Empfehlung 70 (1999) 1 betreffend örtliches Recht/Sonderstellungen

Der Kongress,

Berücksichtigend:

1. Die Notwendigkeit, gewisse Territorien mit Sondergesetzen zu versehen, die in der Lage sind, ihrer Geschichte, geographischen Lage, Kultur und besonderen Bedürfnislage zu entsprechen;

2. Die Notwendigkeit, die öffentlichen Entscheidungsverfahren besser in Einklang zu bringen mit den Bedürfnissen gewisser Personenkreise;

3. Die Notwendigkeit, den historischen, kulturellen und sprachlichen Eigentümlichkeiten gewisser Territorien Rechnung zu tragen;

4. Die wachsende Abhängigkeit der Bevölkerungen von staatlichen Leistungen;

5. Die Notwendigkeit, diese Leistungen den Besonderheiten der betreffenden Bevölkerungen möglichst einfach und klar anzupassen;

6. Die oft schwierige Anwendung der Bestimmungen des allgemeinen Rechts, wenn es darum geht, solchen besonderen Umständen gerecht zu werden;

In der Erwägung:

7. Dass unter bestimmten Umständen eine rechtliche Sonderstellung regionalen und Minderheitenkulturen den nötigen Schutz verschaffen kann;

8. Dass eine solche, speziell für einen bestimmten Teil des staatlichen Territoriums geschaffene Rechtsstellung sich in die traditionelle (föderale, regionale oder auch einheitliche) Verwaltungsorganisation des Staatsterritoriums einfügen lässt;

9. Dass die Möglichkeit besteht, innerhalb der Systeme administrativer Unterteilung die Schaffung von Sub-Territorien für die Mitglieder von Minderheiten vorzusehen, wodurch diesen ein wirksamerer Schutz gewährt werden könnte;

10. Dass die Zuerkennung besonderer Rechtsstellungen eine angemessene Antwort des Staates auf das Bestehen besonderer kultureller, sprachlicher, geschichtlicher und geographischer Verhältnisse in einem Teil seines Territoriums darstellt;

11. Dass die Zuerkennung von Sonderstellungen ein Mittel darstellt, um zu verhindern, dass einerseits eine vorhandene Vielfalt der Kulturen als staatsbedrohend wahrgenommen wird und dass andererseits jede in dem Territorium des Staates befindliche Minderheit diesen als sie bedrohend wahrnimmt;

12. Dass das Bestehen von Sonderstellungen, die speziellen Bedürfnissen hinsichtlich der durch sie berücksichtigten Werte entsprechen, mit den Bestimmungen des allgemeinen Rechts vereinbar und gleichförmigen oder symmetrischen einheitlichen Gesetzgebungen an integrativer Wirkung überlegen sein kann;

13. Dass solche territorialen Sonderformen der Selbstverwaltung dort, wo sie existieren, mit der Einheit des Staates vereinbar bleiben, ja, zur Stützung von dessen territorialer Integrität noch beitragen können;

14. Dass Lokal- oder Sondergesetze dem Grundsatz der Gleichheit nicht zuwiderlaufen, vorausgesetzt, sie bezwecken die Berücksichtigung einer speziellen Situation und Verschiedenheit, die es zu respektieren gilt;

15. Dass der Prozess der europäischen Integration die Notwendigkeit aufgezeigt hat, dem Zug zur Standardisierung des Rechts durch eine verbesserte Berücksichtigung der besonderen Situation gewisser Bevölkerungen entgegenzuwirken;

16. Dass das Vorhandensein verschiedener Formen von Sonderstellungen innerhalb einer Reihe von europäischen Staaten gezeigt hat, dass es möglich und machbar ist, den innerhalb eines Staates bestehenden Verschiedenheiten gesetzgeberisch zu entsprechen, ohne dessen Rechtseinheit und Kohärenz Abbruch zu tun;

17. Dass Sonderstellungen oder Lokalgesetze, die die Form von Gewohnheitsrechten oder ungeschriebenen Traditionen innehaben, häufig Qualitäten des Konsenses, der Flexibilität und der Angpassungsfähigkeit an den örtlichen Kontext aufweisen, welche eine etwaige Modernisierung des Rechts so wenig wie möglich aufs Spiel setzen sollte;

18. Stellt fest, dass die Harmonisierung des Rechts auf breitester, insbesondere europäischer Ebene weiterhin ein Desiderat ist, vor allem auf Gebieten im Zusammenhang mit dem Geschäftsleben und der Mobilität von Personen, und dass Fragen im Zusammenhang mit partikuläreren Bereichen (wie etwa Erziehungswesen, Kultur und Sprache, Natur- und Denkmalschutz, Raumordnung, gesellschaftlicher oder Vereinstätigkeit, Gemeindeleben und Gemeindedemokratie) in rechtlicher Hinsicht von Ort zu Ort unterschiedlich geregelt sein können, vorausgesetzt, dass dabei eine Reihe von Grundprinzipien gewahrt bleiben;

19. Erinnert an die folgenden, durch den Kongress und die übrigen Organe des Europarats angenommenen Texte:

20. Macht die nationalen Regierungen und die übrigen zuständigen Organe auf die vor kurzem durch den Kongress durchgeführte Untersuchung örtlich geltender Rechte/Sonderstellungen [CG/GT/CIV (5) 3] aufmerksam, welche

21. einerseits Möglichkeiten der besseren Berücksichtigung gewisser örtlicher und regionaler Besonderheiten aufzeigt,

22. andererseits eine Grundlage für die Suche nach Lösungsmöglichkeiten der heute in Europa im Zunehmen begriffenen ethnischen und kulturellen Konflikte bietet;

23. Fordert das Ministerkomitee und die Regierungen der Mitgliedstaaten des Europarats auf, bei der Formulierung von Stellungnahmen oder von Vorschlägen für die Einführung bzw. die Erhaltung und Aufwertung örtlicher Gesetze oder Sonderstellungen im Rahmen der Suche nach Lösungen für die gegenwärtig in Europa bestehenden Konflikte die Möglichkeit einer vermehrten Inanspruchnahme des Kongresses - eventuell in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Kommission von Venedig) - zu prüfen.

1 Diskussion und Annahme durch den Ständigen Ausschuss am 23. November 1999 (siehe Dok. CG (6) 16, Empfehlungsentwurf, vorgelegt durch Herrn J. Guinand, Berichterstatter).