Entschliessung 87 (2000) 1 betreffend die rolle der gemeinden und regionen für die erbringung von sozialdiensten

Der Kongress,

1. Bezugnehmend auf den von Herrn Markku Andersson im Namen der Arbeitsgruppe "Verantwortlichkeiten der Gebietskörperschaften im Bereich der Sozialdienste" vorgelegten Bericht;

Erwägend:

2. Es gibt kein allgemein gültiges Vokabular für den sozialen Schutz, sind es doch die jeweils wahrgenommenen Bedürfnisse und die jeweilige Fähigkeit, diese zu befriedigen, die in jeder Gesellschaft den Fächer der Sozialdienste bestimmen. Der wirtschaftliche und soziale Wandel beschert jeder Generation neue Perspektiven und neue Risiken, was eine fortwährende Anpassung der Sozialdienste erfordert;

3. Politische Überlegungen und die Verfügbarkeit von Mitteln bestimmen weitgehend die Art und Weise, wie die Sozialdienste organisiert sind. Ethnische Probleme und die Verarmung in den Städten haben der Armut neue Dimensionen hinzugefügt, die sich durch alle herkömmlichen Kategorien von Klienten - Familien, Kindern, Jugendlichen, Kranken und Behinderten, Arbeitslosen, Alten und Delinquenten - hindurchziehen;

4. Doch gehört die Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens der Bevölkerung sowie die Verminderung der sozialen Ungleichheiten bei allen demokratischen Regierungen zu den Prioritäten ersten Ranges;

5. Gute Sozialdienste sind wesentlich für die Lebensqualität der Menschen, ist es doch ihr Ziel,

a. die Häufigkeit vemeidbarer Krankheiten, Leiden und Unfälle in der Bevölkerung zu senken;

b. Personen, auch chronischkranken oder behinderten, die zu den wichtigsten alltäglichen Verrichtungen nicht in der Lage sind, ein möglichst erfülltes und normales Leben zu ermöglichen;

c. die soziale Entwicklung der Kinder in einem stabilen familiären Umfeld so gut wie möglich zu fördern;

d. die Ungleichheiten zwischen den Bevölkerungsgruppen, beispielsweise hinsichtlich der einkommensschwachen Menschen, der Minderheiten, der alten Menschen oder der Landbewohner, zu verringern;

6. Schlägt vor, dass die 12. Konferenz der für das Gemeindewesen zuständigen europäischen Minister bei ihrer Diskussion der Rolle der Gemeinden und Regionen für die örtliche Erbringung von Sozialdiensten die folgenden Aspekte berücksichtige:

Unterschiede:

7. Bei der Organisation und Finanzierung der Sozialdienste finden sich erhebliche Unterschiede zwischen den Nationen:

a. Unterschiede des relativen Gewichts von Zentralstaat, Regionen und Gemeinden hinsichtlich der öffentlichen Finanzierung, der politischen Entscheidungskompetenz und der erbrachten Leistungen;

b. Unterschiede der relativen Gewichte von öffentlichem, freiwilligem und privatem Sektor. Auch wenn die öffentlichen Behörden die wichtigsten Kontribuenten sind, so variiert doch die Mittelzuteilung an die öffentlichen und nichtöffentlichen Sektoren in ihren Proportionen von Land zu Land;

c. Ausserdem gibt es Unterschiede inbezug auf den Grad an Selbstverwaltung, der für die Sozialdienste gilt;

8. Hinzu kommt eine grosse Vielfalt an Systemen der Gemeindeverwaltung: Regionen und Gemeinden verfügen über unterschiedliche Mandate vonseiten der Wähler wie auch des Gesetzes für die Ausarbeitung von Politiken, die Bedarfseinschätzung bei ihren Bewohnern und die Befriedigung der festgestellten Bedürfnisse. Schliesslich sind auch die den Gemeinden zur Verfügung stehenden Mittel und die Bedürfnisse in ganz Europa sehr unterschiedlich;

9. Es ist schwierig, die Rolle der Gemeinden und Regionen für die Erbringung der Gesundheits- und der öffentlichen Dienste mit wenigen Worten zu beschreiben angesichts der vielen Spielarten und Typen von kommunalen Körperschaften sowie der administrativen und funktionalen Gemeindereformen, die gegenwärtig vielenorts in Europa stattfinden;

10. Die verschiedenen Ebenen der öffentlichen Verwaltung müssen diese Vielfalt in ihren Programmen anerkennen und berücksichtigen - es gibt kein europaweit brauchbares Einheitsmodell für die Planung, Koordination und Erbringung von Sozial- und Gesundheitsdiensten. Unterschiedliche Arten der Planung und Erbringung von Sozialdiensten in den verschiedenen Gemeinden oder Regionen nach Massgabe der lokalen Bedürfnisse und Sozialleistungssysteme sind durchaus akzeptabel;

Dezentralisierung

11. Nach Artikel 4.3 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung "(obliegt) die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben (....) im allgemeinen vorzugsweise den Behörden, die den Bürgern am nächsten sind";

12. Die Gemeinde, als die der Bevölkerung nächstgelegene Verwaltungsebene, weiss die Beziehungen zwischen Gesundheits- und öffentlichen Diensten, etwa öffentlichem Gesundheitsweisen, Erholung und Freizeit, Wohnen, Dienstleistungsangeboten für Familien und alte Menschen, richtig einzuschätzen. Da diese Dienste am Ort erbracht werden, müssen sie auch am Ort selbst konzipiert werden, um den örtlichen Bedürfnissen und den Wünschen ihrer Benützer zu entsprechen;

13. Dazu sorgt das spezielle Fachwissen und die besondere Verantwortung von Regierungsseite dafür, dass den breitgefächerten und oft widersprüchlichen Bedürfnisse in der betreffenden Gemeinschaft in koordinierter Weise entsprochen wird. Die Regierung verfügt über umfangreiche Erfahrung im Austarieren der Forderungen vonseiten oft konfligierender Interessengruppen. Sie vermag auch unterschiedliche Bestrebungen so miteinander zu kombinieren, dass die entstehenden Dienste den Bedürfnissen vor Ort wirksamer entsprechen;

14. Den Gemeinden und Regionen kommt eine Schlüsselrolle zu bei der Feststellung und Rangaufstellung, bei der Benützerbefragung, der Planung und Erstellung der Infrastrukturen und Dienste; da sie auf die Interessen ihrer Gemeinschaft ausgerichtet sind, können sie eine ganz besondere Rolle für die Förderung der Gemeinschaft sowie der öffentlichen Gesundheit spielen. Praktisch alle Aufgabenerfüllungen durch die Gemeinden oder Regionen haben einen mittelbaren oder unmittelbaren Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Ortsbevölkerung;

15. Es ist legitim, dass die Gemeinden und Regionen eine wichtige Rolle bei der Planung und Erbringung koordinierter Sozialdienste (öffentlicher und Gesundheitsdienste) am Ort als Teil ihrer Lenkung der Gemeindegeschicke beanspruchen. Neben ihrer in vielen Ländern bestehenden wichtigen Rolle in der Planung und Erbringung von Dienstleistungen sind die Gemeinden und Regionen in der Lage, das persönliche Wohlergehen, die Gesundheit und Wohlfahrt ihrer Bevölkerung umfassend zu pflegen;

16. Die Gemeinden und Regionen sollten dafür zuständig sein, das wirtschaftliche, soziale und umweltbedingte Wohlbefinden auf ihrem Gebiet zu fördern: gesundheitliche Verbesserungen erfordern ein gemeinsames Handeln über die jeweiligen Aufgabenbereiche hinweg, da ein Vorgehen gegen die Gründe der Gesundheitsschäden die gesamte Verantwortung umfasst;

17. Hierbei sollten sich die Gemeinden auf die Machtbefugnis stützen können, Massnahmen zur Förderung des Wohlbefindens der bei ihnen lebenden und arbeitenden Menschen zu ergreifen: die kommunalen Gebietskörperschaften sollten selbst über die Palette an Sozial- und Gesundheitsdiensten entscheiden können, die sie ihrer Bevölkerung anbieten;

18. Die zentralstaatliche Regierung muss bestrebt sein, die besten Bedingungen festzulegen, unter welchen die Regionen und Gemeinden die Gesundheit ihrer Bevölkerung fördern können. Sie muss einen umfassenden Rahmen entwerfen und prüfen, innerhalb dessen die Rolle der Gemeinden und Regionen bei der Planung, Überwachung und Verwirklichung der kommunalen Sozial- und Gesundheitsdienste entwickelt werden muss;

19. Die Übertragung diesbezüglicher Kompetenzen muss mit der Verpflichtung zur Einhaltung bestimmter Normen einhergehen. Die örtlich erbrachten Dienste müssen an der Elle allgemeiner Normen gemessen werden, damit sämtliche Einwohner zumindest Zugang zu Pflege in Standardqualität haben;

20. In vielen Ländern liegen die Einnahmemöglichkeiten der Gemeinden weit unterhalb dessen, was sie für ihre Sozialdienste benötigen. Daher hängen solche Gemeinden für ihre Sozialdienste grossenteils von allgemeinen oder zweckgebundenen Zuschüssen vonseiten anderer Verwaltungsebenen ab;

21. Bei der Übertragung von Aufgaben und Zuständigkeiten an Gemeinden oder Regionen muss dafür gesorgt werden, dass diese Körperschaften über die für die Bewältigung der ihnen zugewiesenen Aufgaben benötigten finanziellen und anderen Mittel verfügen;

Zusammenarbeit

22. Patienten sowie Benützer der Sozial- und Gesundheitsdienste müssen Zugang zu einem integrierten Hilfssystem haben. Dieses Ziel lässt sich mithilfe gemeinsamer Planung sowie vermehrt partnerschaftlicher Arbeit und Dienstleistung unter den nationalen oder regionalen Sozial- und Gesundheitsdiensten und den Gemeinden, beziehungsweise den Ortsbevölkerungen, sowie dem Freiwilligensektor ansteuern, damit sichergestellt wird, dass die verschiedenen Aktivitäten wirksam integriert sind und dem vermehrten Wohlbefinden der Ortsbevölkerung dienen;

23. Die zentralstaatliche Regierung muss den Gemeinden klar umrissene Machtbefugnisse einräumen, aufgrund deren sie Partnerschaftsabkommen mit anderen vor Ort aktiven, ihre eigenen Aufgaben - einschliesslich der Hebung des sozialen Wohlbefindens - synergetisch unterstützenden Institutionen, Organen oder Agenturen schliessen können. Durch solche Partnerschaften wird die Umsetzung eines planvollen, integrierten Vorgehens aufseiten aller regierungs-, nichtregierungs- und privaten Sozial- und Gesundheitsdienste anstelle eines fragmentarischen ad hoc-Handelns erreicht;

24. Eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit und Koordination muss eine klare Festlegung der Rolle und Aufgaben einer jeden Partei sowie der zwischen den Parteien bestehenden Beziehungen beinhalten; dabei muss ein einengender und reglementierender Umgang mit den kommunalen Gebietskörperschaften vermieden werden;

25. Die Kompetenz der Gemeinderäte zu partnerschaftlichem Vorgehen sollte gestärkt werden. Für Gemeinden und Regionen ist es oft notwendig, zusammenzuarbeiten, um effiziente Dienstleistungen erbringen zu können, etwa wenn die Grösse und/oder Finanzkraft einer Gebietskörperschaft bezogen auf das Mass oder die Kosten der benötigten Dienstleistungen zu klein ist;

26. Es besteht ein dringender Bedarf nach einer Stärkung des Zusammenhalts und des koordinierten Wirkens auf Gemeindeebene all derer - öffentlicher Sektor, privater Sektor, Freiwilligensektor -, deren Tätigkeit und Anstrengungen sich auf das Wohlergehen der örtlichen Bevölkerung auswirken kann;

27. Selbst in prosperierenden Gesellschaften weisen die Bedürfnisse untereinander solche Spannen und eine derartige Vielfalt auf, dass die offiziellen Dienstleistungsbehörden gezwungen sind, informelle Systeme der gegenseitigen Hilfe und sozialen Unterstützung zu nutzen und zu unterstützen, die gestützt auf persönliche Beziehungen in der Familie, der Nachbarschaft oder in einer anderen schwach strukturierten Bevölkerungsgruppierung arbeiten. Wenn es diese informellen Netze gegenseitiger Hilfe nicht gäbe, würden die offiziellen Sozialdienste unter der Nachfrage begraben;

28. Es versteht sich, dass es keine klare Grenze zwischen dem offiziellen und den inoffiziellen sozialen Diensten gibt, die beiden Quellen sozialen Wohlbefindens unterstützen einander eher, als dass sie sich ausschliessen. Die wachsende Hinwendung zu den durch die Gemeinschaft selbst erbrachten Diensten ruft nach Politiken, welche die Verbindungen zwischen den offiziellen Sozialdiensten und den informellen Netzen gegenseitiger Hilfeleistung stärken, ohne ihre Unterschiede aus dem Blick zu verlieren;

Modernisierung

29. Das Bestreben, die Standards zu verbessern, Ungleichheiten zu beseitigen und promptere Dienstleistungen anzubieten, setzt ein neues Denken über die Sozial- und Gesundheitsdienste voraus. Vor allem deren Leitung muss neu überdacht werden, damit sämtliche Stellen, wo auch immer, das leisten, was die Patienten, die Kunden und das Pflegepersonal brauchen. Die Behörden müssen den Zugang zu radikalen Verbesserungen von Qualität, Zuverlässigkeit und Rentabilität der Sozialdienste öffnen und neuen Nachdruck auf die Rehabilitation und auf die Reduktion von Abhängigkeiten legen, wo immer dies möglich ist;

30. Die Modernisierung von Sozial- und Gesundheitsdiensten erfordert eine entsprechende Einbindung des Publikums, der Patienten und Benützer in die Entscheidungsverfahren sowohl auf nationaler wie auf kommunaler Ebene;

31. Es sollten Fortschritte erzielt werden in den allen Dienstleistungsentwicklungen zugrundeliegenden Schlüsselbereichen wie: angemessene Ausstattung der Dienste mit Mitteln, Aktivierung und Beteiligung der Mitarbeiter, Nutzung moderner Informationssysteme, Entwicklung einer modernen Infrastruktur von Gebäuden und Ausstattung. Nennenswerte Fortschritte auf diesem Gebiet werden abhängig sein von einer tüchtigen lokalen Führung, erfordert die Umsetzung der genannten Strategien doch kulturelle Veränderungen und Neuerungen auf organisatorischem Gebiet;

32. Die Behörden sollten es sich angelegen werden lassen, die erbrachten Leistungen an Ergebnissen zu messen, die zählen. Dabei sollten vor allem folgende Dimensionen geprüft werden: Verbesserung der Gesundheit, gleicher Zugang für alle, wirksame Erbringung angemessener Gesundheitsdienste, Effizienz, das Erleben der geleisteten Dienste aufseiten der Patienten/Benützer, gesundheitlicher Erfolg der Dienstleistungen. Solche Indikatoren könnten das diagnostische Instrumentarium für vergleichende Untersuchungen und den Austausch guter Praxis im Sinne einer Verbesserung der örtlichen Leistungen liefern. Als Gruppe berücksichtigt, ermöglichen sie die Beurteilung, Überprüfung und Verbesserung der örtlichen Dienste;

33. Modernisierungen sollten untermauert werden durch substanzielle zusätzliche Mittel nicht nur in Form von Gebäuden und Ausstattung, sondern auch Mitteln für Arbeitskräfte in den Sozial- und Gesundheitsdiensten, sind diese doch der Schlüssel zur Umsetzung jedes Modernisierungsprogramms. Der von ihnen für die Planung und Erbringung der Gesundheits- und Sozialdienste geleistete Beitrag muss anerkannt werden;

34. Das in den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien steckende Potential sollte nicht nur zur Erbringung möglichst wirksamer Dienste, sondern zugleich im Sinne grösstmöglicher Bequemlichkeit und öffentlicher Zufriedenheit genutzt werden;

35. Die Modernisierung der Einrichtungen, Ausstattungen und Systeme kann über höhere öffentliche Investitionen, durch verbesserte Betriebsführung der öffentlichen Dienste sowie durch die Entwicklung von Partnerschaften zwischen öffentlichem und privatem Sektor erreicht werden. Eine häufigere Beiziehung von privaten Dienstleistungsunternehmen kann die Erbringung der Sozialdienste möglicherweise von den Vorzügen der Konkurrenz und Flexibilität profitieren lassen. Zu diesen Vorzügen gehören eine verbesserte Leistung, vermehrte Beachtung der Kundenbedürfnisse sowie die Anregung von Innovationen. Andererseits bringt eine Privatisierung auch Risiken mit sich und erfordert sorgfältiges Management aufseiten der Behörden, vor allem hinsichtlich einer klaren Festlegung der Leistungskriterien und der Verantwortungen.

1 Diskussion und Annahme durch den Ständigen Ausschuss des Kongresses am 2. März 2000 (siehe Dok. CG (6) 19, Entschliessungsentwurf, vorgelegt durch Herrn M. Andersson, Berichterstatter).