Empfehlung 111 (2002)1 betreffend das individuelle Wahlrecht der Frauen: eine Forderung der Demokratie

Der Kongress

1. Erinnert an die anlässlich der 4. Europäischen Ministerkonferenz über die Gleichberechtigung von Frauen und Männern (Istanbul 1997) angenommene Erklärung und insbesondere an die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass die Verwirklichung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zum Inhalt der demokratischen Pflichten gehört, deren Erfüllung seitens der Mitgliedstaaten überwacht werden muss;

2. Erinnert an die Rolle des Europarats hinsichtlich der Förderung und Aufrechterhaltung höchster demokratischer Standards in seinen Mitgliedstaaten;

3. Hebt hervor, dass die Mitgliedstaaten des Europarats verfassungsmässig und von Gesetzes wegen verpflichtet sind, demokratische Wahlpraktiken einschliesslich des gleichen Wahlrechts für Frauen und Männer aufrechtzuerhalten;

4. Stützt sich auf die einschlägigen internationalen Texte, insbesondere die UNO-Konvention über die Abschaffung aller Formen der Diskrimination von Frauen (1979) sowie die Erklärung und das Aktionsprogramm aus der 4. Weltkonferenz der Frauen (Peking 1995);

5. Erinnert daran, dass die Gewährleistung geheimer Wahlen, so wie diese im Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention und in dem l990 durch die OSZE angenommenen Dokument von Kopenhagen enthalten ist, eine unerlässliche Bedingung für die Sicherstellung der Ausdrucksfreiheit der ihre Legislativen wählenden Bevölkerungen ist;

6. Nimmt Bezug auf die Schlussfolgerungen der Berichte von den Wahlbeobachtungen der Parlamentarischen Versammlung, des Kongresses der Gemeinden und Regionen Europas und der OSZE aus den letzten Jahren, worin die Praxis der Familienwahl in etwa fünfzehn europäischen Staaten zu Tage getreten ist;

7. Erinnert an den Bericht von Herrn Georges Clerfayt und die Entschliessung 1264 (2001) der Parlamentarischen Versammlung betreffend den Kodex guter Wahlpraxis;

8. Ist in diesem Zusammenhang der Meinung, dass das individuelle Wahlrecht der Frauen zu den Grundprinzipien europäischer Wahlsysteme gehört;

9. Bekräftigt, dass die Ausübung des individuellen Wahlrechts der Frauen eine Grundbedingung für eine funktionierende Demokratie darstellt und nicht als zweitwichtig gelten darf;

10. Bedenkt, dass die Familienwahl eine Praxis ist, welche dazu tendiert, Frauen - und zuweilen auch junge Menschen - ihres individuellen Wahlrechts zu berauben und insofern gewissermassen einem Wahlbetrug gleichkommt;

11. Ist sich darüber im klaren, dass die Familienwahl für die betroffenen Staaten ein schwieriges und empfindliches Thema ist;

12. Berücksichtigt die Tatsache, dass sozio-ökonomische, kulturelle oder gruppenspezifische Besonderheiten Gründe darstellen können, das individuelle Wahlrecht - zu Unrecht - abzulehnen;

13. Ist überzeugt, dass die Bekämpfung der Familienwahl eine konzertierte Anstrengung vonseiten verschiedener Akteure - nationale, regionale und lokale Regierungen, Nichtregierungsorganisationen sowie Rechtsbehörden - erfordert;

14. Ist der Ansicht, dass das Wirken der Aktionsgruppe für die Gleichberechtigung der Geschlechter (Gender Task Force) des Stabilitätspakts und die durch die OSZE unterstützten einschlägigen Aktivitäten geeignet sind, die Frauen für die Rolle zu sensibilisieren, die sie bei der Verhütung von Konflikten und für die Stabilisierung der Region spielen könnten;

15. Begrüssen im weiteren die Schritte, die der Europarat unternommen hat, um die Beteiligung der Frauen am öffentlichen Leben anzuregen, worin selbstverständlich das Recht enthalten ist, sich individuell am Entscheidungsprozess und somit vorab an den Wahlen zu beteiligen;

16. Fordert die Mitgliedstaaten des Europarats auf,

a. das Wahlrecht als Teil des demokratischen Wahlverfahrens in den Mitgliedstaaten strikt durchzusetzen und sicherzustellen, dass die eingegangenen Verpflichtungen die Wahlrechte betreffend tatsächlich erfüllt werden;

b. deshalb bei der Ausbildung der Wahlausschüsse der Verhütung von Familienwahlen besondere Aufmerksamkeit zu widmen;

c. öffentlich und weitherum bekanntzumachen, dass Frauen das selbe Wahlrecht haben wie Männer und dass somit jede Hinderung der Frauen, dieses Recht auszuüben, verboten ist;

d. im Vorfeld von Wahlen öffentliche Kampagnen durchzuführen, worin die Wichtigkeit des individuellen Wahlrechts hervorgehoben und deutlich gemacht wird, dass die Familienwahl unannehmbar und illegal ist. Solche Kampagnen können die Form gezielter Ausbildung in Frauenrechten annehmen, können aber auch im Rahmen allgemeinerer öffentlicher Programme zur Demokratieerziehung stattfinden, welche weibliche Entscheidungsträger als Rollenvorbilder für die Teilnahme am demokratischen Entscheidungsprozess heranziehen;

e. die Erforschung der Gründe für die Verbreitung der Familienwahl anzuregen und gestützt auf die Ergebnisse dieser Arbeiten ein nationales Programm für die Abschaffung dieser Praktiken mit Zeitplänen, Zielen und Kontrollmechanismen einzuleiten;

f. gutes Verhalten bei der Durchführung von Wahlen zu praktizieren und zu unterstützen;

g. die für die Wahlgesetze und für die Rechte der Frauen zuständigen Minister aufzufordern, die für die Verhütung von Familienwahlen notwendigen Massnahmen zu ergreifen;

h. das Nötige zu unternehmen, damit die folgenden Forderungen erfüllt werden können:

i. das Wahlgesetz sollte eine Klausel enthalten, welche die Mitglieder der Wahlausschüsse rechtlich verantwortlich macht für jede Nichtachtung demokratischer Wahlpraktiken, vor allem der Ausübung des individuellen Wahlrechts durch die Frauen;

ii. die Mitglieder der Wahlausschüsse müssen sich darüber im klaren sein, dass sie eine schwere Strafe riskieren, wenn in einem Wahlbüro, für das sie verantwortlich sind, ein Betrug entdeckt wird. Solche Strafen müssen für Familienwahlen wie für andere Verletzungen des Wahlgesetzes verhängt werden;

iii. die Mitglieder der für den Ablauf der Wahlen verantwortlichen Wahlausschüsse müssen gehörig ausgebildet werden für die Durchführung demokratischer Wahlen unter Betonung individueller und geheimer Wahlen sowie der Notwendigkeit, sich gegenüber Ansinnen, von diesen Grundsätzen abzuweichen, völlig hart zu erweisen;

iv. die Mitglieder der Wahlausschüsse müssen über angemessene Unterstützung durch Infrastrukturen und Personal verfügen, damit sie ihre Aufgabe gemäss guter demokratischer Praxis erfüllen können;

v. die Wahlausschüsse müssen die demokratischen Verfahren strikte anwenden;

vi. die Stimmzettel müssen die Bedürfnisse der Wähler berücksichtigen (etwa zweisprachige Beschriftung, Abdruck auch der Parteisymbole), damit auch analphabetische oder schlecht informierte Wähler sich die für eine individuelle Wahl notwendigen Informationen verschaffen können;

vii. Beanstandungs- und Beschwerdeverfahren sollten zugänglich und leicht verständlich sein, schnell behandelt werden und ein effizientes Untersuchungsverfahren in Gang setzen;

viii. bei der Zusammenstellung von Wahlausschüssen sollten ortsfremde Mitglieder in die Ausschüsse aufgenommen werden, besonders in Gegenden, wo vermehrt Familienwahlen zu erwarten sind (z.B. auf dem Lande);

i. die Gewährung staatlicher Finanzbeiträge an politische Parteien davon abhängig zu machen, dass diese Erziehungsprogramme in Demokratie durchführen, welche Module über die Gleichberechtigung der Geschlechter enthalten;

j. in den Schulen einen allgemeinen Unterricht über Staatsbürgerlichkeit und Gleichberechtigung einzuführen, der die Gleichheit der Frauen mit den Männern im politischen, bürgerschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich hervorhebt, gegebenenfalls unter Hinweis auf örtliche Gepflogenheiten, Praktiken und Ansichten, welche die Frauen und Mädchen in eine gesellschaftlich untergeordnete Stellung verweisen;

k. anzuerkennen, dass die Alphabetisierung einem Grundrecht aller entspricht, und dass dazu gleicher Zugang zu einer vollständigen Bildung auch für die Frauen und Mädchen, ungeachtet ihrer Herkunft oder Kultur, gehört;

l. die Tätigkeit von NROs zu unterstützen und zu erleichtern, die darauf angelegt ist, (1) die Bildung der Frauen und ihre Ausübung der Grundrechte, einschliesslich des individuellen Wahlrechts, zu fördern und (2) die Männer dafür zu sensibilisieren, wie wichtig die Beteiligung der Frauen am öffentlichen Leben und die Ausübung ihres individuellen Wahlrechts ist;

m. mit allen hierfür geeigneten Mitteln NROs von Frauen dazu anzuregen, mit NROs zusammenzuarbeiten, die sich um die Förderung der Demokratie kümmern, um die beiderseitigen Erfahrungen, Kenntnisse und Strategien vereint in die Unterstützung des individuellen Wahlrechts für Frauen einzubringen;

n. in Gebieten, wo Familienwahlen vorkommen, die Verbreitung von Programmen für die politische Sensibilisierung nach Art des "Women can do it" (Die Frauen schaffen es) oder von volkstümlichen Programmen zur politischen Stärkung der Frauen nach Art der durch die Arbeitsgruppe für die Gleichberechtigung der Geschlechter (im Rahmen des Stabilitätspakts) ausgearbeiteten Programme zu unterstützen;

17. Fordert das Ministerkomitee des Europarats auf,

a. ein gemeinsames Aktionsprogramm zur Verhütung von Familienwahlen sowie Initiativen zu entwickeln, welche die demokratische Leistungsfähigkeit von Institutionen wie auch von Einzelpersonen stärken, dies vor allem im Rahmen des integrierten Europaratsprojekts "making democratic institutions work" (Demokratische Einrichtungen zum Funktionieren bringen);

b. im Hinblick hierauf den Lenkungsausschuss für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern (CDEG) aufzufordern, dieser Problematik in seinem Arbeitsprogramm Rechnung zu tragen und insbesondere

i. eine Sammlung guter Praktiken und Strategien für das Erreichen einer ausgewogenen Geschlechterverteilung in politischen und sozialen Entscheidungsgremien sowie für konkrete Massnahmen zur Abschaffung von Familienwahlen auszuarbeiten und ausgedehnt zu verbreiten;

ii. in Zusammenarbeit mit örtlichen NROs, die für die Gleichberechtigung der Geschlechter arbeiten, mit demokratiefördernden Agenturen sowie mit nationalen, regionalen und kommunalen Behörden sensibilisierende Seminarien über die politischen Rechte von Frauen und die Ausübung ihres individuellen Wahlrechts durchzuführen. Solche Tätigkeiten liessen sich vor allem im Rahmen des Stabilitätspakts, der Hilfsprogramme für Mitgliedstaaten des Europarats sowie von Vor- oder Nach-Beitrittsprogrammen für neue Mitgliedstaaten anbieten;

iii. multilaterale regionale Seminarien für die Präsidenten von Wahlausschüssen durchzuführen, um den Austausch von Erfahrungen und guten Praktiken zu fördern und so die Einführung von Lehrveranstaltungen für die Ausbildner der nationalen und kommunalen Wahlausschüsse in den betroffenen Staaten anzuregen;

c. die Aktivitäten der in der Förderung von Demokratie und Gleichberechtigung der Geschlechter engagierten NROs zu unterstützen, um dadurch auf lokaler Ebene die Sensibilisierung für die Rechte der Frauen als von aktiven, somit auch ihr Wahlrecht ausübenden Bürgerinnen zu verstärken;

d. insbesondere lokale, in der Wahlbeobachtung aktive NROs zu unterstützen und sie für die Frage der Familienwahl zu sensibilisieren;

e. die vorliegende Empfehlung der 5. Europäischen Fachministerkonferenz über "Demokratisierung, Konfliktprävention und Friedensaufbau: Perspektiven und Rollen der Frauen" vorzulegen, die am 21. und 22. Juni 2002 in Skopje stattfindet;

18. Fordert die Kommission von Venedig auf, der Frage des individuellen Wahlrechts der Frauen bei ihren Wahlbeurteilungen sowie bei der in Zusammenarbeit mit der Parlamentarischen Versammlung und dem Kongress der Gemeinden und Regionen Europas vorgesehenen Ausarbeitung eines Kodex für gutes Wahlverhalten zu berücksichtigen;

19. Fordert die Parlamentarische Versammlung auf,

a. im Rahmen ihrer einschlägigen Ausschüsse, insbesondere des Ausschusses für politische Fragen, des Ausschusses für Recht und Menschenrechte und des Ausschusses für Chancengleichheit für Frauen und Männer, auf die Unzulässigkeit von Familienwahlen hinzuweisen;

b. eine Anhörung über die Frage der Familienwahl durchzuführen und eine Untersuchung über die besten Verfahren und wirksamsten Strategien in die Wege zu leiten, wie Sensibilisierungsprogramme für die Frauenrechte in den nationalen Parlamenten eingeführt werden könnten;

c. vor allem auch bei Wahlbeobachtungsmissionen der Familienwahl besondere Aufmerksamkeit zu widmen und deren Unvereinbarkeit mit einer Demokratie hervorzuheben;

d. in den von Familienwahlen betroffenen Mitgliedstaaten des Europarats dieses Problem den mit den Rechten von Frauen befassten Parlamentsausschüssen vorzulegen;

20. Fordert die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und ihr Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDINR) auf, der Problematik der Familienwahl bei der Umsetzung ihrer Aktivitäten zur Demokratisierung und bei ihren Wahlbeobachtungen in Europa besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

1 Diskussion und Annahme durch den Kongress am 6. Juni 2002, 3. Sitzung (siehe Dok. CG (9) 7, Empfehlungsentwurf, vorgelegt durch Frau Bunyan, Berichterstatterin)