Empfehlung 182 (2005)1 über die Mitwirkung der Bevölkerung an den Gemeindefragen und – wahlen
Der Kongress, mit Bezug auf einen Vorschlag der Kammer der Gemeinden,
1. Unter Hinweis auf:
a. Artikel 2, Absatz 1, Unterabsatz b der Entschließung (2000) 1 des Ministerkomitees über den Kongress des Europarates, nach dem eines der Ziele des Kongresses darin besteht, dem Ministerkomitee Vorschläge zur Förderung der Gemeinde- und Regionaldemokratie vorzulegen;
b. Artikel 2, Absatz 3 der gleichen Entschließung, nach der der Kongress über die Umsetzung der Prinzipien der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung (im Folgenden „die Charta") wachen soll;
c. den Begründungstext über die Beteiligung der Bevölkerung an Gemeindefragen und -wahlen (CPL(12)10 Teil II);
2. Der Kongress stellt fest, dass es in der Präambel der Charta heißt: „dass das Recht der Bürger auf Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten einer der demokratischen Grundsätze ist, die allen Mitgliedstaaten des Europarats gemeinsam sind” und „dieses Recht kann auf kommunaler Ebene am unmittelbarsten ausgeübt werden”2.
3. Der Kongress bekräftigt sein Engagement in Bezug auf die Mitwirkung der Bevölkerung an den Gemeindefragen und –wahlen und sieht diese Priorität als Teil der allgemeinen Ziele des Aktionsplanes des Europarates, der beim 3. Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Warschau verabschiedet wurde und für die Stärkung der Demokratie, der politischen Freiheiten und der Beteiligung der Bürger am Forum des Europarates für die Zukunft der Demokratie in Europa eintritt3.
4. Der Kongress verweist insbesondere darauf, dass die repräsentative Demokratie die ausgewogenste Form der Beteiligung ist, da sie den Bürgern direkt die Möglichkeit bietet, den Entscheidungsprozess über eine allgemeine Wahl zu beeinflussen. Die Legitimität der gewählten Vertreter gründet sich auf der Tatsache ihrer Wahl. Aufgrund dieser demokratischen Legitimität liegt es bei ihnen, die endgültigen Entscheidungen zu treffen. In diesem Zusammenhang verweist der Kongress darauf, dass er einen Europäischen Verhaltenskodex für die Gemeinde- und Regionalpolitiker erstellt hat, der ethische Standards für die gewählten Vertreter festlegt, für die sie dem Wähler gegenüber Rechenschaft schuldig sind (auch denjenigen gegenüber, die nicht für sie gestimmt haben), um das Vertrauen zwischen den Kommunal- und Regionalpolitkern und den normalen Bürgern zu stärken.
5. Der Kongress ist davon überzeugt, dass die Beteiligung der Bürger an Wahlen und die der Zivilgesellschaft im Allgemeinen einen großen Beitrag zum guten Regieren und zu effektiven Entscheidungen leistet. Daher muss sie über die notwendigen Mittel und eine gute Grundlage, d.h. Gesetzgebung, Institutionen und Ressourcen, verfügen.
6. Zuerst verweist der Kongress darauf, wie wichtig es ist, eine geringe Wahlbeteiligung zu vermeiden, da die Beteiligung der Bürger die Legitimität der gewählten Mitglieder garantiert. Die Wahlbeteiligung ist daher ein Schlüsselelement jeder Demokratie und eine hohe Wahlbeteiligung ist ein Zeichen der Vitalität.
7. Der Kongress stellt daher mit Bedauern fest, dass die Wahlbeteiligung unterschiedlich hoch ist. Obwohl es einen leichten Aufwärtstrend in einigen Ländern gibt, sinkt die Wahlbeteiligung in den meisten von ihnen. Eine lebensfähige Demokratie bedarf jedoch der Unterstützung einer aktiven Wählerschaft und dieses sollte für die Regierungen und gewählten Vertreter ein Anliegen sein.
8. Der Kongress ist der Auffassung, dass zur Sicherung der Legitimität dieser Vertreter Schritte unternommen werden sollten, um die Wahlbeteiligung der Bürger zu fördern und bedauert, dass die nationalen Regierungen sich offensichtlich wenig bemühen, innovative Methoden auszuprobieren.
9. Zweitens verweist der Kongress darauf, dass die Beteiligung die demokratischen Diskussionen stärkt und es der Zivilgesellschaft erlaubt, den Entscheidungsprozess zu überwachen und einen gesunden Einfluss darauf auszuüben, der nicht nur auf Wahlen beschränkt ist, da eine beträchtliche Anzahl von Gruppen der Zivilgesellschaft aktiv an der Entscheidungsfindung beteiligt ist.
10. Der Kongress stellt ebenfalls fest, dass die Beteiligung der Gruppen zwar steigt, aber die Anerkennung der Gruppen der Zivilgesellschaft, wenn es sie gibt, in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich und unausgewogen ist.
11. Er ist der Auffassung, dass ganz gleich wie positiv der Einfluss solcher nicht gewählten Gruppen auch sein mag, es doch einen legislativen oder institutionellen Rahmen geben muss, damit die demokratische Legitimität der getroffenen Entscheidungen nicht gefährdet wird. Ihre Beteiligung sollte daher demokratischen Regeln unterliegen und die Gemeinden müssen über institutionelle, finanzielle und logistische Ressourcen verfügen, damit ein geeigneter Rahmen für ihre Beteiligung geschaffen werden kann.
12. Eine effektive und ausgewogene Interaktion zwischen den gewählten Vertretern und der Zivilgesellschaft, ausgehend von Komplementarität und Kooperation, ist nur dann möglich, wenn ein geeigneter Rahmen für die Beteiligung der Gruppen an den Entscheidungen geschaffen wird.
13. Angesichts der vorgebrachten Besorgnisse stellt der Kongress fest, dass die Mehrheit der Mitgliedstaaten sich der sinkenden Wählerbeteiligung bewusst zu sein scheint und darüber beunruhigt ist und sich die kommunalen und nationalen Behörden bemühen müssen, diese Situation zu verbessern.
14. Außerdem ist es noch zu früh, ihre Effizienz abzuschätzen, da auch noch andere Formen der Beteiligung, abgesehen von den Wahlen, genutzt werden.
15. Schließlich stellt der Kongress fest, dass die Beteiligung mit dem Bildungsniveau und der sozioökonomischen Ebene steigt. Einige Mitgliedstaaten haben daher Maßnahmen eingeleitet, die die Beteiligung der am wenigsten beteiligten Bevölkerungsgruppen stärken sollen.
16. Angesichts des vorher gesagten empfiehlt der Kongress, dass das Ministerkomitee des Europarates die Mitgliedstaaten auffordern soll:
a. die Gemeinden aufzufordern, die Gruppen anzuerkennen und einen Rahmen für ihre Beteiligung zu schaffen;
b. die Gemeinden aufzufordern, mit Hilfe von institutionellen Instrumenten, darauf zu achten, dass nicht gewählte Gruppen keinen übermäßigen Einfluss auf die Entscheidungen der Gemeinden ausüben. Sie sollten jedoch innerhalb eines klar definierten Rahmens ein vorrangiger Ansprechpartner der Behörden sein (wie dies z.B. in einigen Mitgliedstaaten der Fall ist, durch Beratergremien, Bürgerversammlungen, Anwohnerkomitees, Nutzervereinigungen, Ausländerbeiräte, Bürgerforen und öffentliche Umfragen);
c. konzertiertere Bemühungen anzustellen, um die sinkende Wahlbeteiligung der Bürger in den Mitgliedstaaten einzudämmen, die die Legitimität der Gemeindedemokratie schwächt (insbesondere durch Maßnahmen zur Förderung der Wahlbeteiligung wie Wahlwerbung kurz vor den Wahlen, Briefwahl, Wahl per Vollmacht und elektronische Wahlen, längere Öffnungszeiten der Wahllokale und Erleichterung der Wahlbeteiligung von Behinderten);
d. die Beteiligung bei den weniger involvierten Gruppen zu fördern wie Frauen, junge Menschen und denen, die weniger gebildet sind und aus weniger wohlhabenden Familien kommen;
e. beste Praktiken auszutauschen und zu entwickeln;
f. sicherzustellen, dass die Informationen über die Möglichkeiten zur Beteiligung an Gemeindefragen und –wahlen so viele Menschen wie möglich erreichen;
g. die Bedeutung der Beteiligung der Bürger an der Organisation der Gemeindereferenden bei allen Entscheidungen anzuerkennen, die eine Gemeindebehörde oder die nationale Regierung getroffen haben oder noch treffen und die eine Gebietskörperschaft direkt betreffen. Diese Gemeindereferenden sollten je nach der jeweiligen Verfassung des Mitgliedstaates beratenden oder gesetzgeberischen Status erhalten.
h. den Kongress zu beauftragen, einen Leitfaden zu erstellen, der eine bessere Nutzung der bestehenden Erfahrungen ermöglicht, um zu sehen welche Maßnahmen es zur Verstärkung der Wahlbeteiligung der Bürger gibt und als Referenz zu dienen;
i. [diejenigen, die dies noch nicht getan haben] das Übereinkommen des Europarates von 1992 über die Beteiligung von Ausländern am kommunalen öffentlichen Leben (SEV 144) zu unterzeichnen und zu ratifizieren, das unter anderem das Recht für alle ausländischen Einwohner vorsieht, passives und aktives Wahlrecht bei Kommunalwahlen auszuüben, wenn sie rechtmäßig und gewöhnlich seit mindestens fünf Jahren auf dem Hoheitsgebiet des Landes ansässig sind;
j. Maßnahmen zur Förderung der revidierten Europäischen Charta über die Beteiligung von Jugendlichen am kommunalen und regionalen Leben zu ergreifen.
17. Der Kongress empfiehlt dem Forum für die Zukunft der Demokratie des Europarates einen beträchtlichen Teil seiner Arbeiten der Förderung der Beteiligung, auch der Wahlbeteiligung, zu widmen und den Kongress voll und ganz in diese Arbeiten einzubeziehen.
1 Diskussion und Zustimmung durch die Kammer der Gemeinden am 9. November 2005 und Annahme durch den Ständigen Ausschuss des Kongresses am 9. November 2005 (siehe Dok. CPL (12) 10, Empfehlungsentwurf vorgelegt durch A. Knape (Schweden, L, EVP/CD), Berichterstatter).
2 Der Kongress verweist auch auf folgende offizielle Texte:
a. das Übereinkommen des Europarates 1992 über die Beteiligung von Ausländern am kommunalen Leben (SEV 144) und die Schlussfolgerungen der Anhörung von Stuttgart am 14. Dezember 2001 über „die Beteiligung ausländischer Einwohner am öffentlichen kommunalen Leben – beratende Organe“, CPL (9) 5 Teil II und CG (7) 5 Teil ;
b. die revidierte Europäische Charta über die Beteiligung junger Menschen am kommunalen und regionalen Leben und Empfehlung 128 (2003) zu dieser Charta;
c. das erste Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Artikel 3, der das Recht auf freie Wahlen vorlegt;
d. seine Empfehlungen 153 (2004) über „einen Pakt zur Integration und Beteiligung von Menschen ausländischer Herkunft in den europäischen Städten und Regionen Europas” und 115 (2002) betreffend die Partizipation der ausländischen Einwohner am öffentlichen Leben der Gemeinden: Die beratenden Organe;
e. seine Entschließung 91 (2000) über verantwortliche Staatsbürgerschaft und Beteiligung am öffentlichen Leben;
f. die Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung 1704 (2005) über „Referenden: Auf dem Weg zu einer guten Praxis in Europa” und 1714 (2005) über die Abschaffung der Beschränkungen des Wahlrechtes;
g. die Empfehlung des Ministerkomitees (2001) 19 über die Beteiligung der Bürger am öffentlichen Gemeindeleben;
h. die Empfehlung des Ministerkomitees (2004) 13 über die Beteiligung junger Menschen am kommunalen und regionalen Leben;
i. das Grünbuch des Europarates über die „Zukunft der Demokratie in Europa: Tendenzen, Analysen und Reformen ".
3 CM(2005)80 final, 17.05.2005.