Empfehlung 120 (2002)1 betreffend die Gemeinde- und Regionaldemokratie in Polen

Der Kongress

1. Erinnert

a. an den Artikel 2.3 der Statutarischen Entschliessung (2000) 1 des Ministerkomitees betreffend den KGRE, worin dieser beauftragt wird, Land für Land Monitoringberichte über die Situation der Gemeinde- und Regionaldemokratie in den Mitgliedstaaten sowie in den sich um einen Beitritt zum Europarat bewerbenden Staaten auszuarbeiten;

b. an seine Entschliessungen 31 (1996), 58 (1997) und 106 (2000), worin die Leitlinien für die Ausarbeitung der oben erwähnten Berichte festgelegt sind;

c. an seine Empfehlung 83 (2000) betreffend die Beurteilung der Regionalisierung in Zentraleuropa, insbesondere in Polen;

2. In Anbetracht des seinem institutionellen Ausschuss erteilten Auftrags zur Ausarbeitung dieser Berichte sowie gemäss einem Abkommen mit dem Ausschuss der Regionen betreffend die Ausarbeitung von Berichten über die sich um einen Beitritt zur Europäischen Union bewerbenden Länder;

3. Nach Prüfung des durch die Berichterstatter, Frau Kathryn Smith (Vereinigtes Königreich, G) und Herrn Miljenko Doric (Kroatien, R), erstellten Berichts seines institutionellen Ausschusses über die Lage der Gemeinde- und Regionaldemokratie in Polen;

4. Dankt:

a. den Vertretern der polnischen Regierung (Ministerium des Inneren und der öffentlichen Verwaltung), des Parlaments (mit kommunaler und regionaler Selbstverwaltung befasste Ausschüsse des Senats und des Sejm), der Gemeinde- und Regionalverbände, der Bürgermeister und Gemeinderäte sowie dem Vertreter der EU-Delegation in Polen, welche die Berichterstatter anlässlich ihrer beiden offiziellen Besuche in dem Lande (Warschau 16.-17. Mai 2002 und Warschau-Bialystok 5.-7. September 2002) getroffen haben, für ihre Gesprächsbereitschaft und die Reichhaltigkeit der zur Verfügung gestellten Informationen,

b. Frau Professor Marie José Tulard (Frankreich), Expertin, und Herrn Professor Michal Kulesza (Polen), Mitglied der Gruppe unabhängiger Sachverständiger für die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung des Europarats, für die wertvolle Unterstützung der Berichterstatter bei der Durchführung ihrer Aufgabe,

c. Herrn Jan Olbrycht, Leiter der Delegation Polens beim Kongress, sowie Herrn Professor Jerzy Regulski, Präsident der Stiftung für die Gemeindedemokratie in Polen und ehemaliger Ständiger Vertreter Polens beim Europarat, für die von ihnen anlässlich der oben erwähnten Besuche übermittelte Fülle an Informationen und detaillierten Beobachtungen sowie schliesslich dem Sekretariat des Kongresses für die in diesem Zusammenhang geleistete Hilfe;

5. Begrüsst die Ratifikation der - vorbehaltlos angenommenen - Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung (am 22. November 1993) sowie des Europäischen Rahmenübereinkommens über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften (am 19. März 1993) durch Polen;

6. Bedauert, dass Polen das Europäische Übereinkommen über die Regional- oder Minderheitensprachen sowie das Übereinkommen über die Beteiligung von Ausländern am kommunalen öffentlichen Leben bisher weder unterzeichnet noch ratifiziert hat;

7. Möchte folgende Erwägungen an die parlamentarischen und Regierungsbehörden Polens richten:

a. die Einrichtung des Systens der dreistufigen kommunalen Selbstverwaltung im Lande schafft einen für die Befriedigung der Wünsche und Interessen der Bürgerschaft auf kommunaler und regionaler Ebene geeigneten Rahmen;

b. dieses System stellt eine wirksame Umsetzung des in der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 4. Abschnitt 3) niedergelegten Subsidiaritätsprinzips dar;

c. die doppelte Reform, welche 1990 die Gemeinden (gminas) und 1998 die Kantone (powiats) und Regionen (Woiwodschaften) schuf, ist als eine bedeutende Errungenschaft auf dem Wege zu tatsächlicher Demokratie, wirtschaftlicher Entwicklung und rascher Integration in die Europäische Union zu erachten;

d. im Europarat wird diese Reform als ein positives Beispiel für die zentral- und osteuropäischen Länder angesehen, die ihre territoriale Organisation den Bedürfnissen moderner Gesellschaften anpassen wollen;

e. die polnische Verfassung enthält Garantien für die lokale wie für die regionale Selbsverwaltung (gminas, powiats und Woiwodschaften); die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung gilt nur für Kommunen (d.h. gminas und powiats); vom formalen Standpunkt aus überrascht es daher, dass sowohl die polnische Verfassung als auch die polnische Fassung der Europäischen Charta für sämtliche Selbstverwaltungsebenen im Lande die selbe Bezeichnung (territoriale Selbstverwaltung) verwendet;

f. die von 1990 bis 2000 im Rahmen der Umsetzung der genannten Reform angenommene Gesetzgebung hält sich im wesentlichen an die in der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung enthaltenen Grundsätze;

g. hinsichtlich der weiteren Umsetzung der Reform ist festzustellen, dass sich die Dezentralisation während der letzten zwei Jahre verlangsamt hat, und zwar in folgenden Sektoren:

i. Übertragung und Delegation von Aufgaben an die Gemeinden und Regionen,

ii. Verteilung der Funktionen zwischen den zentralstaatlichen Vertretern auf regionaler Ebene (Wojwoden) und den regionalen Selbstverwaltungsorganen (Wojwodschaften),

iii. Übertragung der finanziellen Mittel an die Gemeinden und Regionen,

iv. Einstellung von qualifiziertem Personal für die kommunalen und regionalen Verwaltungsbehörden,

v. Konsultationen der Gemeinden und Regionen zu Fragen, die diese unmittelbar betreffen,

vi. durch den Zentralstaat ausgeübte Aufsicht über die Entscheidungen der Gemeinden und Regionen,
vii. Ausbildungsprogramme für die gewählten Volksvertreter und die Beamten von Gemeinden und Regionen,

h. den Informationen von Vertretern der Europäischen Union zufolge scheint im übrigen die Rolle und Beteiligung der Gemeinden und Regionen beim Prozess der Finanzierung der Europäischen Union (sowohl hinsichtlich der vor dem Beitritt erforderlichen als auch hinsichtlich der Festlegung der nach dem Beitritt aufzubringenden Mittel) beschränkt und nicht hinreichend abgesichert zu sein;

i. es scheint, dass die in den obenstehenden Abschnitten 7.g. und 7.h. erwähnten Schwierigkeiten durch gewisse generelle, im Zusammenhang mit der Behördentätigkeit in dem Lande stehende Faktoren noch verstärkt werden, nämlich durch:

i. eine Abnahme des Interesses der Bürger am öffentlichen Leben auf kommunaler und regionaler Ebene,

ii. die dominierende Rolle politischer Parteien beim Entscheidungsprozess in gewissen Gemeinden und Regionen,

iii. eine übermässige Politisierung der Verwaltungsbehörden von Gemeinden und Regionen,

iv. Fälle von Korruption;

j. die für die Stadt Warschau vor kurzem angenommenen Gesetze sowie die Direktwahl der Bürgermeister lassen sich als Mittel zur Lösung einiger der oben erwähnten Probleme verstehen; doch ist darauf hinzuweisen, dass diese Gesetze im Rahmen eines beschleunigten und zuweilen strittigen Legislationsverfahrens angenommen wurden, das, wie es scheint, nicht die volle Zustimmung aller Betroffenen fand;

8. Möchte in Anbetracht des oben Gesagten sowie der Informationen und Schlussfolgerungen des in Abschnitt 3, oben, erwähnten Berichts folgende Empfehlungen an die polnischen Parlaments- und Regierungsstellen richten:

a. es wäre in Anbetracht des Abschnitts 7.e, oben, und zur Vermeidung allfälliger Missverständnisse ratsam, dass die zuständigen polnischen Stellen den Generalsekretär des Europarats über den Anwendungsbereich der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung in Polen in Kenntnis setzen;

b. das Europäische Übereinkommen über die Regional- oder Minderheitensprachen, das Übereinkommen über die Beteiligung von Ausländern am kommunalen öffentlichen Leben sowie die beiden Zusatzprotokolle zum Europäischen Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften sollten so bald wie möglich durch die zuständigen polnischen Organe ratifiziert werden;

c. die Regierung sollte in Absprache mit den die Gemeinden und Regionen vertretenden Verbänden einen langfristigen, schrittweisen Umsetzungsplan mit klar vorgegebenen Ausrichtungen annehmen. Dieser Plan müsste die einzelnen Phasen der zukünftigen Umsetzung der Reform unter deutlicher Angabe kurz- und mittelfristiger Ziele festlegen. Ausserdem müsste er bestrebt sein, Schwierigkeiten zu benennen, die diesen Prozess möglicherweise behindern könnten, und Lösungen vorzuschlagen, wie diesen begegnet werden könnte, ohne dass der Umsetzungsprozess insgesamt ins Stocken gerät;

d. auf dieser Grundlage sollten die Gemeinden und Regionen und ihre Bevölkerungen der konkreten Überzeugung sein, dass die staatlichen Behörden den Reformprozess ungeachtet der augenblicklich regierenden politischen Konstellationen und auch dann, wenn Schwierigkeiten auftauchen, energisch vorantreiben; der genannte Plan müsste dazu beitragen, sicherzustellen, dass die von den polnischen Behörden in den neunziger Jahren beschlossene und umgesetzte Reform durch die nachfolgenden Regierungen weitergeführt wird;

e. die Direktwahl der Bürgermeister könnte ein Mittel sein, das Interesse der Bürger für das öffentliche Leben in ihrer Gemeinde neu zu beleben. Die staatlichen Stellen müssten aber noch weitere Massnahmen ergreifen, um die Bürger davon zu überzeugen, dass die auf kommunaler und regionaler Ebene gefassten Beschlüsse in ihrem eigenen Interesse liegen und durch die von ihnen gewählten Organe getroffen worden sind; wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die politischen Parteien die kommunalen Selbstverwaltungsorgane nicht als eine Möglichkeit betrachten, ihre Herrschaft in den betreffenden Gebietskörperschaften auszubauen;

f. der in Abschnitt 8.c erwähnte Plan sollte die Annahme von Regelungen begünstigen, die die Gewährleistung folgender Grundsätze und Ziele anstreben:

g. um Konfusionen und Missverständnisse zu vermeiden, müsste die rechtliche Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Gemeinden und den Regionen einerseits und den staatlichen (auf zentralstaatlicher und auf regionaler Ebene eingerichteten) Stellen andererseits ständig geklärt und im Sinne der Reform angepasst werden. Diese Aufteilungen dürfen nicht in Frage gestellt werden durch die Annahme von ad-hoc-Massnahmen. Das selbe gilt für die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Gminas, Powiats und Wojwodschaften, die in Konsultation mit den betreffenden Verbänden laufend geklärt und aktualisiert werden sollte;

h. die schrittweise Übertragung von Zuständigkeiten auf die kommunale und regionale Ebene muss einhergehen mit der Übertragung der für ihre Übernahme benötigten Finanzmittel; die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes dürfen nicht zur Entschuldigung herangezogen werden für eine Schwächung der kommunalen oder regionalen Befugnisse;

i. mit Blick hierauf müssten die polnischen Organe die Möglichkeit prüfen, den Powiats und/oder den Wojwodschaften in Zukunft die Erhebung eigener Steuern (im Rahmen des Gesetzes) zu erlauben; um den Bürgern eine übermässige finanzielle Belastung zu ersparen, sollten parallel zu dieser Massnahme eine gewisse Anzahl staatlicher Steuern abgeschafft werden;

j. der Zentralstaat müsste dafür besorgt sein, dass die Kontrolle der durch die kommunalen Selbstverwaltungsorgane im Bereich ihrer Kompetenzen getroffenen Entscheidungen strikt nur deren Rechtmässigkeit und nicht deren Zweckmässigkeit betrifft. Diese Regel muss auch dann eingehalten werden, wenn die den Gemeinden und Regionen für die Erfüllung ihrer oben erwähnten Aufgaben gewährten Mittel unmittelbar durch den Zentralstaat überwiesen werden;

k. ausgenommen in durch die Gesetzgebung festgelegten Fällen, darf ein durch die zentralstaatlichen Aufsichtsorgane zum Zwecke der Annullierung eines Beschlusses eines kommunalen Selbstverwaltungsorgans angestrengtes Gerichtsverfahren die Durchführung des betreffenden Beschlusses nicht aufhalten;

l. die Macht des Premierministers, kommunale Selbstverwaltungsbehörden, die ihre Aufgabe nicht wirksam erfüllt haben, für einen bestimmten Zeitraum zu suspendieren, sollte auf aussergewöhnliche, durch das Gesetz eindeutig definierte Fälle beschränkt werden;

m. eine Änderung kommunaler Gebietsgrenzen soll nur nach vorgängiger Konsultation der betroffenen Bevölkerungen - eventuell, sofern das Gesetz dies erlaubt, mittels Volksbefragung - vorgenommen werden. Diese Konsultation muss jedenfalls in geeigneter Form erfolgen und sämtliche betroffenen Bürger umfassen;

n. der heute bestehende "gemeinsame Ausschuss" aus Vertretern des Zentralstaats sowie der Gemeinden und Regionen, der es den Gemeinden und Regionen ermöglicht, hinsichtlich der offiziellen zentralstaatlichen Vorhaben gebührend informiert und konsultiert zu werden, müsste auf eine permanente Grundlage gestellt und ermächtigt werden, sämtliche Beschlussvorhaben der Regierung und des Parlaments (betreffend Gesetze, Erlasse, Dekrete, Vorschriften, aber auch technische Projekte und Vorschläge usw.) zu kennen;

o. die Bedingungen für die Einstellung von Gemeindepersonal müssen die Rekrutierung qualitativ gut ausgewiesener, fähiger Personen ermöglichen, weshalb entsprechende Ausbildungsmöglichkeiten sowie angemessene Gehälter und Aufstiegsmöglichkeiten sichergestellt werden müssen; eine Politisierung des Personals von Selbstverwaltungen soll vermieden werden;

p. um Einmischungen oder politische Konflikte bei der Selbstverwaltung auf regionaler Ebene zu vermeiden, sollen die zentralstaatlichen Vertreter in den Regionen (Wojwoden) Beamte sein. Auf dieser Grundlage müsste ein öffentliches Verzeichnis der - aufgrund ihrer Verdienste und Fähigkeiten eingestellten - Wojwoden erstellt werden;

q. die zentralstaatliche Behörde sollte angemessene Ausbildungsprogramme für kommunale und regionale Abgeordnete und Beamte fördern. Solche Programme könnten durch die gebietskörperschaftlichen und die europäischen Institutionen finanziell unterstützt und nach Massgabe der wichtigsten Ziele des Planes für die Umsetzung der Reform sowie der entsprechenden Regelungen gestaltet werden;

r. die Beteiligung der Gemeinden und Regionen am europäischen Finanzierungsprozess (insbesondere in dem auf den Beitritt zur EU folgenden Zeitabschnitt) sollte verstärkt werden. Dass die Erfordernisse im Zusammenhang mit der ordnungsgemässen Verwaltung der oben erwähnten Finanzmittel den Dezentralisierungsprozess verlangsamen oder als Begründung für eine Marginalisierung der kommunalen und regionalen Selbstverwaltungsorgane herangezogen werden, ist inakzeptabel. Insbesondere gilt es, die politische Rolle und die Kofinanzierungsfähigkeit der Wojwodschaften zu verstärken;

s. die grenzüberschreitende Zusammenarbeit sollte mittels einer geeigneten Dezentralisation auf kommunaler und regionaler Ebene vermehrt entwickelt werden. Die zukünftigen Reformprojekte müssten die grenzüberschreitende Zusammenarbeit sowie die Schaffung von Euroregionen fördern und erleichtern, dies vor allem an der Süd- und der Westgrenze (zukünftige EU-interne Grenze). Besondere Sorgfalt gebührt den Nord- und Ostgrenzen (zukünftige Aussengrenze der EU) im Hinblick auf die Aufrechterhaltung gutnachbarschaftlicher Beziehungen und einer angemessenen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit;

9. Ersucht in Anbetracht des oben Gesagten:

a. das Ministerkomitee, die vorliegende Empfehlung und deren Erwägungsgründe den polnischen Behörden zu übermitteln;

b. die Europäische Kommission, die vorliegende Empfehlung und deren Erwägungsgründe im Zusammenhang mit dem Beitritt Polens zur EU zu berücksichtigen und dem Europäischen Parlament sowie dem Ausschuss der Regionen eine Kopie dieser beiden Texte zukommen zu lassen;

c. den für die kommunale und regionale Selbstverwaltung zuständigen polnischen Minister, an seiner nächsten Plenartagung (Strassburg, 20.-22. Mai 2003) teilzunehmen, um die zur Umsetzung der vorliegenden Empfehlung getroffenen und/oder vorgesehenden Massnahmen vorzustellen.

 

1 Diskussion und Annahme durch den Ständigen Ausschuss des Kongresses am 14. November 2002 (s. Doc. CG(9)21, durch Frau K. Smith und Herrn M. Doric, Berichterstatter, vorgelegter Empfehlungsentwurf).