15. TAGUNG

HERBSTSITZUNG
(Straßburg, 2. – 3. Dezember 2008)

Lokale Demokratie in Lettland:
Teilnahme von Nichtstaatsbürgern am öffentlichen und politischen Leben auf lokaler Ebene

Empfehlung 257 (2008)[1]


Der Kongress, in Reaktion auf den Antrag seiner Kammer der Gemeinden;

1. Verweist auf Artikel 2, Absatz 1 b der Statuarischen Entschließung (2000) 1 des Kongresses, der besagt, dass es ein Ziel des Kongresses sei, „Vorschläge beim Ministerkomitee einzureichen, um die lokale und regionale Demokratie zu fördern“;

2. Erinnert daran, dass Lettland seit dem 10. Februar 1995 Mitglied des Europarats ist und die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung am 5. Dezember 1996 unterzeichnet hat, die am 1. April 1997 in Lettland in Kraft trat;

3. Erinnert daran, dass die Lage der lokalen Demokratie und die Teilnahme von Nichtstaatsbürgern am öffentlichen und politischen Leben in Lettland bereits im Kongressbericht 2005 und in einigen Artikeln einer Kongress-Empfehlung 1998 Thema war;

4. Bezieht sich auf die Entscheidung des Büros der Kammer der Gemeinden vom 27. Juni 2008, aufgrund der fehlenden Informationen seitens der lettischen Regierung seit 2005 eine Untersuchungsmission nach Lettland zu schicken, um die Entwicklungen im Hinblick auf die Teilnahme von Nichtstaatsbürgern am öffentlichen und politischen Leben auf lokaler Ebene zu ermitteln;

5. Nimmt Bezug auf den Bericht des Kongresses zur Untersuchungsmission nach Lettland, 14.-16. April 2008 (CPL(15)7REP), der von Herrn Jean-Claude Frécon (Frankreich, L, SOC), dem Vizepräsidenten des Kongresses und Mitgliedern des Ausschusses für institutionelle Fragen verfasst wurde;

6. Dankt den Regierungsstellen, den gewählten Vertretern der Kommunalverwaltungen Lettlands, dem nationalen Verband der Gemeinden und den Vertretern der Nichtregierungsorganisationen für die Informationen und Kommentare, die während ihrer Treffen mit der Delegation übergeben wurden;

7. Unter Berücksichtigung:

a. der sensiblen Integrationsproblematik in Lettland angesichts der Geschichte des Landes;

b. dass die Frage nach politischen Rechten von der Einbürgerung getrennt behandelt werden sollte, und dass politische Rechte auf lokaler Ebene allen Nichtstaatsbürgern ungeachtet der Frage gewährt werden sollten, ob sie eingebürgert werden oder nicht;

c. dass die Teilnahme am lokalen politischen Leben ein Weg ist, die Integration zu fördern, wohingegen die Ausgrenzung eines signifikanten Teils der Bevölkerung von diesem Prozess die Integration behindert und statt dessen die psychologischen Hürden verstärkt, die bereits heute ihrer Integration im Wege stehen;

d. dass die Gewährung des Wahlrechts auf lokaler Ebene eine versöhnliche Geste des guten Willens seitens der Behörden gegenüber den Nichtstaatsbürgern wäre und außerdem ein Zeichen für die Lebendigkeit der lettischen Demokratie darstellen würde;

8. Erinnert im Hinblick auf die geografische Lage Lettlands daran, dass:

a. die demografische Situation Lettlands aufgrund seiner multiethnischen Zusammensetzung und der Tatsache ungewöhnlich ist, dass mehr als 16% der im Land lebenden Bevölkerung nicht die lettische Nationalität haben (der Anteil beläuft sich in manchen Gemeinden auf mehr als 25% der Bevölkerung);

b. die Mehrheit der lettischen Nichtstaatsbürger langfristige Bewohner sind, die in den meisten Fällen im Land geboren wurden, größtenteils in die lettische Gesellschaft integriert sind und ihren Beitrag zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes leisten;


c.Einbürgerungen, als eine Möglichkeit, die vollen politischen Rechte zu erlangen, immer noch selten sind, teilweise aufgrund der Tatsache, dass einige Nichtstaatsbürger die Entscheidung, ihnen die automatische Staatsbürgerschaft zu verweigern, als Ablehnung empfinden und sich aus Prinzip weigern, sich dem Einbürgerungsverfahren zu unterziehen;

9. Begrüßt:

a. die Ratifizierung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten durch Lettland am 6. Juni 2005, was ein großer Fortschritt ist und das Engagement der Regierung widerspiegelt, die Rechte der nationalen Minderheiten zu fördern, lenkt aber gleichzeitig die Aufmerksamkeit der lettischen Behörden auf Artikel 15 des Übereinkommens [2] und fordert sie auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die völlige Einhaltung dieses Artikels sicherzustellen, einschließlich Maßnahmen in Bezug auf Nichtstaatsbürger, ungeachtet der Frage der Einbürgerung;

b. dass die lettische Regierung sich der Situation der Nichtstaatsbürger sehr wohl bewusst ist und sich in erheblicher Weise bemüht hat, Nichtstaatsbürger in die lettische Gesellschaft zu integrieren, einschließlich der Schaffung eines Sonderministeriums, das sich ausschließlich mit Fragen der sozialen Integration befasst und das zahlreiche Integrationsrichtlinien implementiert hat, um Nichtstaatsbürgern die Teilnahme am lokalen öffentliche Leben zu ermöglichen;

c. die Tatsache, dass aufgrund ihres Status als dauerhafte Einwohner die überwiegende Mehrheit der Nichtstaatsbürger Anspruch auf die Bürgerrechte (außer das Wahlrecht) hat und im öffentlichen Dienst beschäftigt werden kann;

d. dass in der täglichen Arbeit der Kommunen häufig flexible Lösungen gefunden werden, um Nichtstaatsbürger in das lokale Leben und die politischen Debatten einzubeziehen und sie in ihrer eigenen Sprache anzusprechen, wenn erforderlich;

e. dass sich seit 1999 die Bedingungen zur Erlangung der Staatsbürgerschaft (einschließlich der Richtlinien für die Prüfung und der zu entrichtenden Gebühr) erheblich entspannt haben;

f. dass Lettlands Nachbar, Estland, das sich mit sehr ähnlichen demografischen Problemen konfrontiert sieht und im Großen und Ganzen dieselbe Gesetzgebung zur Staatsbürgerschaft verabschiedet hat, zugestimmt hat, Nichtstaatsbürgern das Wahlrecht bei Kommunalwahlen zu gewähren, eine Maßnahme, die keine speziellen Probleme aufgeworfen hat;

10. Verweist auf die folgenden Probleme im Hinblick auf die Teilnahme von Nichtstaatsbürgern am öffentlichen und politischen Leben auf lokaler Ebene in Lettland:

a. die Position der lettischen Regierung ist nach wie vor sehr entschieden, sie beabsichtigt weder in naher Zukunft Nichtstaatsbürgern das Wahlrecht bei Kommunalwahlen zu gewähren, noch beabsichtigt sie, eine umfassende politische Debatte zu diesem Thema zu beginnen;

b. diese Haltung ist mit dem Geist der Europäischen Charta der lokalen Selbstverwaltung unvereinbar, da die Charta, insbesondere in ihrer Präambel, in der auf das Prinzip der lokalen Demokratie verwiesen wird, dahingehend ausgelegt werden kann, prinzipiell zu implizieren, dass die gesamte lokale Bevölkerung in der Lage sein sollte, am lokalen politischen Leben teilzunehmen, indem sie kommunale Vertreter wählt;


11. Empfiehlt den lettischen Behörden:

a. die Lettland vorgelegten Empfehlungen des Kongresses neu zu überdenken, die auf die Bedeutung hinweisen, Nichtstaatsbürger in die demokratischen Prozesse des Landes einzubeziehen;

b. neue Gesetze zu verabschieden oder bestehende Gesetze zu ändern, um Nichtstaatsbürgern bei Kommunalwahlen das Wahlrecht insofern zu gewähren, dass sie in größerem Umfang am politischen Leben teilnehmen können und damit ihre Integration in die lettische Gesellschaft zu stärken;

c. sich anfänglich Gedanken über eine mögliche automatische Einbürgerung älterer Personen und in Lettland geborener Personen zu machen, um den Einbürgerungsprozess neu zu entfachen, was zu einem Klima der Versöhnung mit Menschen führen könnte, die ansonsten keine vollständig ausgesöhnte lettische Gesellschaft erleben werden;

d. erneut die Ratifizierung von Protokoll Nr. 12 der Europäischen Menschenrechtskonvention zu erwägen, das ein allgemeines Diskriminierungsverbot (ETS Nr. 177) festlegt, sowie die Europäische Charta für Regional- und Minderheitensprachen (ETS Nr. 148) zu unterzeichnen und zu ratifizieren;

e. das Übereinkommen über die Beteiligung von Ausländern am kommunalen öffentlichen Leben (ETS Nr. 144) zu unterzeichnen und zu ratifizieren;

f. eine erneute Debatte zwischen den politischen Parteien der Regierungskoalition zu initiieren und einen mutigen Ansatz mit dem Wunsch des Erfolges zu verfolgen, eine kohäsive Gesellschaft aufzubauen;

g. die Schwierigkeiten aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise außen vor zu lassen und die bestehenden Staatsorgane, die für die Integration in die Gesellschaft zuständig sind, beizubehalten.

12. Empfiehlt dem Ministerkomitee, diese Empfehlung der lettischen Regierung zu übermitteln;

13. Empfiehlt der Parlamentarischen Versammlung, die vorliegenden Beobachtungen und Empfehlungen bei der regelmäßigen Berichterstattung der Mitgliedstaaten, die sich derzeit nicht in einem Überwachungsverfahren oder postmonitoring Dialog befinden, zu berücksichtigen.



[1] Diskussion und Zustimmung durch den Ständigen Ausschuss der Kammer der Gemeinden am 2. Dezember 2008 und Annahme durch den Ständigen Ausschuss des Kongresses am 3. Dezember 2008 (siehe Dokument CPL(15)7REC, Empfehlungsentwurf vorgelegt durch J.-C Frécon (Frankreich, L, SOZ.), Berichterstatter).

[2] Die Vertragsparteien schaffen die notwendigen Voraussetzungen für die wirksame Teilnahme von Angehörigen nationaler Minderheiten am kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Leben und an öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere denjenigen, die sie betreffen.“