Entschließung 180 (2004)1 zum Ortspolizeiwesen in Europa
Der Kongress, gestützt auf den Vorschlag der Kammer der Gemeinden,
1. Begrüßt die Ausarbeitung der vorliegenden Entschließung zum Ortspolizeiwesen durch die beiden Berichterstatter, Frau Sandra Barnes (Vereinigtes Königreich) und Herrn Pascal Mangin (Frankreich), im Rahmen seiner Arbeiten zur Verhütung der Kriminalität;
2. Erinnert an die Berichte und die Reihe jährlicher Tagungen zu verschiedenen Aspekten der Verhütung der Kriminalität sowie an das Handbuch „Gemeinden und die Verhütung der städtischen Kriminalität“, das gezeigt hat, dass Politik und Öffentlichkeit dieser Frage besonderes Gewicht beimessen;
3. Erinnert ferner an die Gesprächsrunde in Charleroi am 22. und 23. November 2002, auf der über die Rolle der Ortspolizei in Europa, die Aufteilung der Verantwortung und Zuständigkeit zwischen Politik und Polizei, die Praxis der Ortspolizei sowie die Entwicklungsaussichten der Ortspolizei in Europa gesprochen wurde;
4. Begrüßt den Beitrag des integrierten Projekts II des Europarats „Antworten auf die Gewalt im Alltag einer demokratischen Gesellschaft“ zur Gesprächsrunde von Charleroi sowie zu den Sitzungen zur Festlegung der Arbeiten der Kammer zum Ortspolizeiwesen. Der Kongress dankt den hierfür Verantwortlichen;
5. Dankt der beratenden Expertengruppe, besonders Herrn Adrian Beck (Universität Leicester, Vereinigtes Königreich) und Frau Francine Biot (Polizeichefin von Charleroi, Belgien) für ihre Beiträge;
6. Betont die nachfolgenden Überlegungen :
Auf dem Weg zur Stärkung der Ortspolizei
7. Der Aufbau der Polizei in Europa ist recht unterschiedlich und spiegelt die örtlichen Traditionen in diesem Bereich wider;
8. Manche Länder verfügen ausschließlich über eine staatliche Polizei, während es in anderen Ländern daneben auch eine regionale und/oder kommunale (städtische) Polizei gibt. In gewissen Staaten ist sogar der Aufbau der Ortspolizei von Stadt zu Stadt verschieden;
9. In vielen Ländern werden jedoch in wachsendem Maße örtliche Polizeikräfte oder Hilfspolizisten für bestimmte Stadtviertel (so genannte Nachbarschaftspolizisten) aufgestellt, die den politischen Behörden am Ort unterstellt sind. Der Grund dafür ist der Umstand, dass solche Polizisten sich im Stadtviertel auskennen, die Probleme der Bewohner kennen und den Leuten vertraut sind. Hinzukommt, dass die staatliche Polizei Verstärkung braucht;
10. Es wurden damit gute Erfahrungen gemacht: Die Kriminalität wurde eingedämmt, der soziale Zusammenhalt wurde gestärkt;
Örtliche Polizeiarbeit in Partnerschaft
11. Mehr und mehr gehen die örtlichen Behörden dazu über, mit Hilfe der verschiedensten Einrichtungen den Sicherheitsbedürfnissen einer immer heterogener werdenden Bevölkerung zu entsprechen;
12. Die Einwohnerschaft übernimmt dadurch selbst einen Teil der Verantwortung für ihre Sicherheit, indem sie mit den örtlichen Behörden und der Polizei zusammenarbeitet;
13. Mit der Aufstellung örtlicher Polizeikräfte wird anerkannt, dass Probleme der Kriminalität und Sicherheit in den Stadtvierteln in einem größeren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhang gesehen werden müssen. Hierbei bedarf es verschiedener Formen der Partnerschaft, die transparent sind und demokratische Mitverantwortung fördern, wobei natürlich die Menschenrechte stets zu achten sind. Solche Partnerschaften ermöglichen auch konstruktive Zusammenarbeit mit Berufsgruppen wie z.B. Architekten und Fachkräften, etwa der Stadtplanung, deren Tätigkeit das Gemeinwesen, das soziale Umfeld und die bauliche Gestaltung betrifft;
14. Dies bedeutete einen zunehmenden Übergang von einem überaus zentralisierten und meist nur reagierenden Polizeiwesen zu einer bürgernahen Polizei, die sowohl durch ihre bloße Gegenwart als auch in psychologischer Hinsicht den Bürgern näherzukommen versucht;
Herausforderungen und Chancen für Europa als Ganzes
15. Für manche Länder Mittel- und Osteuropas, vor allem für die, die sich anschicken, der EU beizutreten, stellt örtliches Polizeiwesen dieser Art eine große Herausforderung, zugleich aber auch eine Chance dar;
16. Die Fähigkeit dieser Staaten, von den Erfahrungen und der Sachkenntnis jener Länder zu lernen, deren Gesellschaft schon seit langem ein örtliches Polizeiwesen kennt, ist dabei sehr wichtig;
Tendenzen der Kriminalität
17. Irrationale Furcht der Bevölkerung vor Verbrechen und Unsicherheit führt nicht nur zu unnötiger Ängstlichkeit, sondern bringt auch Verschwendung von Ressourcen mit sich, z.B. übertriebene Aufstellung privater Sicherheitsdienste. Dies kann die Bemühungen der örtlichen Behörden, der Polizei und sonstiger betroffener Stellen zur Bekämpfung der Kriminalität erschweren;
18. In den meisten europäischen Ländern zeigt die Statistik kein nennenswertes Ansteigen der Kriminalität; die Situation bleibt stabil;
19. Gleichwohl leidet die Bevölkerung nach wie vor unter Übergriffen, durch Drogenkriminalität, Einbrüchen und Autodiebstählen;
20. Sich zum Vergleich der Kriminalitätsrate in verschiedenen Ländern auf die polizeiliche Statistik zu stützen, kann zu falschen Ergebnissen führen, weil die Definition der einzelnen Straftaten voneinander abweicht und die Art und Weise, wie Straftaten gemeldet und registriert werden, nicht immer dieselbe ist. Unterschiedlich ist auch das jeweilige soziale und kulturelle Umfeld, in dem die Polizei tätig wird;
21. Ferner ist anzumerken, dass die von der Polizei festgehaltenen Angaben häufig von denen der Opfer abweichen;
Erhebungen aufgrund der Angaben der Opfer
22. Erhebungen aufgrund der Angaben der Opfer werden als verlässlicheres Indiz der Kriminalitätsrate eingestuft als die Polizeistatistik, weil sie auch Straftaten umfassen, die der Polizei nicht angezeigt wurden und von etwaigen Änderungen der polizeilichen Erfassungspraxis nicht betroffen werden;
23. Erhebungen aufgrund der Angaben der Opfer erhellen im Gegensatz zur landesweiten Kriminalitätsstatistik auch die besonderen örtlichen Verhältnisse. Sie helfen, die Sorgen und Nöte der Bevölkerung vor Ort besser wahrzunehmen, und spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht zu erreichen, dass die örtlichen Stellen sich ihrer Verantwortung bewusst werden und die Dinge für jedermann klar ersichtlich sind;
Angesichts dieser Überlegungen kommt die Kammer zu folgenden Schlussfolgerungen:
24. Die Kammer befürwortet die Aufstellung örtlicher Polizeikräfte durch die Gemeinden. Hierbei sollten sich die Gemeinden von den folgenden Grundsätzen leiten lassen:
a. es sollte sichergestellt sein, dass die örtlichen Polizeikräfte unmittelbar den Behörden der
Gemeinde, in der sie Dienst tun, unterstellt sind;
b. um guten Kontakt zur Bevölkerung herzustellen, sollte die Polizei in der Lage sein zu beweisen, dass sie den Erwartungen der Bürger gerecht werden kann und die Meinungen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen ernst nimmt;
c. die Dienststellen der Polizei sollten sich vor allem gegenüber den Erwartungen der Bürger einfühlsam zeigen, wenn diese Straftaten anzeigen, und jeder Anzeige nach Möglichkeit nachgehen;
d. wichtig ist, dass die Polizei die Gründe für die Unzufriedenheit in der Bevölkerung versteht und Abhilfe zu schaffen versucht;
e. in erster Linie ist die Ortspolizei gefordert, wenn des darum geht, in Zusammenarbeit mit den verschiedensten Einrichtungen für die Sicherheit in der Gemeinde zu sorgen. Es muss klar sein, dass Fragen der Kriminalität und Sicherheit die Lebensqualität beeinflussen. Polizeiliches Vorgehen muss sich dabei notfalls über horizontale und vertikale Zuständigkeiten hinwegsetzen, jedoch die wesentliche Rolle der politischen Führung anerkennen. Die Vorgehensweise der Polizei muss sich auf sorgfältige Untersuchungen und gut gezielte Einsatzpläne stützen und auf die örtlichen Bedürfnisse Rücksicht nehmen. Vorhandene Kapazitäten müssen ausgebaut, einzusetzende Mittel und Erfolgsmaßstäbe müssen verfeinert werden;
f. die Polizei muss der Gemeinde gegenüber für ihr Handeln verantwortlich sein und Rechenschaft ablegen. Sie muss auf örtliche Bedürfnisse eingehen und nach Lösungen suchen, die den örtlichen Verhältnissen angepasst sind;
g. die Polizei muss sich aus verschiedenen Quellen über die Sorgen und Nöte der Bevölkerung informieren und sich bei ihrem weiteren Vorgehen auf solche Informationen stützen;
h. die Gemeinden sollten anerkennen, dass die Ortspolizei dank einer Anzahl bewährter Methoden das Gefühl der Unsicherheit verringern kann, etwa durch Zusammenarbeit und Absprachen mit den Medien, direkten Kontakt mit den verschiedenen Bevölkerungsgruppen durch Vermittlung beratender Stadtbezirksräte, regelmäßige Arbeitssitzungen mit Berufskräften, die mit der Verbesserung der sozialen Situation in Problemvierteln befasst sind;
i. auch für die Ortspolizei muss die Wahrung der Menschenrechte oberste Priorität haben;
j. die Ortspolizei muss vorbeugend für die Sicherheit der Bevölkerung sorgen, sich um den Kontakt zu den verschiedenen Bevölkerungsgruppen bemühen und Rat und Hilfe anbieten, wie man Straftaten vermeiden oder sich davor schützen kann;
25. Die Kammer fordert die Gemeinden in den Mitgliedsstaaten auf, sich gegenüber ihren staatlichen Behörden dafür einzusetzen, dass :
a. eine Ortspolizei geschaffen wird;
b. ihr Verhältnis zur Polizei auf anderen Ebenen gesetzlich geregelt wird;
c. Verhaltensregeln und Verhaltensnormen für die Ortspolizei ausgearbeitet werden;
d. die Fähigkeit der Ortspolizei und ihre Rolle bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und bei der Verhütung der Kriminalität gebührend gewürdigt wird, z.B. durch gleiche Gehälter und Pensionen sowie Aufstiegs- und Fortbildungsmöglichkeiten bei der staatlichen Polizei;
26. Im Hinblick auf seine künftige Arbeiten bittet der Kongress das Präsidium der Kammer der Gemeinden :
a. zum Aufbau und zur Ausbildung der Ortspolizei bilaterale Kontakte in Europa zwischen Gemeinden, Ortspolizeistellen und besonderen Fortbildungseinrichtungen zu fördern;
b. die Ausarbeitung eines Handbuchs für die Ortspolizei zu erwägen, das aufgrund der Arbeiten der beratenden Experten allgemeine Grundsätze und Verhaltensregeln enthält und zum Gebrauch in möglichst vielen Mitgliedsstaaten gedacht ist;
c. sich für die Schaffung eines Netzes örtlicher Polizeichefs in Europa einzusetzen;
d. die Einrichtung einer europäischen Überwachungsstelle zur Verhütung von Kriminalität zu unterstützen;
e. die Einberufung einer Gesprächsrunde zu bestimmten Fragen der Polizei in Europa nach dem Vorbild der Veranstaltung von Charleroi zu erwägen.
1 Diskussion und Zustimmung durch die Kammer der Gemeinden am 25. Mai 2004 und Annahme durch den Ständigen Ausschuss am 27. Mai 2004, (siehe Dok. CPL (11) 3, Entschliessungsentwurf vorgelegt durch S. Barnes (Vereinigtes Königreich, L, EVP/CD) und P. Mangin (Frankreich, L, EVP/CD), Berichterstatter).