Empfehlung 107 (2002)1 betreffend die Problematik des ländlichen Raums in Europa

Der Kongress

Erinnert an folgendes:

1. Ländlicher Raum bedeckt 85% des Erdbodens von Europa und beherbergt mehr als die Hälfte der Bewohner des europäischen Kontinents. Er liefert Europa den grössten Teil seiner Nahrungsmittel und einen guten Teil seines Nutzholzes, seiner Mineralien und seiner übrigen Rohstoffe. Und dieser Ort des Friedens, der Schönheit und der Erholung für alle Europäer ist zugleich eine reichhaltige Reserve freilebender Tiere und menschlicher Kultur;

2. Die ländlichen Gebiete zeichnen sich durch ein einzigartiges kulturelles, wirtschaftliches und soziales Gewebe sowie eine ausserordentliche Vielfalt sehr unterschiedlicher Landschaften (Wälder und landwirtschaftliches Gebiet, unberührte Naturschönheiten, Dörfer und Städtchen, regionale Zentren und kleine Industrien) aus;

3. Die Landwirtschaft bildete seit je die Grundlage der meisten ländlichen Wirtschaften: sie hat die Lebensweise und die Kulturlandschaft des grössten Teils des europäischen ländlichen Territoriums geprägt;

4. Die Politiken der Europäischen Union in den Bereichen Landwirtschaft, Struktur, Verkehr, Umwelt und Naturschutz wirken sich in erheblichem Ausmass auf den ländlichen Raum der Mitgliedstaaten und in zunehmenden Masse auch auf denjenigen der Anwärterstaaten aus;

In der Erwägung, dass:

5. Der ländliche Raum in Europa und die darin lebenden Bevölkerungen mächtigen Kräften des Wandels unterworfen sind:

a. fortgesetzte Entvölkerung in vielen randständigen, abgelegenen und dünn bevölkerten Gegenden Westeuropas sowie generell in den ländlichen Siedlungen des grössten Teils von Osteuropa. Niedergang der ländlichen Wirtschaftsformen und Verschwinden der ländlichen Dienstleistungen in vielen dieser Gegenden,

b. in den zentralen Regionen die rasche Ausbreitung der Städte, die Verlagerung der Bevölkerungen und der industriellen Tätigkeiten nach ausserhalb sowie die massive Zunahme der gebauten Masse. Oft geschieht dies alles mit einer Geschwindigkeit, die die ländlichen Gemeinschaften nicht verarbeiten können und in einem Ausmass an Überbauung und in einem Erschliessungsstil, die die ländliche Wesensart und Kultur unter sich begraben,

c. die Modernisierung der Landwirtschaft, die Europa mit der Produktion reichlicher und verhältnismässig billiger Nahrungsmittel grossen Nutzen gebracht hat, dies aber auf Kosten grosräumiger Veränderungen der Landschaft, des Verlustes an freilebenden Tieren und Pflanzen, des Verlustes an bäuerlichen Arbeitsmöglichkeiten und auf Kosten gebietsweise aufgegebener Landstriche,

d. Verschmutzung der Böden, der Gewässer, der Luft und Verwüstung zahlreicher Ländereien und Wälder durch die Ansiedelung von Industrie oder andere Erschliessungen und den unbedachten Umgang mit Böden,

e. der zunehmende und gleichsam generalisierte Verschleiss der Landschaft und ihres kulturellen Wertes unter der Einwirkung einer unvernünftigen Entwicklung von Freizeitaktivitäten und Tourismus. Touristen und touristische Einrichtungen in überbordender Zahl begraben im wörtlichen Sinne kleine Dörfer und Städtchen unter sich. Touristische Einrichtungen können durch ihren Umfang und Stil den Landschaften und Ökosystemen schweren Schaden zufügen,

f. die allgemeine Tendenz zur Zentralisierung von Handel, Industrie und Verwaltung sowie zur Standardisierung der Kultur. Diese Entwicklungen haben viel dazu beigetragen, die Vielfalt der regionalen Kulturen des ländlichen Europa ebenso einzuengen wie die den Bewohnern offenstehenden Möglichkeiten, ihren eigenen Lebensstil zu bestimmen oder doch zu beeinflussen;

6. Die Auswirkungen dieser Veränderungen unterscheiden sich stark von einer ländlichen Region zur anderen, ihre Folgen sind jedoch unter anderem die folgenden:

a. Schwäche und Variantenarmut des örtlichen Wirtschaftslebens mit der Folge schwacher Einkommen und niedriger Lebensstandards: viele ländliche Gebiete zeichnen sich durch verbreitete Armut aus,

b. Unzulänglichkeit zahlreicher Wohnverhältnisse wie und der öffentlichen Dienste auf dem Lande,

c. Schwinden der sozialen und kulturellen Vitalität in vielen Regionen,

d. Verderb der Landschaft, der wildlebenden Pflanzen- und Tierwelt sowie der Gesundheit von Böden und Wassersystemen,

e. Verlust baulicher Reichtümer, Niedergang spezifischer Kulturen von Regionen und Gemeinden,

f. Minderung der Fähigkeit der Ortsbevölkerungen, ihren eigenen Idealen Ausdruck zu verleihen, Einfluss auf die sie selbst betreffenden Politiken auszuüben und Initiativen zu ergreifen;

Überzeugt davon:

7. Dass eine gebündelte Anstrengung vonnöten ist, um das ländliche Wirtschaftsleben in Europa mit neuer Lebenskraft zu erfüllen und zu stärken;

8. Dass es sich empfiehlt, ländliche Entwicklungsprogramme zu konzipieren und umzusetzen, welche die grosse Verschiedenartigkeit der die ländlichen Regionen Europas quälenden Sorgen berücksichtigen und so die einzelnen Landbevölkerungen sensibilisieren, ihre Energien wecken und die Interessen und Bedürfnisse von Frauen und Männern auf dem Lande als gleichwertig anerkennen;

Empfiehlt den Regierungen der Mitgliedstaaten:

9. Die Vielfalt der Regionen, die je besonderen Eigenschaften der ländlichen Gebiete und die Bedürfnisse der ländlicher Gemeinschaften anzuerkennen;

10. Diese Eigenschaften und Bedürfnisse in ihre Politiken in den Bereichen Land- und Forstwirtschaft, industrielle Entwicklung, Tourismus, Verkehr, Wohnung, Dienstleistungen und Umwelt zu übersetzen;

11. Dynamisch und in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit sämtlichen Sektoren eigene Entwicklungsstrategien für ihre ländlichen Gebiete auszuarbeiten. Ein breiter Fächer von Politiken und Aktionen ruft nach der Beteiligung zahlreicher Regierungs- und Nichtregierungsstellen auf örtlicher, regionaler, nationaler und internationaler Ebene;

12. Das Subsidiaritätsprinzip auf die ländliche Entwicklungspolitik anzuwenden, indem sie diese so dezentral wie möglich und auf der Partnerschaft und Zusammenarbeit aller betroffenen Ebenen aufruhend konzipieren. Das Gewicht muss auf Partizipation und eine von der Basis ausgehende Dynamik gelegt werden, welche die Kreativität und Solidarität ländlicher Gemeinschaften zu nutzen versteht;

13. Die wesentliche Rolle demokratisch gewählter, auf dem Lande verwurzelter Gemeinde- und Regionalregierungen anzuerkennen. Die ländliche Entwicklung muss vom Ort ausgehen und innerhalb eines kohärenten europäischen Rahmens durch die einzelnen Gebietskörperschaften selbst vorangebracht werden;

14. Die Rolle der Kleinstädte als integrierender Bestandteile ländlicher Gegenden und Schlüsselfaktoren der Entwicklung zu stärken und die Entwicklung lebenskräftiger ländlicher Gemeinschaften sowie die Erneuerung der Dörfer zu fördern;

15. Die zentrale Rolle zu bestätigen, welche die Landbevölkerung selbst zugunsten ihres eigenen Wohlbefindens und der Erhaltung ihres Erbes bei der Entwicklung von Politiken und bei deren Durchführung spielen sollten;

16. Mittel herauszufinden, wie die Landgemeinden ihre Bedürfnisse und Wünsche zum Ausdruck bringen und ihre eigenen Energien für deren Befriedigung einsetzen können. Zwischen den Regierungen und den ländlichen Gemeinwesen müssen echte Beziehungen geschaffen werden, damit die (staatlichen und lokalen, öffentlichen und privaten) Mittel zweckgemäss eingesetzt werden können;

17. Mit Entschlossenheit an die Wiederankurbelung und Stärkung der Wirtschaft in den ländlichen Gebieten Europas heranzugehen und ihr einen grösseren Anteil am Mehrwert aus Lebensmitteln, Holz und ihren übrigen Produkten zu überlassen;

18. Eine Diversifizierung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten herbeizuführen durch die gezielte Bemühung, eine Rahmenstruktur für selbständige private Initiativen und für von den Gemeinwesen ausgehende Initiativen in Form von Investitionen, technischer Hilfe, Dienstleistungen für Unternehmen, Bildung und Ausbildung bereitzustellen;

19. Die Anstrengungen zur Unterstützung der Landwirtschaft im gesamten ländlichen Europa zu intensivieren. Dies ist nicht nur zur Sicherung der Nahrungsproduktion für Europa, sondern auch als Beitrag zur Aufrechterhaltung der Lebensformen, der ländlichen Wirtschaft und der Landschaften aller Regionen notwendig;

20. Ein an sich kräftiges industrielles Element der ländlichen Wirtschaft neu zu beleben durch den Einsatz moderner Informationstechnologien, welche die herkömmlichen Nachteile der Ländlichkeit wie Distanzen und schwache Bevölkerungsdichte wettmachen und sich mit dem traditionellen ländlichen Erbe an Ressourcen, Kultur und Fähigkeiten verbinden lassen;

21. Eine moderne Infrastruktur von Strasse, Schiene, Zufuhr von Energie und Wasser, Abwassaufbereitung und Telekommunikation in den ländlichen Gebieten aufzubauen. Ob neu oder modernisiert: die Einrichtungen müssen annehmbaren Standards entsprechen, ohne dabei der ländlichen Umwelt Gewalt anzutun;

22. Die Transportpolitiken - als ein für die Aufrechterhaltung gesunder ländlicher Gemeinwesen unverzichtbares Element - zu überprüfen. Nötig sind:

a. Mindeststandards für örtliche Dienste (z.B. Geschäfte, Schulen), sodass kurze Entfernungen die Lebensfähigkeit der Gemeinwesen abstützen,

b. eine Revision der durch externe Finanzierungsstellen auferlegten Forderungen betreffend die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Verkehrs, da solche Forderungen besonders den ländlichen Verkehrsbetrieben sehr schaden können,

c. die Aufrechterhaltung der Verpflichtung zu öffentlicher Dienstleistung statt einer Evaluation der öffentlichen Verkehrsdienste einzig nach wirtschaftlichen/finanziellen Kriterien,

d. minimale Dienstsleistungstandards für privatisierte/liberalisierte Transportsysteme;

23. In den nächsten Jahren eine in ökologischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht nachhaltige Entwicklung zu fördern, die zu lebensfähigen ländlichen Gemeinwesen mit diversifiziertem, dabei die Umwelt respektierendem Wirtschaftsleben führt;

24. Das reiche Erbe der europäischen ländlichen Umwelt mit seinen Landschaften, historischen Bauten und an ihren Standorten wildlebenden Lebewesen anzuerkennen und zu schützen. Dieses Erbe muss als ein kostbarer Entwicklungsfaktor angesehen werden, etwa für einen ländlichen Tourismus, den es vom Standpunkt der Nachhaltigkeit her zu fördern gilt;

25. Vermehrt Gewicht auf die Sensibilisierung für eine nachhaltige Entwicklung und auf die dieser dienende Information und Erziehung legen;

Fordert die Europäische Union auf,

26. Die nachhaltige ländliche Entwicklung unter ihre ersten Prioritäten aufzunehmen und sie zum Grundprinzip einer echten, differenzierten und die PAC ergänzenden europäischen Landpolitik zu machen, um eine bessere territoriale Kohäsion innerhalb der Europäischen Union zu sichern und deren Erweiterung erfolgreich zu gestalten;

27. Die Notwendigkeit, die Qualität der ländlichen Umwelt zu erhalten bzw. zu verbessern, in alle Gemeinschaftspolitiken mit Bezug zur ländlichen Entwicklung einzuarbeiten;

28. Es sich angelegen sein zu lassen, die Tendenz zur Abwanderung aus den ländlichen Gebieten umzukehren, die Armut zu bekämpfen, die Beschäftigung und Chancengleichheit zu fördern, den wachsenden Erwartungen hinsichtlich Lebensqualität, Gesundheit, Sicherheit, persönlicher Entfaltung und Freizeitgestaltung nachzukommen, um so das Wohlbefinden auf dem Lande zu verbessern;

29. Die gemeinsame Agrarpolitik so zu erneuern, dass durch sie ein Beitrag an eine nachhaltige ländliche Entwicklung auf der Ebene der Umwelt sowie in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht geleistet wird. Mit diesem Ziel einer nachhaltigen landwirtschaftlichen sowie ländlichen Entwicklung sollte die PAC:

a. die Bewirtschaftung der ländlichen Gegenden im Interesse der Bevölkerungen und der Natur aufrechterhalten, um eine regelmässige Versorgung mit gesunden, qualitativ hochwertigen Nahrungsmitteln und anderen konsumentenorientierten Produkten sicherzustellen,

b. zur Festlegung gerechter, die externen Kosten integrierender Lebensmittelpreise beitragen,

c. den ländlichen Gemeinden ein vernünftiges Einkommen sichern und der Preisgabe von Böden vorbeugen,

d. die Beschäftigungslage unterstützen und so zur Wirtschaft und Kultur der ländlichen Gebiete beitragen,

e. den Landwirten im Anpassungsprozess Hilfe leisten und ihnen klare Zukunftsvisionen vermitteln,

f. einer nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen einschliesslich Boden, Wasser, Luft und Energie Vorschub leisten,

g. Handelsgerechtigkeit für Agrarprodukte fördern,

h. durch das Medium des Handels auch weltweit der Achtung einer dauerhaften Umwelt Nachachtung verschaffen,

i. in Synergie mit anderen Politiken an der Verwirklichung qualitativ hoher Ziele für die ländlichen Gebiete Europas arbeiten;

30. Dafür zu sorgen, dass alle Gemeinschaftspolitiken mit Bezug zur ländlichen Entwicklung zur Qualität und Annehmlichkeit der europäischen Landschaften (natürliche Ressourcen, Biodiversität sowie kulturelle Identität) beitragen, damit deren Nutzung durch uns Heutige die den kommenden Generationen offenstehenden Möglichkeiten nicht beeinträchtigen.

1 Diskussion und Annahme durch den Ständigen Ausschuss des Kongresses am 21. März 2002 (s. Doc. CG(8)28, durch die Herren G. Pumberger und E. Tobler, Berichterstatter, vorgelegter Empfehlungsentwurf).