Empfehlung 42 (1998)1 betreffend nukleare Sichercheit und kommunale sowie regionale Demokratie

Der Kongress,

1. Nach Prüfung des von den Herren Knape und Leinen, Berichterstattern, vorgelegten Berichts über "nukleare Sicherheit und kommunale sowie regionale Demokratie";

2. Daran erinnernd, daß der Grundsatz 13 der Erklärung von Rio über Umwelt und Entwicklung (1992) bestimmt, "daß die Staaten eine nationale Gesetzgebung betreffend die Haftung für Verschmutzung und anders geartete Beschädigungen der Umwelt sowie die Entschädigung der betreffenden Opfer ausarbeiten müssen. Außerdem müssen sie rascher und entschiedener zusammenarbeiten an der Weiterentwicklung des internationalen Rechts betreffend die Haftung und Entschädigung für die unheilvollen Auswirkungen von Umweltschäden, die durch Tätigkeiten innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs oder unter ihrer Kontrolle in Gebieten ausserhalb ihres Zuständigkeitsbereits verursacht wurden";

3. Daran erinnernd, daß der Europarat den Grundsatz 13 der Erklärung von Rio mit der Annahme seines "Übereinkommen über die zivilrechtliche Haftung für Schäden durch umweltgefährdende Tätigkeiten" (Lugano, 1993) umgesetzt hat;

4. Daran erinnernd, daß gemäß den Artikeln 14 und 15 des Kapitels III der Konvention von Lugano jede Person auf Verlangen und ohne ein Interesse nachweisen zu müssen, zu den Informationen über Umweltbelange Zugang haben soll, die sich im Besitz von Behörden oder von durch Behörden kontrollierten Stellen mit öffentlichen Aufgaben im Umweltbereich befinden;

5. Hervorhebend, daß die entscheidende Bedeutung der Gemeinden und Regionen im Subsidiaritätsprinzip verankert ist, wonach Entscheidungen und Maßnahmen - in Übereinstimmung auch mit der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung - jeweils auf der bürgernächsten Ebene beschlossen werden sollen;

6. Daran erinnernd, daß die 4. Erwägung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung besagt, daß "das Recht der Bürger auf Mitwirkung an der Führung der öffentlichen Geschäfte zu den allen Mitgliedstaaten des Europarats gemeinsamen demokratischen Grundsätzen gehört";

7. Daran erinnernd, daß die 10. Erwägung der Empfehlung R (96) 12 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten des Europarats festlegt, daß die Erhaltung der Umwelt notwendig die aktive Beteiligung aller Bürger voraussetzt;

8. Daran erinnernd, daß die Artikel 6 und 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention jedermann das Recht auf einen gerechten Prozess und eine wirksame Beschwerde zubilligen;

9. Feststellend, daß die "Ministerkonferenz: eine Umwelt für Europa" (Oktober 1995) die "Richtlinien betreffend die Beteiligung der Öffentlichkeit am Entscheidungsprozess in Umweltbelangen" guthiess sowie die Bedeutung der Einführung eines regionalen Übereinkommens über die Beteiligung des Publikums unterstrich, und im weiteren feststellend, daß diese Richtlinien die besondere Rolle der kommunalen und regionalen Verwaltungen für die Umsetzung der in ihnen befürworteten Grundsätze anerkennen;

10. Die Tatsache begrüssend, daß die Arbeitsgruppe für die Ausarbeitung eines "Übereinkommens über den Zugang zu Umweltinformationen und die Mitwirkung des Publikums bei den Entscheidungsprozessen in Umweltbelangen" der Regionalen Wirtschaftskommission der UNO für Europa den KGRE beim Entwurf dieses Übereinkommens konsultiert hat;

11. Unterstreichend, daß die Gesellschaft als ganze das Recht hat, auf allen Ebenen der kommunalen und regionalen Politik und der Beschlussfassung bei Fragen der Entwicklung, der Umwelt und der Gesundheit beigezogen zu werden;

12. Überzeugt, daß der Zugang der Bürger zu den Informationen betreffend Umwelt und Gesundheit ein Recht und nicht ein Privileg ist;

13. In Anerkenntnis der in den demokratischen Gesellschaften anhaltenden Debatte über die Risiken und Vorteile der friedlichen Nutzung von Kernenergie, einer Debatte, die die Bevölkerung nicht nur informiert, sondern auch gespalten hat und zu welcher der KGRE nicht Stellung nehmen möchte;

14. Überzeugt jedoch von der Legitimität und dem Ernst der Befürchtungen für die öffentliche Gesundheit, welche Strahlungen in die Umgebung - nicht nur bei der Produktion von Kernenergie, sondern auch und vor allem im Fall von radioaktiven Folgeerscheinungen nach einem Unfall, von Lecks bei der Lagerung von Atommüll sowie beim Aufbereiten und Wiederaufbereiten von Kernbrennstoffen - erwecken;

15. Besorgt angesichts der Tatsache, dass der ausserhalb des Standorts stattfindende Transport von radioaktivem Material und bestrahlten Kernbrennstoffen trotz der immensen Risiken, die mit dem Transport radioaktiven Materials verbunden sind, nicht unter die gemeinsame Konvention der IAEO über die Sicherheit bei der Bewirtschaftung bestrahlter Kernbrennstoffe und die Sicherheit bei der Bewirtschaftung von Atommüll fällt;

16. In Erwägung, daß die Debatten und Entscheidungsprozesse betreffend Atomanlagen in der Vergangenheit stattgefunden haben, ohne die Zustimmung der unmittelbar betroffenen Ortsbevölkerungen zu suchen: die Gemeinden und Regionen werden selten befragt, bevor die politischen Entscheidungen für diese Art von Anlagen fallen, und die Ortsbevölkerungen hatten selten die Möglichkeit, sich tatsächlich am Entscheidungsprozess zu beteiligen;

17. Darauf dringend, daß die Information und Beteiligung der Bürger notwendig sind für die Hebung der Entscheidungsqualität, für die Erhöhung des Masses an Zustimmung zu solchen Entscheidungen, für die Förderung einer objektiven Einschätzung und Annahme der Risiken, die sich daraus für die Gesundheit, Sicherheit und Umwelt ergeben können, sowie für das richtige Reagieren der Bevölkerung im Falle eines Unfalls;

Empfiehlt dem Ministerkomitee, die Regierungen der Mitgliedstaaten aufzurufen:

18. die Vorkehrungen für die demokratische Mitwirkung an der Planung und am Betrieb von Kernenergieanlagen zu verstärken, sodass sämtliche betroffenen gesellschaftlichen Gruppen auf kommunaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene miteinbezogen werden;

19. der Meinung der Gemeinden und Regionen im Entscheidungsprozess voll Rechnung zu tragen, sodass die nachstehenden Erfordernisse befriedigt werden:

a. Transparenz: alle verfügbaren Informationen und Vorschläge betreffend den Standort, den Bau, den Betrieb und die Stillegung von Kernkraftwerken müssen klar, richtig und zuverlässig sein und den betroffenen Gemeinden und Regionen - auch in den Nachbarländern, insoweit sie mitbetroffen sein könnten, sowie in den vom Transport radioaktiven Materials betroffenen Gebietskörperschaften - unvoreingenommen vorgelegt werden. Sowohl die Betreiber als auch die Kontrollstellen müssen gehalten sein, alle sachdienlichen Informationen bekanntzugeben;

b. Beteiligung: die Ortsbevölkerung und alle betroffenen Bürger müssen bei der Standortwahl einer Atomanlage beigezogen werden. Welche Entscheidung auch immer in einem gegebenen Lande einen Präzedenzfall darstellt: die Gemeinden und Regionen sollten ihren Standpunkt vorbringen können und dieser müsste durch die endgültig entscheidende Behörde berücksichtig werden. Es sollte an den Gemeinden und Regionen sein, sich letztinstanzlich für oder gegen das Projekt auszusprechen. Hierfür müssten sie Zugang zu sämtlichen für die Entscheidung benötigten Informationen haben. Die Errichtung eines Kernkraftwerks oder einer Wiederaufbereitungsanlage muss von einer Umweltverträglichkeitsstudie abhängig gemacht werden, die, wenn sie gut gemacht ist, die Möglichkeit bietet, das Publikum zu informieren, seine Beteiligung zu verstärken und allfällige Ersatzlösungen zu prüfen.

c. finanzielle Hilfe: die durch bestehende oder potentielle Pläne für die Ansiedelung, den Bau oder den Betrieb einer Kernkraftanlage betroffenen Gemeinden und Regionen müssten vorgängig finanzielle Hilfe vonseiten des Zentralstaats erhalten. Diese müsste es ihnen ermöglichen, eigene Experten für die Prüfung der Projekte und die Mitwirkung an dem auf jede anfängliche Annahme folgenden Entscheidungsprozess anzustellen.

d. wirtschaftliche Analyse: die Ansiedelung oder der Bau einer neuen Anlage muss von einer regionalen Wirtschaftsanalyse und einem die Konsultation der Öffentlichkeit vorsehenden Entwurf eines Entwicklungsplans abhängig sein. Es müssten im Zusammenhang mit bestehenden wie zukünftigen Anlagen Wirtschafts- und Beschäftigungspläne vorliegen, um eine übermässige Abhängigkeit der betreffenden Region von der Kernkraftanlage zu vermeiden. Damit würden die negativen Auswirkungen einer späteren Stillegung vermindert;

20. die Bildung örtlicher Verbindungsausschüsse aus Vertretern der Gemeinden und Regionen, der sozialen Netze, der Betreiber und Inspektoren von Nuklearanlagen und anderer einschlägiger Gruppen (z.B. Bürgervereine, Vereinigungen im Bereich der medizinischen Forschung, auf den Umweltschutz spezialisierter NROs) zu gestatten. Unter der Bedingung, daß sie ihrem Statut nach unabhängig sind, könnten diese Ausschüsse den passenden Rahmen für die Beteiligung der Öffentlichkeit abgeben; ihre Hauptaufgabe bestünde in der Überwachung der Sicherheitsmassnahmen in den Kernkraftanlagen, in der Sammlung einschlägiger Informationen, in der Information des Publikums über Sicherheitsfragen und in der Mitwirkung bei der Planung von Notfallbestimmungen. Sie müssten unter der Oberhoheit der Gemeinden und Regionen stehen und von gewählten Vertretern geleitet werden, um zu gewährleisten, daß ihre Tätigkeit den Interessen der Bevölkerung dient;

21. die Durchführung von Referenden auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene zu gestatten, um der Bevölkerung die Möglichkeit anheimzustellen, ihren Willen bezüglich geplanter oder bestehender Kernkraftanlagen zum Ausdruck zu bringen;

22. unter Anlehnung an den Mustervertrag für grenzüberschreitende regionale Absprachen im Anhang zu dem Europäischen Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Gebietskörperschaften oder -behörden die Schaffung gemischter regionaler Ausschüsse aus zentralstaatlichen, regionalen und kommunalen Vertretern zu fördern, zu denen in sektoriellen Gruppen auch Kernkraftexperten gehören: dies ist unerlässlich für den wirksamen Schutz der Bevölkerung vor Kernkraftrisiken und vor den Folgen radioaktiver Strahlung und für die Gewährleistung, dass auch Grenzbewohner Zugang zu den Information haben;

23. bei der geplanten Ansiedelung einer Kernkraftzentrale im Grenzgebiet zu einem Nachbarstaat die grenznahen Gemeinden und Regionen des Nachbarstaats (oder der Nachbarstaaten) zu den betreffenden Umweltverträglichkeitsstudien und öffentlichen Umfragen mitheranzuziehen und sie eingehend über das Projekt zu informieren, damit sie die Möglichkeit haben, ihre Stellungnahme zu den bauamtlichen Vorlagen und den Zivilschutzplänen abzugeben;

24. Die Vorschriften der IAEO betreffend die Sicherheit des Transports von radioaktivem Material umfassend anzuwenden;

25. das Übereinkommen der UNO-Wirtschaftskommission für Europa über den "Zugang zu Umweltinformationen und die Mitwirkung des Publikums bei den Entscheidungsprozessen in Umweltbelangen" fertigzustellen, zu ratifizieren und umzusetzen, was die Bürgerrechte auf Information und Partizipation an der Entscheidungsfindung auch in Kernkraftfragen stärken sollte, sowie ein verwaltungsrechtliches Beschwerdeverfahren zu bescheidenen Kosten, verbunden mit der Möglichkeit einer gerichtlichen Prüfung auf höherer Ebene, einzurichten;

26. die nationalen Politiken und Gesetzgebungen entsprechend dem Übereinkommen über den Zugang zu Umweltinformationen und die Mitwirkung des Publikums bei den Entscheidungsprozessen in Umweltbelangen zu harmonisieren;

Empfiehlt dem Ministerkomitee:

27. ein echtes Überwachungsverfahren über die Umsetzung des Übereinkommens über den Zugang zu Umweltinformationen und die Mitwirkung des Publikums bei den Entscheidungsprozessen in Umweltbelangen einzurichten. An diesem Verfahren - das auch zu einer wirksamen Sicherheitskontrolle aller Kernkraftanlagen in den Mitgliedstaaten des Europarats unter Gewährleistung absoluter Neutralität und Unabhängigkeit von den Energieproduzenten beitrüge - wären insbesondere Vertreter der europäischen Gemeinden und Regionen beteiligt;

Empfiehlt der Europäischen Union:

28. eine den umwelt- und gesundheitspolitischen Grundsätzen entsprechende Kernenergiepolitik anzunehmen, indem sie insbesondere das Übereinkommen für Schäden durch umweltgefährdende Tätigkeiten abändern mit dem Ziel, die Abweichungen davon zu begrenzen, ihren Anwendungsbereich auf die Informationen betreffend Gesundheit und Sicherheit auszudehnen sowie die Sektoren ihrer Geltung, einschliesslich der Nuklearindustrie, zu präzisieren.

1 Diskussion und Annahme durch den Kongress am 27. Mai 1998, 2. Sitzung (siehe Dok. CG (5) 10, Empfehlungsentwurf vorgelegt von Herren J. LEINEN und A. KNAPE, Berichterstatter).