschiedener Formen vorsehen;

7. Stellt fest, dass die kommunalen Exekutiven in den meisten Mitgliedstaaten entweder durch die Versammlung oder direkt durch die Bevölkerung gewählt werden;

8. Stellt auch fest, dass die Direktwahl des Bürgermeisters durch die Bevölkerung eine in den Mitgliedstaaten des Europarats immer häufigere Form der Wahl der Exekutive darstellt;

9. Begrüsst die in der Gesetzgebung und der Praxis der Mitgliedstaaten feststellbaren Tendenzen, wonach die Wahl der kommunalen Exekutive immer üblicher wird;

10. Ist der Ansicht, dass die Wahl der kommunalen Exekutive das geeignetste Verfahren ist;

11. Bedenkt, dass jede Exekutive in jedem Fall und ungeachtet des Verfahrens zu ihrer Wahl oder Ernennung die Verpflichtung hat, regelmässig Rechenschaft abzulegen über die Art und Weise, wie sie ihre Amtsgewalt ausübt;

12. Ist der Ansicht, dass die nationale Gesetzgebung aufgrund von Artikel 3.2 der Charta den Abgeordnetenversammlungen die Möglichkeit der wirksamen Kontrolle ihrer Exekutiven gewährleisten muss, welche Kontrolle vor allem durch die Genehmigung des kommunalen Haushalts und der kommunalen Steuern, durch die Annahme der Berichte über die Haushaltsdurchführung sowie der Stadtentwicklungspläne und durch die Annahme der Gemeindepolitiken für eine ganze Amtsdauer stattfinden kann;

13. In Anbetracht der Tatsache, dass die in Artikel 3.2 der Charta erwähnte Verantwortlichkeit der Exekutivorgane vor den Versammlungen gewählter Abgeordneter verschiedene Formen annehmen kann, dies vor allem nach Massgabe des Wahl- bzw. Ernennungsmodus der Exekutive;

14. Stellt fest, dass die Leitung grosser Gemeinden und die technische Natur der dabei erforderlichen Entscheidungen von den Exekutiven oft eine weitgehende Verfügbarkeit verlangt;

15. Bleibt dennoch davon überzeugt, dass auch professionelle Verwalter ihre Funktionen unter der Kontrolle des gewählten Gremiums ausüben müssen;

16. Bedenkt, dass die Bevölkerung im Vorfeld einer Entscheidung über wichtige Gemeindebelange nach Möglichkeit konsultiert werden muss;

17. Bedenkt auch, dass kommunale Volksbefragungen - wie dies in der Präambel zur der Empfehlung Nr. R (96) 2 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten des Europarats festgestellt wird - "als ein Instrument der unmittelbaren Partizipation angesehen werden können, welches die Verantwortung der gesamten Bürgerschaft überbürdet und in Konfliktsituationen demokratische Lösungen bieten sowie zu einer Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung verhelfen kann";

18. Berücksichtigt die Empfehlung (2001) 19 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten betreffend die Partizipation der Bürger am kommunalen öffentlichen Leben;

19. Erinnert daran, dass hinsichtlich Änderungen der Grenzen von kommunalen Gebietskörperschaften Artikel 5 der Charta bestimmt, dass "die betroffenen Gebietskörperschaften vorher anzuhören [sind], gegebenenfalls im Weg einer Volksabstimmung, sofern es gesetzlich zulässig ist";

20. Erinnert daran, dass die vorliegende Empfehlung einen Beitrag des Kongresses an das Integrierte Projekt "Demokratische Institutionen in Aktion" des Europarats darstellt;

21. Fordert die Mitgliedstaaten auf, den im Anhang zu der vorliegenden Empfehlung enthaltenen Beobachtungen und Empfehlungen des Kongresses Rechnung zu tragen, wenn sie vor Entscheidungen betreffend die Organisation von Gemeinden stehen;

22. Fordert die Mitgliedstaaten, die dies noch nicht getan haben, auf, die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung (ETS Nr. 122) zu unterzeichnen/ratifizieren;

23. Fordert die Mitgliedstaaten, die dies noch nicht getan haben, auf, das Übereinkommen über die Beteiligung von Ausländern am kommunalen öffentlichen Leben (ETS Nr. 144) zu unterzeichnen und zu ratifizieren und Massnahmen zu ergreifen, um die Europäische Charta der Beteiligung der jungen Menschen am Leben der Gemeinde und der Region zu fördern.

Anhang

Leitende Grundsätze für die Beziehungenzwischen Bürgern, Abgeordnetenversammlung und Exekutivein der Gemeindedemokratie

1. Repräsentative und direkte Demokratie in der Gemeinde

a) Der 5. Bericht stellt fest, dass die Gemeindedemokratie in allen Mitgliedstaaten des Europarats auf der Vertretung der Gebietskörperschaft durch die von den Bürgern direkt gewählte Versammlung beruht. Dieses Grundprinzip ist in vielen Staaten eine bereits ältere Errungenschaft;

b) In der grossen Mehrheit der heute bestehenden europäischen Gemeinden verhindern häufig sowohl die Einwohnerzahl als auch die Komplexität der zu behandelnden Geschäfte die Möglichkeit einer direkten Demokratie in ihrer reinsten Form, das heisst die Bürgerversammlung, welche die öffentlichen Gemeindegeschäfte führt;

c) Der Kongress ist der Meinung, dass für wichtige Angelegenheiten im allgemeinen Interesse der Gemeinde nach Möglichkeit die lokale Volksbefragung herangezogen werden sollte. Bei dieser Form der Befragung trifft die Bevölkerung eine echte, die Gemeindebehörden bindende Entscheidung. Auch für weniger wichtige Fragen kann auf eine Volksbefragung zurückgegriffen werden, wobei dann aber nur eine einfache, die kommunalen Volksvertreter nicht bindende Stellungnahme von der Bevölkerung erfragt ist, während in diesem Fall die endgültige Entscheidung bei den Abgeordneten liegt.

d) Der Kongress hat Anzeichen für eine hohe Anzahl Stimmenthaltungen bei Kommunalwahlen bemerkt, was Anlass zu Sorge gibt. Er gibt zu bedenken, dass Wahlkampagnen und der Akt des Wählens dem Bürger die einzigartige Gelegenheit geben, in der Gemeindepolitik mitzureden.

2. Öffentliche Beteiligung

a) Es ist von wesentlicher Bedeutung für das gute Funktionieren der Gemeindedemokratie, dass die Bindung zwischen den Gemeindebehörden, den gewählten Abgeordneten und dem Publikum verstärkt wird.

b) Das kann unter anderem erreicht werden durch die Schaffung und Förderung von Beiräten (von Ausländern, jungen Menschen, Senioren, Kindern usw.) oder Nachbarschaftsräten, welche die gesamte Palette der örtlichen Bürgerinteressen spiegeln, wobei freilich die endgültige Entscheidung beim gewählten Abgeordnetenorgan liegt - es sei denn, die Gemeindegeschäfte würden durch Bürgerversammlungen geführt oder das Gesetz sehe irgendeine andere Form der direkten Beteiligung der Öffentlichkeit an der Führung der Gemeindegeschäfte vor;

Die nationalen Gesetzgebungen der Mitgliedstaaten sollten den Gemeinden zwingend vorschreiben, die Öffentlichkeit umfassend über die von ihnen geplanten Gemeindepolitiken zu informieren;

Ein geeignetes Mittel zur Stärkung der Bindungen zwischen Gemeinde und Publikum besteht in einer möglichst breiten Veröffentlichung von laufenden Debatten oder Entscheidungen (durch Amtsblätter, Anschlagbretter, Internet-Sites, die örtliche Presse, offizielle Gemeindebulletins oder Lokalradio und -Fernsehen). Die Methoden der Veröffentlichung sollten abwechslungsreich sein, moderne Trends übernehmen und ein möglichst breites Publikum erreichen;

Wie in den meisten Mitgliedstaaten der Fall, sollten die Sitzungen der Ratsversammlungen in der Regel öffentlich stattfinden und geschlossene Sitzungen die Ausnahme sein. Diese Regel sollte normalerweise gesetzlich festgeschrieben sein, wobei das Gesetz die Abhaltung von Ratsversammlungen hinter verschlossenen Türen vorschreiben sollte in Fällen, wo der Schutz des Privatlebens oder bürgerlicher Grundrechte dies erfordern;

Das Publikum muss das Recht haben, den örtlichen Amtsträgern bei den Ratssitzungen Fragen zu stellen, und es sollte regelmässig Gelegenheit zur Rücksprache mit den gewählten Volksvertretern und den Mitgliedern der Gemeindebehörden haben;

c) Das Recht der Bürger auf Einsicht in die Verwaltungsdokumente muss im Rahmen des nationalen Rechts durch die Gemeinden respektiert werden. Der Kongress macht in diesem Zusammenhang aufmerksam auf die Empfehlung 2002 (2) des Ministerkomitees des Europarats an die Mitgliedstaaten betreffend den Zugang zu amtlichen Dokumenten;

d) Wie der Kongress in seiner Empfehlung 61 (1999) bereits hervorhob, kann sich die Einrichtung eines Ombudsmans oder Vermittlers auf Gemeindeebene wohltuend auswirken im Sinne guter Geschäftsführung, stärkerer Bindungen zwischen Publikum und Gemeindeverwaltung sowie grösserer Offenheit und besserer Leistung der Verwaltung;

3. Die Beziehungen zwischen Abgeordnetenversammlung und Exekutive

a) Der 5. allgemeine Bericht beschreibt eine Vielzahl von Methoden der Wahl oder Ernennung der Exekutive, worin sich die Unterschiede des historischen Hintergrunds und der institutionellen Muster in den Mitgliedstaaten spiegeln. Die Charta selbst scheint keine Standardmethode für die Wahl der Exekutive vorzuschreiben. Die heute gemäss dem 5. Bericht in den Mitgliedstaaten gebräuchlichen Verfahren lassen sich in vier Kategorien unterteilen: Wahl oder Ernennung durch die kommunale Abgeordnetenversammlung; Direktwahl durch die Bevölkerung; Ernennung durch die Zentral- oder Regionalregierung oder durch eine unabhängige Behörde; Ausübung der Exekutivmacht im Rahmen der Abgeordnetenversammlung. Es wird festgestellt, dass die Gemeindeexekutive in vielen Mitgliedstaaten unmittelbar durch die Bevölkerung gewählt wird. Angesichts der in den Mitgliedstaaten diesbezüglich herrschenden Tendenzen erscheint ein Verfahren, das nicht die Wahl der Gemeindeexekutive vorsieht, als der heutigen Gemeindedemokratie nicht mehr angemessen.

Welches auch immer die Wahl- oder Ernennungsmethode sei, so ist die Feststellung wichtig, dass Artikel 3.2 der Charta fordert: "Dieses Recht [der kommunalen Selbstverwaltung] wird von Räten oder Versammlungen ausgeübt, deren Mitglieder aus freien, geheimen, gleichen, unmittelbaren und allgemeinen Wahlen hervorgegangen sind und die über Exeutivorgane verfügen können, die ihnen gegenüber verantwortlich sind". Die Charta stellt somit den allgemeinen Grundsatz auf, dass die Exekutive den repräsentativen Gremien gegenüber, ungeachtet des Verfahrens zu ihrer Wahl oder Ernennung, verantwortlich ist.

b) Bei der Lektüre von Artikel 3.2 der Charta wird somit deutlich, dass es tatsächlich die Abgeordnetenversammlung ist, die die für die Gemeinde wichtigsten Dinge wie etwa Haushalts- oder Steuerfragen behandelt.

c) Es kann jedoch in gewissen Fällen vorkommen, dass sich aus besonderen Gründen - wie etwa der Unwirksamkeit oder des Fehlens von der Versammlung zur Verfügung stehenden Kontrollverfahren, der kurzen Mandatszeit der Abgeordneten, der schwachen Basis aufgrund einer wenig ausgeprägten demokratischen Tradition oder der spezifischen Rolle, die der leitende Verwaltungsbeamte spielt - die Umsetzung der in der Charta geforderten Verantwortlichkeit der Exekutive vor der Versammlung als schwierig erweist.

d) Der 5. Bericht stellt fest, dass in manchen Mitgliedstaaten eine neue Ausbalancierung des Systems zugunsten der Versammlung diskutiert wird. Er nimmt den Standpunkt ein, dass ein institutionelles Gleichgewicht im allgemeinen auf Gemeindeebene gesucht werden muss und dass der Versammlung wirksame Möglichkeiten einer echten Aufsicht über die Exekutive zur Verfügung stehen müssen.

e) Im Hinblick auf die Herstellung dieses Gleichgewichts und die Sicherstellung, dass die Exekutive politisch zur Rechenschaft gezogen werden kann, sind folgende Punkte wichtig:

i. Ausser in Fällen, wo die Exekutive durch die Zentralregierung ernannt wird, bedeutet das Konzept der "Verantwortung" gemäss Artikel 3.2 der Charta nicht notwendig, dass die Exekutive durch die Versammlung entlassen werden kann. Andererseits kann eine Entlassung dort, wo sie gesetzlich vorgesehen ist, nicht ausgeschlossen werden. Die Abdankung (oder die Entlassung) der Exekutive kann aber auch die indirekte Folge davon sein, dass die Versammlung gewisse Rechte anderer Art ausgeübt hat. Daraus folgt, dass die notwendige Mindestbedingung für die Erfüllung der Forderung nach Verantwortung darin besteht, dass die Versammlung ein wirksames Kontrollsystem eingeführt wird, das der Versammlung die regelmässige Überprüfung der Arbeit der Exekutive ermöglicht.

ii. Wenn die Exekutive durch die Bevölkerung gewählt wird, dann sollte von ihr vor Amtsantritt die Vorlage ihres politischen Programms gefordert sein. Für den Fall von Meinungsverschiedenheiten zwischen einer Gemeindeversammlung und einer durch die Bevölkerung gewählten Exekutive schlägt der Kongress die Einführung von Verfahren zur Auflösung allfälliger Blockaden vor (vor allem bei Streitigkeiten zwischen Exekutive und Versammlung, welche die Entscheidungsfindung lähmen). Durch die gleichzeitige Wahl von Versammlung und Exekutive können Blockaden vermieden werden.

iii. Hinsichtlich insbesondere der Verantwortung von durch die zentralstaatliche, die regionale oder eine unabhängige Behörde ernannten Exekutivorganen und der Frage, ob solche Organe durch die Versammlung zur Rechenschaft gezogen werden können, schlägt der Kongress den Mitgliedstaaten vor, dass die nationalen Gesetzgebungen Verfahren zur möglichen Amtsenthebung (d.h. zur Veranlassung der Abdankung oder zur Entlassung) einer solchen Exekutive durch die Versammlung enthalten, welche für die die Exekutive ernannt habende Behörde bindend sind. Folglich lässt sich sagen, dass im Falle des Vorhandenseins einer durch die zentralstaatliche, die regionale oder eine unabhängige Behörde ernannten Exekutive, die durch die lokale Versammlung nicht abgesetzt werden kann, die Forderungen der Charta nicht erfüllt sind - fordert die Charta doch die Verantwortlichkeit der Exekutive vor der Versammlung und, allgemeiner, das Vorhandensein von Gebietskörperschaften, die, gemäss der Präambel zu der Charta, "über demokratisch bestellte Entscheidungsorgane verfügen".

f) Es können auch noch weitere Möglichkeiten der Beaufsichtigung der Exekutive durch die Versammlung umgesetzt werden. Zu diesen gehören:

i. die Erteilung folgender wichtiger Rechte an die gewählten Abgeordneten:

ii. die Stärkung der Kontrollmöglichkeiten aufseiten der Opposition:

1 Diskussion und Zustimmung durch die Kammer der Gemeiden am 5. Juni 2002 und Annahme durch den Ständigen Ausschuss des Kongresses am 6. Juni 2002 (siehe Dok. CPL (9) 2 revidiert, Empfehlungsentwurf vorgelegt durch Herrn A. Knape, Berichterstatter)