Entschliessung 1281 betreffend die Problematik des ländlichen Raums in Europa
Der Kongress,
Gestützt auf:
1. Den durch die Herren Berichterstatter N. Pumberger (Österreich, G) und M. Tobler (Schweiz, G)im Namen des Ausschusses für nachhaltige Entwicklung vorgelegten Bericht über die Problematik des ländlichen Raums in Europa;
2. Die durch die Zwölfte europäische Konferenz der Raumordnungsminister angenommenen "Leitprinzipien für eine nachhaltige Gebietsentwicklung des europäischen Kontinents";
3. Die im November 2000 in Florenz zur Unterzeichnung aufgelegte Europäische Landschaftskonvention;
4. Den im Januar 2001 durch die internationalen NGOs, welche Mitglieder des Europäischen Zentrums für Land und Umwelt sind, angenommenen "Antrag betreffend die Aktivitäten des Europarats für eine nachhaltige Entwicklung";
5. Die Empfehlung 1296 (1996) der Parlamentarischen Versammlung betreffend eine Europäische Charta für den ländlichen Raum;
6. Die Entschliessung 1265 (2001) der Parlamentarischen Versammlung betreffend die Rolle der interregionalen Zusammenarbeit für die landwirtschaftliche und ländliche Entwicklung;
7. Die früheren Entschliessungen des KGRE betreffend die Probleme einer nachhaltigen Entwicklung des ländlichen Raums, insbesondere:
a. die Entschliessung 210 (1990) betreffend die Wiederbelebung des ländlichen Raums: das Vorgehen der Gebietskörperschaften,
b. die Entschliessung 211 (1990) betreffend die regionalen Auswirkungen der gemeinschaftlichen Agrarpolitik;
8. Die Schlussfolgerungen und Erklärungen der durch den Europarat auf Initiative der Ständigen Konferenz der Gemeinden und Regionen Europas organisierten Europäischen Kampagne für die ländliche Welt;
Bedenkt:
9. Der ländliche Raum Europas und seine Bewohner stellen für die gesamte europäische Bevölkerung ein äusserst hochbewertetes, vielfältiges Gut dar: Europa ist zum grössten Teil bedeckt von Agrarland und von Wäldern, die das Gesicht der europäischen Landschaft prägen;
10. Diese grosse Vielfalt der Natur und der menschlichen Kultur bereichert die Lebensqualität aller Europäer, und es gilt, dies als unser Erbe zu verstehen, das wir schützen und ins rechte Licht setzen müssen;
11. In vielen europäischen Regionen leidet das ländliche Erbe zur Zeit unter dem Verfall, ja, der Zerstörung durch soziale und technologische Umbrüche, durch moderne Agrarmethoden, durch Verstädterung, menschliche Nachlässigkeit und noch weitere Faktoren;
12. Die Wirtschaft vieler Landstriche ist geschrumpft und geschwächt und hängt heute zu stark von Beschlüssen ab, die in entfernten Städten getroffen werden;
13. Obschon ihre Rolle in vielen Teilen Europas (besonders im Westen) abnimmt, ist und bleibt die Landwirtschaft ein wesentlicher Berührungspunkt zwischen Bevölkerung und ländlichem Raum, daher tragen die Landwirte mit der Bewirtschaftung zahlreicher natürlicher Ressourcen des ländlichen Europa eine Verpflichtung;
14. In vielen ländlichen Gegenden haben die Bevölkerungsabnahme und eine gewisse Isolierung die Lebenskraft der Gemeinwesen reduziert und die Landbewohner dazu verleitet, ihre eigenen Fähigkeiten wie auch ihre natürlichen Ressourcen und überkommenen Kulturen zu unterschätzen;
15. Ein wesentliches Element der Lebensqualität auf dem Lande liegt in der Qualität und Erreichbbarkeit von Dienstleistungen wie Geschäften, Postbüros, Banken, Spitälern, Arztpraxen, Schulen, öffentlichen Verkehrsmitteln... In den letzten dreissig Jahren sind viele derartige Einrichtungen aus Dörfern und Kleinstädten verschwunden;
Überzeugt von folgendem:
16. Die kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften müssen eine wesentliche Rolle spielen bei der Ausarbeitung von Politiken betreffend ihr eigenes Gebiet hinsichtlich der Mobilisierung finanzieller und anderer Mittel zur Erfüllung der ländlichen Bedürfnisse, der Sensibilisierung der Landbevölkerung für ihre eigene Partizipation und der Sicherstellung aller notwendigen Massnahmen;
Fordert die kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften im ländlichen Raum Europas auf:
17. Die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren, wie wichtig es ist, der ländlichen Raumordnungspolitik neue Impulse zu geben, damit die Landgebiete für diejenigen, die in ihnen leben und arbeiten, anziehender und zu Orten werden, wo sich ganz unterschiedliche Menschen in allen Lebensaltern entfalten können;
18. In Partnerschaft mit anderen betroffenen Akteuren eine Strategie des ländlichen Raums für ihre Region auszuarbeiten, vor allem auch unter Einbeziehung und in Absprache mit der Ortsbevölkerung, die oft viel besser weiss, welche Lösungen für ihre Gegend angemessen und dauerhaft sind;
19. Für den Schutz des örtlichen Erbes an die Kenntnisse, die Begeisterung und die aktive Partizipation der Bevölkerung, besonders der Ortseinwohner, zu appellieren; die Arbeit der vielen öffentlichen, aber auch der freiwilligen Organe zu unterstützen, die bemüht sind, dieses Erbe dem Publikum nahe zu bringen;
20. Den Tätigkeiten der freiwilligen, privaten und ehrenamtlichen Gruppen in den ländlichen Gebietskörperschaften grosse Bedeutung beizumessen. Es handelt sich dabei, neben vielen anderen Organen, vor allem um Genossenschaften, Stiftungen, Klubs, Interessengemeinschaften, Vereine, Frauenorganisationen, Berufsgruppen und Jugendgruppen. Ihre besondere Kraft liegt in ihrer genauen Kenntnis der örtlichen Probleme, ihrem Einsatz sowie in der Tatsache, dass sie direkt, ohne Mittelspersonen, handeln;
21. Mithilfe eines Angebots an Animationen sowie Bildungs- und Fortbildungsmöglichkeiten die Landbevölkerung dazu zu ermutigen, die Probleme des ländlichen Raums zu verstehen und sich mit ihnen zu befassen. So ist es beispielsweise sehr wichtig, dass die Kinder die charakteristischen wildwachsenden Pflanzen und Tiere ihrer Gegend sowie die Geschichte und die aktuellen Lebensbedingungen ihres Dorfes, ihrer Kleinstadt oder ihrer Region kennenlernen. Und ebenso wichtig ist es, den Stadtbewohnern beizubringen, wie es ist, auf dem Lande mit einem ländlichen Erbe zu leben;
22. Die Nutzung oder die kluge Umwidmung von Häusern, Kirchen oder traditionellen Gehöften weiterhin zu fördern. Der Schutz und die Präsentation von Elementen des Erbes sollten vorzugsweise an ihrem Ursprungsort erfolgen, sodass das Publikum einen realitätsadäquaten Eindruck von ihrer Herkunft, ihrem Kontext und der sie umgebenden Landschaft bekommt;
23. Wohnungs- und Raumordnungspolitiken umzusetzen, die ein angemessenes Wohnungsangebot ermöglichen und fördern, indem sowohl alte Bauten wie auch neue Gebäude genutzt werden. Im ländlichen Raum muss es das Ziel einer solchen Politik sein, bei aller Bewahrung der örtlichen Bautraditionen doch auch modernen Bedürfnissen so gut wie möglich nachzukommen;
24. Die Landwirte als die Verwalter unseres Erbes zu betrachten und sie für diese Rolle zu belohnen. Ihre Bemühungen um den Schutz und die Aufwertung der besonderen landschaftlichen Merkmale, der wildlebenden Tiere und Pflanzen oder der Landwirtschaft ihrer Region zu unterstützen und den öffentlichen Zugang zu ihren Territorien zu gestatten;
25. Die Erhaltung der herkömmlichen landwirtschaftlichen Methoden zu unterstützen, haben diese doch die heutigen Kulturlandschaften geformt und sind daher, z.B.durch den Unterhalt von Terrassen, Hecken, Trockenmauern usw., die beste Garantie für deren Fortbestehen in der Zukunft;
26. Die Landwirte und übrigen Landbewohner zur Schaffung zusätzlicher Einkommen dank einem vor Ort zu schaffenden Mehrwert auf Produkte ihrer Höfe - die Produktion von Käse aus der Milch, von traditionellen Wurstwaren aus dem Fleisch, von Fruchtkonserven oder von Stoffen aus der Wolle - sowie, wo möglich, zum Verkauf dieser Produkte in der Region selbst an Touristen oder an Stadtbewohner anzuregen;
27. Die Landwirte, besonders jene, deren kleine Betriebe sie nicht voll ernähren, zur Diversifizierung ihrer Einkommen dank einer ihrem Hof oder dessen Produkten verbundenen Zweittätigkeit anzuregen. Es kann sich um "non-food"-Gewächse, um Forsttätigkeiten oder -produkte, um Agrartourismus, landwirtschaftliche Werkverträge o.ä. oder auch um andere Teilzeitarbeiten im Rahmen des örtlichen Wirtschaftslebens handeln;
28. In den ländlichen Gebieten eine Wiederbelebung und eine neue Blüte von Manufakturen, Kunsthandwerk und Dienstleistungen herbeizuführen. Es gilt, die Schaffung von Mehrwert auf örtliche Primärprodukte, die Nutzung der traditionellen Techniken und Produkte jeder Region und die Kontrolle lokaler Privatunternehmen und Genossenschaften zu fördern, statt von örtlichen Tochterbetrieben weit entfernter Unternehmen abzuhängen; dabei muss jede Region nach Massgabe des örtlichen Erbes, der ortsnahen Produkte, Märkte und Möglichkeiten eigene, gut umrissene Lösungen finden;
29. Sich zur Unterstützung der Neubelebung von Wirtschaft und Dienstleistungen auf dem Lande der modernen Möglichkeiten der Telekommunikation zu bedienen. Diese erleichtern eine dezentrale Wirtschaftstätigkeit und setzen die Nachteile der Ländlichkeit, nämlich Distanzen und Verstreutheit der Bevölkerung, ausser kraft. Sie können kleinen und mittleren ländlichen Unternehmen den Zugang zu entfernten Märkten, Lieferanten und Mitarbeitern verschaffen und damit ihre Rentabilität verbessern. Sie können den Menschen Erziehungs- und Bildungsmöglichkeiten dorthin bringen, wo sie leben;
30. Ein Entwicklungsprogramm für einen mit der Ortsbevölkerung vereinbaren Lokaltourismus zu entwickeln. Das erfordert die Ausarbeitung von Projekten, die unmittelbar auf den Ressourcen der Region und den örtlichen Unternehmen fussen. Dabei muss vor allem auf die Qualität der neuen Projekte und darauf geachtet werden, dass sie dem örtlichen Gemeinwesen zu finanziellem Gewinn verhelfen. Das Programm muss überdies den Umfang der touristischen Aktivitäten kontrollieren, indem es deren übermässiges Anwachsen oder einen übertrieben starken Verkehr verhindert;
31. Den Einsatz der örtlichen Finanzmittel zur Förderung örtlicher Raumordnungsprojekte für den ländlichen Raum zu unterstützen. Finanzspezialisten für Kredittechniken zugunsten des ländlichen Raums zu beschäftigen, um die Synergien zwischen öffentlichen und privaten Finanzierungen besser zu nutzen, um die auf den kleinen und mittleren Unternehmen lastenden finanziellen Zwänge zu reduzieren, produktive Investitionen zu fördern und die ländliche Wirtschaft zu diversifizieren;
32. Dem Niedergang der Dienste auf dem Lande Einhalt zu gebieten und ihn zu korrigieren: die Erbringer von Dienstleistungen müssen einsehen, welchen Schaden sie auf dem Lande - vor allem bei alten Menschen, Kindern und Personen ohne Fahrzeug - anrichten, wenn sie ihre Dienste abschaffen. Diese Dienstleistungen müssen aufrechterhalten werden, etwa durch den Einsatz multifunktioneller Agenturen oder durch den Übergang zu mobilen Diensten oder zu Diensten auf Distanz via Internet oder durch die Ermutigung zur Nachbarschaftshilfe innerhalb der Dorfgemeinschaften;
33. Das Wohlbefinden und die Lebenskraft der ländlichen Gemeinwesen sozial und kulturell zu unterstützen durch Förderung von Festen und Bräuchen sowie der Sprachen und Kulturen auch von Minderheiten, die für die Bevölkerungen von hoher Bedeutung sind und ihrerseits zum kulturellen Reichtum Europas beitragen;
34. In verstreut besiedelten ländlichen Gegenden für gute Zugänglichkeit von Bildung und Ausbildung zu sorgen. Mit allen nur erdenklichen Mitteln den Aufbau örtlicher Kapazitäten für eine nachhaltige Entwicklung im ländlichen Raum zu betreiben und vor allem gut im Weltmarkt liegende Initiativen von privater oder Verbandsseite zu fördern;
35. Der Landbevölkerung gesunde, hochwertige und mit modernem Komfort versehene Wohnungen bereitzustellen. Dabei muss die Verbesserung der Wohnsituation jener Menschen Vorrang haben, die in einkommensschwachen ländlichen Gebieten verwurzelt sind oder dort arbeiten;
36. Die Verwaltungskraft und Effizienz der Regierungen von Gemeinden und Regionen sowie von deren Verbänden durch technische Hilfe, Ausbildung, bessere Kommunkationsmittel, Partnerschaften und gemeinsame Untersuchungen, durch Information und Erfahrungsaustausch mithilfe des Aufbaus von europaweiten Netzen zwischen den Regionen bzw. zwischen den ländlichen Gemeinden zu steigern;
37. Sich einzusetzen für die Einrichtung eines Systems der interkommunalen Zusammenarbeit auf nationaler Ebene, durch welches die örtlichen Bedürfnisse jeder kleinen Stadt oder Gebietskörperschaft sowohl bekanntgegeben als auch befriedigt werden können; ausserdem kleinere Kreise der Zusammenarbeit zwischen mehreren Städten und Dörfern einer Region aufzubauen, um Probleme auf aggregierterer Ebene anzugehen;
38. Sich im internationalen Kontext aktiv an der Förderung einer nachhaltigen Entwicklung im ländlichen Raum zu beteiligen.
1 Diskussion und Annahme durch den Ständigen Ausschuss des Kongresses am 21. März 2002 (s. Doc.CG(8)28, durch die Herren G. Pumberger und E. Tobler, Berichterstatter, vorgelegter Entschliessungsentwurf).