Empfehlung 106 (2002)1 betreffend nachhaltige Entwicklung und die Liberalisierung des Energiemarktes

Der Kongress

Ruft in Erinnerung:

1. Die Energie bildet ein wesentliches Element der wirtschaftlichen Tätigkeit sowie des gesellschaftlichen Wohlergehens; mithin bringt die Liberalisierung der Energiemärkte einen neuen, ausserordentlich wichtigen Aspekt in die europäische Energieszene;

2. Die Gemeinden und Regionen sind direkt eingebunden in die Umwelt- und Energiepolitik; ihre Aufgaben und Rollen wirken sich unmittelbar in Bereichen aus, die durch die Liberalisierung betroffen sind. Nicht nur verbrauchen Gemeinden und Regionen bei der Durchführung der ihnen statutarisch zugewiesenen Funktionen Energie, sondern ihnen fällt in zahlreichen Ländern eine wichtige Rolle bei der Verteilung der produzierten Energie zu;

3. In manchen Ländern haben die Gemeinden zwar wenig statutarisch festgelegte Machtbefugnisse im Bereich der Energie, betreiben jedoch aktiv die Propagierung eines wirksamen Umgangs mit Energie, der Nutzung erneuerbarer Energiequellen und der Eindämmung der Verschmutzung sowie des Ausstosses von Treibhausgasen;

Trägt Rechnung:

4. einer Reihe von durch die Europäische Union angenommenen Massnahmen, insbesondere

a. der Richtlinie über Elektrizität und der Richtlinie über Gas, die bereits in das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten übernommen sind und auch als Richtlinien für die Kandidatenländer dienen sowie

b. dem Vorschlag der Kommission, diese Direktiven zugunsten einer beschleunigten Liberalisierung abzuändern;

5. der Tatsache, dass sich die Europäische Union auch auf dem Gebiet des Klimaschutzes und der erneuerbaren Energiequellen hohe Ziele gesteckt hat, insbesondere angesichts:

a. der Resolution des Rates der Europäischen Union über die Anwendung des Protokolls von Kyoto zur Reduktion des Ausstosses von Treibhausgasen um 8% bis 2010;

b. der Resolution des Rates der Europäischen Union zur Förderung der kombinierten Herstellung von Wärme und Energie (Kraft/Wärme-Kopplung), wonach der Anteil an gekoppelter Herstellung von Energie bis 2010 auf 18% der gesamten in der Gemeinschaft hergestellten Elektrizität ansteigen soll;

c. der Direktive betreffend Elektrizität aus erneuerbaren Energiequellen, worin das Ziel gesetzt wird, den Anteil der erneuerbaren Energie bis 2010 auf 22% der Energieproduktion in der Europäischen Union zu steigern;

d. dem Europäischen Programm über den Klimawandel, worin alle Elemente entwickelt werden, die für eine europäische Strategie der Umsetzung des Protokolls von Kyoto nötig sind;

Folgendes berücksichtigend:

6. Die Deregulierung der Energiemärkte hat die allgemeinen Bedingungen für die Energiepolitik in sämtlichen Ländern Europas grundlegend geändert. Einer der grossen Vorteile eines liberalisierten Energiemarktes im Sinne der Nachhaltigkeit ist die Tatsache, dass die Kunden ihre Energielieferanten wählen können;

7. Ungeachtet der beträchtlichen Fortschritte, die hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit und der Versorgungssicherheit bereits erzielt worden sind, bedürfen doch noch mehrere wichtige Fragen der Klärung. Denn wenn die Liberalisierung des Energiemarktes nicht begleitet wird von zusätzlichen Massnahmen und Politiken, sind die Chancen einer nachhaltigen Entwicklung gering;

8. Wegen der vordringlichen Beachtung der Wirtschaftlichkeit der Versorgung erhält nur ein Teil der mit dem Energiesektor verbundenen Probleme Beachtung. So gibt es in Europa noch immer keinen Rahmen, der für hohe Standards hinsichtlich Umwelt und Sicherheit sowie für faire Konkurrenzbedingungen sorgt. Die nächsten Liberalisierungsschritte müssen dieser Fragmentierung der europäischen Energiepolitik dringend ein Ende setzen;

9. Überlegungen die Umwelt betreffend haben bisher bei der Deregulierung nur eine kleine Rolle gespielt. Eine gewisse Anzahl Politiken, die auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene zum Schutz der Umwelt und zur Erhaltung von Arbeitsplätzen eingeführt worden sind, geraten immer mehr unter Konkurrenzdruck;

10. Insbesondere die Liberalisierung des Elektrizitätsmarkts hat, zusammen mit einer auf 40 000 MW geschätzten Überproduktionskapazität in Europa, in mehreren Ländern zu einem raschen Verfall der Grosshandelspreise für Elektrizität geführt, die somit zumeist die langfristigen Grenzkosten der Herstellung von Elektrizität nicht widerspiegeln;

11. Die hauptsächlichen Auswirkungen der Liberalisierung, nämlich tiefere Elektrizitätspreise und höhere Unsicherheiten für Investoren in die Elektrizitätsproduktion, wirken sich negativ auf umweltverträgliche Technologien wie erneuerbare Energiequellen oder die kombinierte Kraft-Wärme-Erzeugung aus. Die Einführung von Energiepreisen, welche die echten Energiekosten (unter Einbeziehung der externen Kosten) reflektieren, ist von wesentlicher Bedeutung für die wirksame Nutzung der Energie;

12. Das Sinken der Elektrizitätspreise hat die wirtschaftlichen Anreize für Sparmassnahmen entwertet. Öffentliche Versorgungsbetriebe für Elektrizität, die, teils freiwillig, teils aufgrund von Vorschriften, in manchen Ländern bereits eine wichtige Rolle beim Energiesparen innehatten, haben sich nach der Marktöffnung weitgehend aus dieser Tätigkeit zurückgezogen;

13. Die Deregulierung engt das Tätigkeitsfeld der Gemeinden und ihrer öffentlichen Unternehmen auf genügend profitable und kompetitive Tätigkeiten ein und droht die Förderung wirksamer Energienutzung und erneuerbarer Energien geradezu zu bestrafen;

14. Die gegenwärtige Situation zeigt, dass die bisher unternommenen Initiativen die Verbreitung erneuerbarer Energiequellen sowie der Kraft-Wärme-Kopplung nicht im erwünschten Ausmass bewirkt haben; daher entwickeln sich diese im allgemeinen denn auch sehr zögerlich;

15. Angesichts der zunehmenden Liberalisierung des Energiemarkts nimmt die Bedeutung von Umweltgesetzgebungen zu. Heute sollte ein Hauptaugenmerk der europäischen Energiepolitik auf Umweltaspekten liegen. Den Akteuren auf den Märkten müssen Regeln gegeben werden, um sicherzustellen, dass mögliche negative Ausirkungen der Deregulierung auf Ziele der Umweltschutzpolitik vermieden werden und nur die Vorteile des Wettbewerbs zum Zuge kommen;

16. Wegen des hohen Ausstosses an Treibhausgasen aus der Energieproduktion, des Risikos von Nuklearunfällen und des Problems der Nukleabfälle aus der Produktion von Nuklearenergie wird die Einführung zusätzlicher Anreize für den Umweltschutz ausschlaggebend sein für Verwirklichung einer nachhaltigen Entwicklung.

Überzeugt von folgendem:

17. Trotz solcher Widersprüchlichkeiten sollte es keine Rückkehr geben zur monopolisierten Energieversorgung. Stattdessen sollten alle Möglichkeiten ergriffen werden, die Dynamik der Märkte und ihre einzigartige Fähigkeit zur Ankurbelung von Innovation und zur Steigerung der Leistungsfähigkeit für die Realisierung von Zielen des Umweltschutzes und zur Beseitung der bestehenden Widersprüche zu nutzen;

18. Eine integrierte, sämtliche Regierungsstufen und sämtliche Sektoren der Gesellschaft einbeziehende Energiestrategie ist nöti, um den Herausforderungen des rasch wachsenden Energiebedarfs und des drohenden Klimawandels entgegenzutreten. Die Strategie muss darin bestehen, rationelle Prozesse der Energieproduktion zu fördern und die Abfälle zu verringern, Brennstoffe wirksamer auszunützen und sich mehr auf erneuerbare Energien zu stützen;

19. Es gilt, eine integrierte Energieplanung zu fördern, deren Mechanismen die Mitwirkung und Beschlussfassung vonseiten aller Beteiligten - einschliesslich der Konsumenten, der Produzenten, der Arbeitnehmer, der freien Berufe, der Unternehmen sowie der kommunalen, regionalen und gesamtstaatlichen Behörden - impliziert;

Empfiehlt den Regierungen der Mitgliedstaaten,

20. Die Einführung eines Rahmens von Vorschriften, welcher:

a. die zusätzliche Belastung einschränkt, der die Investoren in umweltverträgliche Technologien unterworfen sind, welche erhebliche Kapitalien benötigen und sich auf dem Elektrizitäts- und Wärmemarkt behaupten können müssen,

b. Anreize für die wirksame Nutzung von Energien in ein wirtschaftliches Milieu bringt, das inbezug auf die Energiepreise durch harte Konkurrenz gekennzeichnet ist,

c. den Einfluss der Kosumentenwahl sowohl im Bereich der Energieproduktion wie auch in demjenigen der den Energie liefernden Dienste stärkt,

d. eine Marktstruktur mit zahlreichen Akteuren begünstigt und dadurch Chancengleichheit herstellt;

21. Einen nationalen Aktionsplan auszuarbeiten, der die zur Erreichung der Ziele notwendigen Politiken und Massnahmen festlegt. Die dabei erzielten Fortschritte müssen genau überwacht, und es müssen nötigenfalls zusätzliche Massnahmen eingeführt werden;

22. Eine nationale Regulierungsbehörde mit kommunalen und regionalen Vertretungen ins Leben zu rufen, die mit bindender Kraft dafür sorgt, dass nicht nur die Regeln des Wettbewerbs eingehalten sondern auch die Vorschriften hinsichtlich Umwelt und energetischer Bilanz respektiert werden. Die Gemeinden und Regionen müssen kommunale Ausschüsse für die Kontrolle der Energieverteilung bilden können, die den Benützern offenstehen;

23. Gleiche Marktbedingungen für alle Energiequellen zu schaffen: die Elektrizitätsmärkte wie auch die Zugangsmöglichkeiten zu diesen müssen so organisiert sein, dass sich daran verschiedene Typen von Akteuren beteiligen können;

24. Dafür zu sorgen, dass die jeweils praktizierten Subventionen für alle Akteure und Kontrollorgane des Marktes transparent sind sowie nachzuprüfen, ob diese Subventionen den Zielen sowohl der Energie- als auch der Umweltpolitik dienen;

25. Eine neue Konzeption der staatlichen Hilfe in den Sektoren Energie und Umwelt entsprechend den im Zusammenhang mit dem Protokoll von Kyoto und anderen Übereinkommen eingegangenen Verpflichtungen einzuführen:

a. im Hinblick auf umweltbezügliche Regeln für den Energiesektor angemessene, umfassende und transparente Richtlinien für staatliche Hilfen ausarbeiten,

b. staatliche Betriebshilfen im wesentlichen an die eigentliche Elektrizitätsproduktion gewähren, um die Produzenten dazu zu veranlassen, externe Kosten so weitgehend wie möglich zu vermeiden;

c. steuerliche Entlastungen für saubere Brennstoffe und hochwirksame Technologien gewähren;

d. zwei Schlüsseltechnologien: erneuerbare Energiequellen und die gekoppelte Produktion von Wärme und Elektrizität unterstützen, um sie neben den traditionellen Energiequellen langfristig wettbewerbsfähig zu machen;

26. Verbindliche Ziele für den Marktanteil festzulegen, welcher der Energie aus erneuerbaren Quellen oder aus gekoppelter Kraft-Wärme-Produktion entspricht. Es müssen Anreize für die Entwicklung alternativer Energien wie der Windenergie, der Wasser- und der Sonnenenergie, der Energie aus Biomasse und der geothermischen Energie eingeführt werden;

27. Ein System der obligatorischen Beglaubigung von aus erneuerbaren Energiequellen oder aus der Kraft-Wärme-Kopplung herstammenden Elektrizität einzuführen, um alle Konsumenten mit Informationen über die Charakteristika alternativer Elektrizitätsprodukte zu versorgen und der "grünen Energie" das ihr gebührende Prestige zu verleihen;

28. Die Einführung einer "Abgabe für Klimawandel" auf nicht erneuerbare Energien ins Auge zu fassen, um die grüne Energie zu einer finanziell gangbareren Möglichkeit zu machen;

29. Mithilfe einer Reglementierung der Übertragung und Verteilung gerechte Regelungen für die Zugangsbedingungen und -preise zu schaffen;

30. Die kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften dazu anzuregen, im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip auf den Gebieten der Energie und der Umwelt aktiver zu werden, indem ihnen die freie Wahl nicht nur ihrer Elektrizitätslieferanten, sondern auch der Produktionsmethoden dieser Elektrizität gelassen wird;

31. Die Kommunen und kommunalen Unternehmen, die dies wünschen, in den Genuss der Bedingungen für die grossen Akteure im Energiebereich gelangen zu lassen, worunter insbesondere Wahlfreiheit hinsichtlich des Konsums, der örtlichen Produktion und der Verteilung;

32. Bei den öffentlichen Infrastrukturinvestitionen jenen örtlichen Projekten den Vorrang zu geben, die den Energiekonsum einschränken, Einsparungen bewirken, Arbeitsplätze schaffen, die örtliche Wirtschaft anregen und das Leben der Gemeinschaft verbessern;

33. Die Schaffung von Partnerschaften für wirksame Energienutzung zwischen nationalen, regionalen und kommunalen Behörden, dem Privatsektor, den Finanzinstituten, Verbänden, Gewerkschaften, Bevölkerungsnetzen und -gruppierungen zu begünstigen;

34. Die Gemeinden und Regionen aufzufordern, sich aktiv an der Überwachung der Auswirkungen der Öfffnung der Energiemärkte auf örtlicher Ebene zu beteiligen;

Empfiehlt der Europäischen Union,

35. Das Subsidiaritätsprinzip anzuwenden, indem sie die Zuständigkeiten in diesen Bereichen nicht nur auf nationaler, sondern auch - dort, wo Gemeinden und Regionen für die Lösung dieser Probleme geeigneter sind - auf regionaler und kommunaler Ebene ansiedeln;

36. Eine Politik anzunehmen, die sich nicht mit der Beseitigung von Hindernissen wie der vertikalen Integration der Elektrizitätsindustrie begnügt, sondern die auch einer Regelung des Energiesektors in seinen Auswirkungen auf die Umwelt Vorschub leistet;

37. Minimale Regelungen für die Besteuerung von Energieprodukten oder die kombinierte Besteuerung von Kohle und Energie einzuführen, da manche Probleme staatlicher Hilfsprogramme für den Umweltschutz mit einem unbefriedigenden Steuersystem zusammenhängen;

38. Neue Richtlinien für staatliche Umweltschutzhilfen aufzustellen, welche die Energienutzung, die Kraft-Wärme-Kopplung und die erneuerbaren Energiequellen mitberücksichtigen;

39. Die Auswirkungen der Liberalisierung der Märkte zu evaluieren und so rasch wie möglich eine Richtlinie für eine kohärente Politik im Bereich der Kraft-Wärme-Kopplung (entsprechend der im September 2001 angenommenen Richtlinie betreffend Elektrizität aus erneuerbaren Energiequellen) anzunehmen;

40. Einen gesetzlichen Rahmen für eine europäische Norm der Bekanntgabe aller Energiequellen aufzustellen, der minimale Standards für die Bescheinigung der Energieerzeugung als formelle Basis für eine solche Bekanntgabe und für die entsprechenden nationalen Informationssysteme enthält;

41. Vorschläge für die Regelung des Zugangs Dritter zum internen Gas- und Elektrizitätsmarkt unter Berücksichtigung sozialer und Umweltstandards auszuarbeiten;

42. Die Zusammenarbeit mit den Anwärterstaaten zu intensivieren, um ihnen bei der Umsetzung der neuen Standards der Europäischen Union für die wirksame Nutzung von Energie, die Kraft-Wärme-Kopplung und die erneuerbaren Energiequellen zu helfen. Ein kohärentes Vorgehen ohne Dumping zum Nachteil der Umwelt sollte dabei ein wichtiger Verhandlungspunkt und ein wesentlicher Bestandteil der später auf diesem Gebiet zu treffenden Vereinbarungen sein.

1 Diskussion und Annahme durch den Ständigen Ausschuss des Kongresses am 21. März 2002 (s. Doc. CG(8)27, durch Herrn P. Torkler, Berichterstatter, vorgelegter Empfehlungsentwurf).