Empfehlung 10 (1995)1 betreffend die Lokaldemokratie: ein Bürgerschaftliches vorhaben

Der Kongress

Hat zur Kenntnis genommen

1. Die Erklärung und den Aktionsplan betreffend die Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Intoleranz, welche die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten des Europarats am 9. Oktober 1993 in Wien verabschiedet haben;

2. die Erklärungen aus verschiedenen internationalen Zusammenkünften der letzten Zeit, insbesondere:

─ vom Weltgipfeltreffen für soziale Entwicklung, organisiert von den Vereinten Nationen (Kopenhagen, 11.-12. März 1995),

─ von der Verabschiedung des «Pakts für die Stabilität in Europa» (Paris, 20. und 21. März 1995);

3. alle Aktivitäten des Europarats auf dem Gebiet der Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Intoleranz, insbesondere:

─ die Arbeiten der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz,

─ die im Rahmen der Europäischen Jugendkampagne betriebenen Aktivitäten;

4. die Ergebnisse der durch den KGRE in Strassburg durchgeführten Anhörung über «Lokaldemokratie, Bürgerschaft und Toleranz» sowie den Bericht von Herrn DUVALL, vor allem dessen Konklusionen;

Stellt fest:

1. die Fortdauer von zahlreichen und beunruhigenden Erscheinungen des Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit, des Antisemitismus und der Intoleranz europaweit, die oft in kriminelle, blutige Gewalt ausmünden; Konfliktherde und barbarische Zerstörungen vervielfachen sich im Europa der 34 und an dessen Grenzen (ethnische Säuberung, Vergewaltigung und Mord im ehemaligen Jugoslawien, Krieg in Tschetschenien, brutale Unterdrückung in der Türkei, mörderischer Terrorismus in Algerien);

2. eine besorgniserregende Stagnation der europäischen Initiativen auf interner wie auf externer Ebene sowie einen Kraftverlust des europäischen Gedankens, der einhergeht mit passiven Einstellungen oder enttäuschten Erwartungen in fast allen europäischen Ländern, wodurch ein Nährboden für extreme nationalistische Bewegungen zu entstehen droht;

3. eine anhaltende wirtschaftliche und soziale Krise, die die Produktionsstrukturen der europäischen Länder schwächt, Verunsicherungs- und Verarmungsprozesse bei weiten Teilen der Bevölkerung auslöst und wachsende Gruppen von Jugendlichen zu einer aussichtslosen Zukunft verurteilt;

Findet,

1. dass diese Entwicklung gefährlich ist für die Stabilität unserer demokratischen Institutionen und droht, zu breiteren und tieferen Zerstörungen zu führen;

2. dass man sich deshalb diesem Abdriften entschlossen entgegenstellen muss,

─ indem man jede rassistische, fremdenfeindliche oder antisemitische Gewalt öffentlich und deutlich verurteilt;

─ indem man die Schuldigen exemplarisch bestraft;

─ indem man Hass und Gewalt durch angemessene Verhütungsmassnahmen an der Wurzel angeht;

3. dass die europäische Dynamik dringend wiederhergestellt werden muss, indem man die verantwortlichen Bürger und vor allem die Jugend um ein in einer Erneuerung der Demokratie verankertes, bürgerschaftliches europäisches Projekt mobilisiert;

Erklärt,

1. dass ein solches Vorhaben niemals auf Macht gegründet sein kann, wie sich dies vor kurzem im Zusammenbruch des kommunistischen Bolschewismus und des ihm vorausgegangenen Fall des Nationalsozialismus wieder gezeigt hat. Die konstituierenden Faktoren der Besonderheit Europas sind Toleranz, Respekt vor dem Nächsten und Freundschaft, und der Weg von Europa zur übrigen Welt ist derjenige der offenen Solidarität. Der neu zu erobernde Stolz beruht ein für allemal auf den Werten, deren Hüter der Europarat sein will: Freiheit und Gerechtigkeit;

2. Das kollektive Projekt Europa muss in der Erkenntnis wurzeln, dass sein eigentlicher Reichtum in seiner grossen Mannigfaltigkeit besteht, denn nur aus dieser Vielfalt kann das Neue entstehen, das Europa politisch, wirtschaftlich und sozial legitimiert;

3. Die Einheit Europas ist enger, wenn sie sich in Formen und Strukturen der gegenseitigen Ergänzung und Zusammenarbeit äussert, worin die Vielfalt zum menschlichen und bürgerlichen Wettstreit wird, statt zum simplen wirtschaftlichen und technischen Wettbewerb;

4. Nur eine solche Einheit wird in der Lage sein, eine neue Bindung zwischen den Völkern und vor allem eine europäische Bürgerschaft entstehen zu lassen, die sich immer mehr von Staatszugehörigkeiten freimacht;

5. Das Europa der 15 kann nicht losgelöst vom erweiterten Europa gesehen werden, weshalb ein Zugehen auf Europa offen und deutlich sein und die Entfaltung einer bürgerlichen Gesellschaft im Blick haben muss, die den demokratischen Grundsätzen wie auch der Unterschiedlichkeit und Vielfalt mehr Respekt entgegenbringt;

6. Das Projekt einer Erweiterung Europas muss einhergehen mit einer tiefgreifenden und verantwortungsbewussten Revision der Arbeitsmethoden der verschiedenen europäischen Organisationen, vor allem der Europäischen Union und des Europarats;

und

Empfiehlt

I. den Regierungen der Mitgliedstaaten des Europarats:

1. ihren gemeinsamen Kampf gegen Rassismus und bewaffnete Konflikte im erweiterten Europa, an dessen Grenzen und in der ganzen Welt zu intensivieren;

2. anzuerkennen, dass der Europarat die unumgängliche Trägerstruktur für ein auf die Achtung der Menschenrechte, den Rechtsstaat und die Demokratie festgelegtes Zivilisationsvorhaben bietet und ihm die seinen Aufgaben entsprechenden institutionellen und administrativen Mittel an die Hand zu geben;

3. öffentlich und unmissverständlich jede Form von rassistischer, fremdenfeindlicher oder antisemitischer Gewalt zu verurteilen, es sich angelegen sein zu lassen, solche Vorgänge restlos aufzuklären, die Schuldigen mit Entschiedenheit zu verfolgen und sie nicht nur exemplarisch zu bestrafen, sondern auch für eine gesetzgeberische Grundlage und angemessene finanzielle Mittel zu sorgen ─ vor allem auch zuhanden der Lokalbehörden, die beim Kampf gegen diese Erscheinungen in vorderster Front stehen;

II. den Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union:

1. unverzüglich diese Anerkennung zu leisten, indem sie als Europäische Union der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie dem Europarats-Statut beitreten;

2. für die nächste «Institutionelle Reform» der Europäischen Union den Einsatz enger Konsultationen auch mit den übrigen Mitgliedstaaten des Europarats wie auch mit denjenigen Staaten vorzusehen, die noch nicht Mitglieder sind;

3. diese Reform zu zentrieren um eine Demokratisierung der Institutionen mit einer aus dem Grundsatz der Subsidiarität erwachsenden, vermehrten Berücksichtigung der Situation jedes einzelnen Landes mit seinen Städten, seinen Regionen und seiner bürgerlichen Gesellschaft, gleichzeitig aber auch für eine stärkere Präsenz der europäischen Institutionen auf nationaler, regionaler und örtlicher Ebene besorgt zu sein;

III. dem Ausschuss der Regionen der Europäischen Union:

während der ganzen Zeitspanne der «Institutionellen Reform» engen Kontakt mit dem Kongress zu pflegen dank eines fortlaufenden Austauschs von Information, regelmässiger Konsultationen und der Durchführung einer gemeinsamen Zusammenkunft zum geeigneten Zeitpunkt;

IV. der Parlamentarischen Versammlung:

1. seine Festellung und seine Besorgnis angesichts der gegenwärtigen Lage Europas und seine Ansicht hinsichtlich der politischen und institutionellen Mittel zu ihrer Besserung zu teilen;

2. neue Formen der Zusammenarbeit und der Ergänzung ins Auge zu fassen (beispielsweise als periodisch durchgeführte gemeinsame Zusammenkünfte der beiden Geschäftsstellen);

3. dem Kongress-Projekt «Beispielhafte demokratische Stadt» und der in der Entschliessung 15 (1995) vorgesehenen Schaffung einer Auszeichnung seine politische und praktische Unterstützung zuteil werden zu lassen;

V. dem Ministerkomitee des Europarats:

1. die vorliegende Empfehlung mit der Bitte um Kommentare und eventuelle Vorschläge zu gemeinsamen Aktionen an die durch diesen Text betroffenen Lenkungsausschüsse und zwischenstaatlichen ad hoc-Komitees, vor allem auch an die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz, zu schicken;

2. angesichts der Dringlichkeit der Situation und der in den Mitgliedstaaten herrschenden Erwartungen, das multidisziplinäre Projekt «Soziale Ausgrenzung und Recht auf die Würde der Person» nun unverzüglich, und ohne dies von ausseretatmässigen Finanzierungen abhängig zu machen, in die Wege zu leiten.

1 Diskussion und Annahme durch den Kongress am 31. Mai 1995, 2. Sitzung (siehe Dok. CG (2) 2, Teil I Rec., Empfehlungsentwurf vorgelegt von Herrn L. Duvall, Berichterstatter)