Empfehlung 131 (2003)1 betreffend die Lage der Gemeindedemokratie in Belgien

Der Kongress, mit Bezug auf den Vorschlag der Kammer der Gemeinden:

1. Erinnert:

a. an Artikel 2.3 der Statutarischen Entschliessung (2000)1 des Ministerkomitees, worin der KGRE beauftragt wird, Land für Land Berichte auszuarbeiten über die Lage der Gemeinde- und Regionaldemokratie in den Mitgliedstaaten und den sich um die Mitgliedschaft bewerbenden Staaten;

b. an seine Entschliessungen 31 (1996), 58 (1997) und 106 (2000), worin die Leitprinzipien für die Ausarbeitung der erwähnten Berichte festgehalten sind;

c. daran, dass er bereits mehrere Berichte über die Lage der Gemeinde- und Regionaldemokratie in verschiedenen Mitgliedstaaten des Europarats2 ausgearbeitet hat;

2. Nimmt den Bericht über die Lage der Gemeindedemokratie in Belgien zur Kenntnis, den Frau Halvarsson (Schweden, G), Vizepräsidentin des Institutionellen Ausschusses der Kammer der Gemeinden, gestützt auf Arbeiten von Prof. Schefold, Vizepräsident der Gruppe unabhängiger Experten für die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, nach einem vorbereitenden Besuch im Dezember 2002 und zwei offiziellen Besuchen im Januar und Februar 2003 ausgearbeitet hat;

3. Dankt allen Vertretern auf der föderalen Ebene, der Regionen und Gemeinschaften, den Abgeordneten und den Vertretern der Gemeinden und deren Verbänden sowie den Universitätsmitgliedern, die in eine Begegnung mit der Abordnung des Kongresses (Berichterstatterin, Experte, Sekretariat) während ihrer Besuche von Belgien eingewilligt haben, für das Interesse, das sie der Arbeit des Kongresses entgegenbrachten sowie für ihre freundliche und kostbare Hilfe bei der Ausarbeitung des Berichts;

4. Möchte die folgenden Empfehlungen an die föderalen, regionalen, gemeinschaftlichen und kommunalen Behörden Belgiens richten:

5. Betreffend die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung:

a. Erinnert:

i. daran, dass Belgien die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung am 15. Oktober 1985 unterzeichnet hat, stellt jedoch mit Bedauern fest, dass die Charta bis heute nicht ratifiziert worden ist;

ii. stellt allerdings fest, dass das Ratifikationsverfahren sehr fortgeschritten ist nach der "Einwilligung" vonseiten der Repräsentantenkammer und des Senats, der französischen Gemeinschaft, des wallonischen Parlaments, der deutschsprachigen Gemeinschaft, der Hauptstadtregion Brüssel und der französischen Gemeinschaftskommission (COCOF);

b. Empfiehlt,

i. dass das flämische Parlament, welches den Ratifikationsentwurf im Februar 2003 von der flämischen Regierung erhalten hat, so rasch wie möglich sein Einverständnis gibt;

ii. dass Belgien die Zustimmungsverfahren für internationale Verträge, vor allem für solche, die die Gemeinden betreffen, vereinfacht;

6. Betreffend die gesetzgeberischen Aspekte der kommunalen Selbstverwaltung und der eingeleiteten Reformen:

a. Erinnert:

i. an die lange, auf die Gesetzgebung von 1836 zurückgehende Tradition der kommunalen Selbstverwaltung in Belgien;

ii. daran, dass Belgien unter einer Koordinierten Verfassung vom 17. Februar 1994 ein Bundesstaat geworden ist und dass eine Übertragung von Zuständigkeiten nach dem Spezialgesetz vom 8. August 1980, modifiziert insbesondere durch das Spezialgesetz vom 13. Juli 2001, durchgeführt worden ist. Diese Gesetze haben die Zuständigkeiten für die kommunale Selbstverwaltung von der Bundesregierung auf die Regionen übertragen, allerdings unter Verbleib gewisser Zuständigkeiten beim Bundesstaat sowie Übertragung weiterer Zuständigkeiten auf die drei Gemeinschaften;

iii. an die durch die Parlamentarische Versammlung am 26. September 2002 über den Schutz der Minderheiten in Belgien angenommene Entschliessung 1301 (2002) (Doc. 9536);

b. Empfiehlt, der Komplexität der Stellung der Gemeinden inbezug auf den Bundesstaat, die Regionen und die Gemeinschaften vermehrt Rechnung zu tragen. Diese Situation erschwert den Bürgermeistern und den Provinzgouverneuren oft ihre Aufgabe angesichts nicht nur der Komplexität der anzuwendenden Gesetze sondern auch der Tatsache, dass sie Gesetze und Verfügungen von der Bundes-, der Regional, der Gemeinschafts- und der Gemeindeebene gleichzeitig umsetzen müssen;

7. Betreffend die Gemeindefinanzen:

a. Erinnert:

i. daran, dass die Regionalisierung impliziert, dass die Finanzmittel der Gemeinden in erster Linie von den Regionen und den Gemeinschaften (die ihrerseits vom Bundesstaat finanziert werden) und zum Teil unmittelbar vom Bundesstaat kommen;

ii. daran, dass, wie es scheint, der "Gemeindefonds" und der "Provinzfonds" (beide in Zukunft von den Regionen verwaltet), welche die allgemeinen Ausgaben der Gemeinden (nach Kriterien, welche die Situation der einzelnen Gemeinde berücksichtigen) finanzieren sollen, nicht genügen, um die Gemeinden mit eigenen Mitteln im Sinne von Art. 9.1 der Charta zu versehen. Überdies reduziert der Modus der Verteilung dieser Mittel, die sich nach "Verträgen" zwischen den Regionen und den Gemeinden richtet, die Möglichkeit der letzteren, frei über ihre Mittel zu verfügen;

iii. daran, dass die Steuerautonomie der Gemeinden durch ihre Möglichkeiten der Erhebung (im voraus) von Gemeindesteuern auf Einkommen und Immobilien gesichert ist. Die Höhe des Einbehaltungsbetrags unterscheidet sich jedoch von Region zu Region;

b. Empfiehlt, dass die Finanzautonomie der Gemeinden durch die Verfassung und Artikel 9 der Charta besser geschützt und gewährleistet ist, wobei bekannt ist, dass diese Forderung in den gegenwärtig in Belgien geführten politischen und juristischen Debatten breite Unterstützung findet;

8. Betreffend die durch die Regionen und Gemeinschaften über die Gemeinden und Provinzen ausgeübte Aufsicht (Verwaltungsaufsicht):

a. Erinnert:

i. daran, dass die Ausübung der Verwaltungsaussicht für die Gemeinden insofern problematisch werden kann, als die Regional- und die Gemeinschaftsregierungen bei der Kontrolle spezifischer Entscheidungen ein Eigeninteresse verfolgen könnten;

ii. daran, dass die Föderalisierung Belgiens das typische Problem der Konkurrenz zwischen Föderalismus und kommunaler Autonomie aufwirft. Tatsächlich ist es charakteristisch, dass das Gesetz hinsichtlich gewisser heikler Fragen wie etwa bezüglich der Sprachen manche Zuständigkeiten auf bundesstaatlicher Ebene belässt;

iii. daran, dass dies wichtige Fragen sind, denn sie können die kommunale Selbstverwaltung gefährden;

iv. daran, dass Artikel 8.2 der Charta vorsieht: "Jede Verwaltungsaufsicht über die Tätigkeit der kommunalen Gebietskörperschaften darf in der Regel nur bezwecken, die Einhaltung der Gesetze und Verfassungsgrundsätze sicherzustellen", während Art. 162 der belgischen Verfassung eine Beaufsichtigung der Gemeinden nicht nur im Fall der Verletzung von Gesetzen, sondern auch wegen Verletzung des "allgemeinen Interesses" - welche Verletzung in der wallonischen Region beispielsweise erweitert wurde auf das "regionale Interesse"- vorsieht;

v. daran, dass die belgische Verfassung im Sinne der von Belgien ja unterzeichneten Charta interpretiert werden sollte und - der in der politischen Debatte vielfach geäusserten Ansicht zufolge - auch interpretiert werden könnte;

b. Empfiehlt, in Anbetracht der Kompetenzenübertragung vom Bundesstaat auf die Regionen, eine restringierte Aufsicht über die Anwendung der Gesetze und die Praxis "inbezug auf das allgemeine Interesse";

9. Betreffend den Umfang der kommunalen Selbstverwaltung:

a. Erinnert:

i. daran, dass die Definition der Kompetenzen der belgischen Gemeinden ("alles, was im Interesse der Provinzen und Gemeinden ist") sich von derjenigen der Charta unterscheidet, wennschon die Ziele die selben sind;

ii. daran, dass, in Anbetracht der Konkurrenz zwischen Gemeinden und Provinzen, wie es scheint gewisse neuere Texte (vor allem der Vorentwurf des Dekrets über die wallonischen Provinzen) gewisse Kompetenzen von Provinzen, allerdings eher zugunsten der Regionen, ausschliessen wollen;

iii. daran, dass die Gemeinden Kompetenzen in jenen Bereichen innehaben sollten, die nicht Gegenstand eines Gesetzes sind;

b. Empfiehlt angesichts des Konflikts zwischen Gemeinden und Provinzen betreffend ihre Zuständigkeiten, Überlegungen im Hinblick auf eine Klärung der Zuständigkeitsbereiche von Gemeinden und Provinzen vorzunehmen;

10. Betreffend die Verantwortung und die Ernennung kommunaler Exekutivorgane:

a. Erinnert:

i. an seine am 6. Juni 2002 angenommene Empfehlung 113 (2002) (Bericht von Herrn A. Knape, CPL (9) 2) betreffend "die Beziehungen zwischen Bürgern, Gemeindeparlament und Exekutive in der Gemeindedemokratie" und unterstreicht insbesondere, dass gemäss Art.3.2 der Charta Räte oder Versammlungen "... über Exekutivorgane verfügen können, die ihnen gegenüber verantwortlich sind". Damit führt die Charta einen allgemeinen Mechanismus der Verantwortung der Exekutive gegenüber den Repräsentativorganen ein, unabhängig von dem Modus der Wahl oder Ernennung dieser Exekutive;

ii. daran, dass das gegenwärtige System der Ernennung des Bürgermeisters durch die Exekutive (durch den König oder, in der Praxis, durch den Innenminister und seit dem 1. Januar 2002 durch die Regionalregierung) in immer weniger Ländern Europas beibehalten wurde. Aber dieses System ist, wie auch dasjenige der Wahl durch den Gemeinderat (beispielsweise der Beigeordneten/Schöffen bei Gericht) mit der Charta kompatibel, insofern als diese Praxis doch einen beträchtlichen Einfluss des Gemeinderats bei der Ernennung und Kontrolle der Exekutive zeigt;

iii. daran, dass die Direktwahl des Bürgermeisters durch den Gemeinderat oder durch die Bürger eine bessere Lösung ist, die im übrigen in zahlreichen Ländern Europas praktiziert wird. Dieses System ist auch in dem in Vorbereitung befindlichen Entwurf des Dekrets für Flandern vorgesehen;

iv. daran, dass die Frage, ob einem Gemeinderat die Möglichkeit zustehen solle, gegenüber einem (in Direktwahl durch die Bürger gewählten) Bürgermeister ein Misstrauensvotum abzugeben, schwierige Probleme aufwirft, die aber im Einklang mit der Charta gelöst werden können;

b. Empfiehlt deshalb, dass Belgien für seine Bürgermeister ein Wahlverfahren entweder durch den Gemeinderat oder direkt durch die Bürger annimmt;

11. Betreffend die Beteiligung der Bürger:

a. Erinnert daran, dass in den Gemeinden und den Provinzen wegen der für sie geltenden schwierigen Bedingungen sehr selten ein Referendum durchgeführt wird;

b. Empfiehlt deshalb eine Flexibilisierung der für die Durchführung von Referenden auf Gemeinde- und Provinzebene geltenden Regeln;

12. Betreffend die territorialen Grenzen von Gemeinden und Provinzen:

a. Erinnert daran, dass die Gemeindegrenzen durch eine regionale Verfügung geändert werden können, ausgenommen in wenigen Gemeinden (wo das Sprachenproblem besonders heikel ist), für welche solche Veränderungen nur durch ein Bundesgesetz und nach Stellungnahme der betroffenen regionalen Regierung(en) möglich ist;

b. Empfiehlt diesbezüglich eine Klärung vorzunehmen, sodass die betroffenen Gemeinden konsultiert werden können, wie dies Artikel 5 der Charta fordert;

13. Betreffend die Vereinigungsfreiheit:

a. Erinnert:

i. daran, dass die Gemeinden und Provinzen der belgischen Regionen durch Verbände vertreten sind, die sich aktiv und einflussreich für ihre jeweiligen Interessen sowie für ihre Vertretung auf internationaler Ebene einsetzen. Deren Bereitschaft, vor allem die Bereitschaft der Union der belgischen Städte und Gemeinden, zur Ausarbeitung des der vorliegenden Empfehlung zugrunde liegenden Berichts beizutragen, belegt dies;

ii. daran, dass in Belgien eine lange Tradition der Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden, insbesondere vermittels der "interkommunalen Verbände", besteht. Allerdings schafft nun die Übertragung der Aufsicht auf die Regionen diesbezügliche Probleme und führt, wie es scheint, zu einer starken Einschränkung der Zusammenarbeit zwischen belgischen Gemeinden, die in unterschiedlichen Regionen liegen;

iii. daran, dass Belgien das Protokoll Nr. 1 zum Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Gebietskörperschaften nicht ratifiziert hat, was die Möglichkeiten der belgischen Gemeinden, mit Gemeinden in anderen Staaten zusammenzuarbeiten, einschränkt;

b. Empfiehlt

i. die Einführung von Massnahmen, welche die Zusammenarbeit zwischen den belgischen Gemeinden über die regionalen Grenzen hinweg erleichtern;

ii. dass Belgien so rasch wie möglich die Protokolle 1 und 2 zu dem Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Gebietskörperschaften ratifiziert;

14. Betreffend die Provinzen:

a. Erinnert:

i. daran, dass nach der Regionalisierung die Provinzen für die Umsetzung der Gesetze und als gemeinsames Instrument des Bundesstaats, der Region und der Gemeinschaft ihre Rolle eindeutig beibehalten;

ii. daran, dass die Verfassungsrevisionen neue legislative Bestimmungen notwendig machen, vor allem betreffend die Provinzgouverneure, deren Ernennung und Absetzung nun in die Zuständigkeit der Regionen fällt;

iii. daran, dass bereits einige Kompetenzen von der wallonischen Region an die deutschsprachige Gemeinschaft (die vollständig innerhalb der wallonischen Region liegt) übertragen worden sind und dass Pläne für neue Übertragungen diskutiert werden, insbesondere hinsichtlich der Übertragung der Verwaltungsaufsicht über die deutschsprachigen Gemeinden an die deutschsprachige Gemeinschaft, was die Stellung dieser Gemeinschaft derjenigen einer Provinz annähern könnte;

b. Empfiehlt, in vertieften Debatten die Zuständigkeiten und zukünftige Rolle der Provinzen zu klären;

15. Betreffend die allgemeine Entwicklung der Gemeindedemokratie in Belgien:

a. Erinnert:

i. daran, dass der belgische Föderalismus dadurch, dass er den Regionen (und Gemeinschaften) eine ausgesprochene Autonomie verleiht, eine Politik der Dezentralisierung betreibt und somit auch den Grundsätzen des Entwurfes der Europäischen Charta der regionalen Selbstverwaltung sowie dem Subsidiaritätsprinzip entspricht;

ii. daran, dass die Föderalisierung die Schaffung eines Rahmens für die Sprachenvielfalt ermöglicht hat und den Bürgern mithilfe zwar komplexer, aber gewaltlos funktionierender rechtlicher Lösungen die Beibehaltung ihrer eigenen Lebensformen gewährleistet;

iii. daran, dass dieses System von Garantien, ungeachtet seiner Komplexität, eine friedliche Koexistenz ermöglicht und mithilfe besonderer Organe, wie vor allem des Schiedsgerichtshofs, ein Konfliktmanagement sicherstellt;

b. Empfiehlt insbesondere:

i. die Weiterverfolgung und Vertiefung der Debatten zur Klärung gewisser Rechtsnormen, insbesondere gewisser Gesetze und Dekrete betreffend die freie Wahl der Sprache sowie den Schutz eventueller Minderheiten;

ii. eine Förderung der - nicht nur die kommunalen und nationalen, sondern auch die regionalen und sprachlichen Grenzen betreffenden - Befugnis zu grenzüberschreitender Zusammenarbeit für die Gemeinden.

1 Diskussion und Zustimmung durch die Kammer der Gemeinden am 20. Mai 2003 und Annahme durch den Ständigen Ausschuss des Kongresses am 22. Mai 2003 (siehe Dok. CPL (10) 2 rev., Empfehlungsentwurf, vorgelegt durch Frau B. Halvarsson, Berichterstatterin)

2 Annahmejahr der Empfehlung/Entschliessung: 1995 (Rumänien), 1997 (Albanien, Italien, Türkei, Russische Föderation), 1998 (Kroatien, Bulgarien, Lettland, Moldau, Vereinigtes Königreich, Ukraine), 1999 (Deutschland, Finnland, Niederlande, San Marino), 2000 (Moldau, Estland, Ehemals jugoslawische Republik Mazedonien, Tschechische Republik, Frankreich), 2001 (Litauen, Slowakei, Slowenien, Zypern, Irland, Ukraine, Bosnien-Herzegowina, Bundesrepublik Jugoslawien), 2002 (Griechenland, Moldau, Ungarn, Polen, Spanien, Malta), 2003 (in Ausarbeitung: Aserbaidschan, Portugal, Moldau, Georgien, Russische Föderation).