Der Kongress,
mit Bezug auf den Vorschlag der Kammer der Gemeinden,
1. Nimmt den Bericht von Herrn Masters nach seinen Besuchen in Estland vom 7. bis 10. Februar und vom 9. bis 10. März 2000 mit einem Berater und einem Mitglied des Sekretariats zur Kenntnis;
2. Dankt den estnischen Behörden für den herzlichen Empfang der Delegation und die gute Zusammenarbeit;
3. Erkennt die Verdienste Estlands um die wichtigen Fortschritte an, die seit 1991 in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, insbesondere im Bereich der Gesetzgebung und der Gemeindepraxis erzielt wurden und den geeigneten Rahmen für die kommunale Demokratie bilden;
4. Stellt jedoch fest, dass es wünschenswert wäre, Veränderungen zur Verbesserung der demokratischen Beteiligung einzuführen und die Kommunalverwaltung an die Normen der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung anzupassen;
5. Stellt weiterhin fest, dass das System der Gemeinden derzeit überprüft und verändert wird und ist überzeugt, dass dies eine ausgezeichnete Gelegenheit für Estland ist, die seit 10 Jahren bestehenden Lücken zu schließen und den Standard und die Qualität des Systems zu erhöhen;
Stellt insbesondere fest, dass:
6. Das System der Kommunalregierung in Estland nur auf einer Ebene besteht (274 Gemeinden) und dass das Land in fünfzehn Regionen unterteilt ist, die von Gouverneuren geleitet werden, die von der Regierung der Republik ernannt werden;
7. Die Abgeordnetenkammer der Gemeinden nur auf drei Jahre gewählt wird;
8. Der Rechtsstatus der Stadt Tallin mit 420 000 Einwohnern (bei einer Gesamtbevölkerung von 1 445 000 Einwohnern) und mehr als 50% des BIP auf der Tagesordnung steht;
9. Die Größe und Zahl der Gemeinden und Grafschaften Thema einer umfassenden Debatte sind und die Tendenz dahin geht, die Zahl der Gemeinden hauptsächlich durch freiwillige Zusammenschlüsse zu verringern;
10. Es eine Tendenz zur Übertragung der Funktionen der Grafschaftsregierungen auf die Gemeindeverbände der Grafschaft sowie Vorschläge zur Schaffung einer autonomen Grafschaftsregierung gibt, die direkt oder indirekt gewählt wird;
11. Die Gemeinden derzeit nicht die Möglichkeit haben, Steuern zu erheben oder zu verwalten und daher den Steuerzahlern keine Bedeutung zukommt;
12. Die Hälfte der kommunalen Gesamteinnahmen aus den Einkommenssteuern stammen, wovon 56% an die Gemeinden gehen. Der Betrag der staatlichen Zuweisung (etwa 25% der Gemeindeeinnahmen) wird nach einer automatischen Formel berechnet, bei der die unterschiedlichen Finanzmittel der Gemeinden berücksichtigt werden;
13. Die ländlichen Gemeinden über keine Eigenmittel verfügen und die Prüfung der Finanzlage der kleinen Gemeinden im Augenblick die große Frage ist;
14. Estland gute Grenzbeziehungen, insbesondere zu Finnland und anderen baltischen Staaten, hegt und der Verkehr sowie die Zusammenarbeit an der Grenze zwischen Estland und der Russischen Föderation konstant sind; dass Estland und Russland ein Abkommen betreffend ihre gemeinsame Grenze geschlossen haben, dessen Unterzeichnung und Ratifikation noch hängig sind;
15. Ausländer das Wahlrecht bei Gemeindewahlen erhalten. Die aufgestellten Kandidaten müssen laut Gesetz fließend Estnisch sprechen. In einigen Regionen des Landes kann der Gemeinderat auch in der Sprache der Mehrheit arbeiten;
In Erwägung, dass:
16. Die Reform der territorialen Organisation der Republik nicht nur die Gemeinden, sondern auch die Grafschaften der Zentralregierung betreffen sollte;
17. Die größeren Einheiten der Kommunalregierung selbst für eine bessere Qualität der öffentlichen Dienste sorgen können;
18. Die Übertragung der Befugnisse und Aufgaben der Grafschaftsregierungen auf die Gemeindeverbände anzuregen ist;
19. Das derzeitige System der Gemeindefinanzen einige Regionen und ländliche Gemeinden benachteiligt; das System der staatlichen Zuweisungen gleicht diese Unterschiede gegenwärtig nicht aus;
20. Aufgrund der Tatsache, dass dem Steuerzahler keine Bedeutung zukommt und keine Meldepflicht für den Wohnsitz besteht, die Berechnung der Einkommenssteuer aus den Gemeinden beträchtlich behindert wird;
21. Die Beteiligung der Gemeinden an der Ausarbeitung der Regionalpolitik verbessert werden könnte;
22. Die territoriale Zusammenarbeit der Gemeinden aus einer Grafschaft äußerst wichtig ist;
Empfiehlt, dass die Parlamente, Regierungen und andere Behörden in Estland folgende Empfehlungen, Vorschläge und Überlegungen bei der Umstrukturierung der Gemeinden berücksichtigen:
Bezüglich der Verwaltungsaufteilung
23. Bei der Umstrukturierung der Verwaltungsaufteilung müssen die Gemeinden und Gemeindeverbände vor jeder endgültigen Entscheidung gemäß Artikel 4, Absatz 6 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung konsultiert werden. Die betroffene Bevölkerung muss sich auch am Prozess zur Änderung der territorialen Grenzen, wenn möglich durch Referendum, beteiligen können;
24. Es ist notwendig, den freiwilligen Zusammenschluss kleiner Gemeinden durch finanzielle Anreize zu fördern unter Berücksichtigung ihrer Meinung und der ihrer Einwohner;
25. Wenn größere Einheiten der Kommunalregierung geschaffen werden, die über beträchtliche Verwaltungs- und Finanzmittel verfügen, ist das Streben nach Effizienz mit der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips gemäß Artikel 4, Absatz 3 der Charta in Einklang zu bringen. Die Vorschläge zu einer neuen Verwaltungsaufteilung müssen die Anziehungspunkte berücksichtigen und den Zugang zu den öffentlichen Diensten so leicht wie möglich machen;
26. Bei der Abänderung des Gesetzes über die Organisation der Gemeinden sollten das Parlament und die Regierung erwägen, der Stadt Talin einen Sonderstatus zuzugestehen, der die Bedeutung der Landeshauptstadt widerspiegelt. So könnte auch die derzeitige Aufteilung der Aufgaben und Funktionen zwischen Talin und der Regierung der Grafschaft, in der die Stadt liegt, überprüft werden;
Bezüglich der Umverteilung der Funktionen
27. Die derzeitige Tendenz zur Übertragung von Befugnissen der Grafschaftsregierung auf die Gemeindeverbände ist zu unterstützen, denn diese Verbände vertreten direkt die Interessen der Gemeinden. Das estnische Parlament und die Regierung sollten erwägen, die Autonomie der Grafschaft wiederherzustellen, um die Grafschaftsversammlungen zu stärken;
28. Größere Gemeinden sind besser in der Lage, qualitativ hochwertige Dienste zu leisten. Auch andere Formen der Verwaltung der öffentlichen Dienste, z.B. die Schaffung von Einrichtungen, die mehreren Gemeinden gehören oder die Vergabe von Aufträgen nach außen, würden dem Nutzer die Möglichkeit geben, den Dienstleistungsanbieter zu wählen;
Bezüglich der Finanzfragen
29. Die estnischen Behörden sollten ihre Gesetzgebung und ihre Praktiken ändern, damit die Gemeinden in Zukunft über einen größeren Anteil an den Finanzmitteln verfügen und die Möglichkeit erhalten, Steuern zu erheben. Gemäß der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung muss „zumindest ein Teil der Finanzmittel der Gemeinden aus Abgaben und Gemeindesteuern stammen, die sie innerhalb der gesetzlichen Grenzen selbst festlegen können“ (Artikel 9, Absatz 3);
30. Die Gemeinden sollten die Möglichkeit erhalten, eine Einkommenssteuer für natürliche Personen zu erheben und den Steuersatz selbst festzulegen. Dies wäre durch eine Senkung der Verwaltungskosten für die Steuereintreibung (z.B. indem sie einen Vertrag mit den zuständigen Staatsorganen schließen) und die Einbeziehung der Steuerzahler möglich. Zur Erhöhung der Gemeindeeinkünfte könnten neue Gemeindesteuern eingeführt oder die derzeitigen Steuern verändert werden (z.B. aus der Grundsteuer wird eine Eigentumssteuer abgeleitet);
31. Gemäß Artikel 9, Absatz 5 der Charta sollten die estnischen Behörden die Einführung eines besseren Finanzausgleichssystems vorsehen, das die besonderen Bedingungen jeder Gemeinde berücksichtigt. Die automatische Berechnung der Summe der „staatlichen Zuwendung“ (die tatsächlich ein Pauschalbetrag ist) scheint nicht den Bedürfnissen der Gemeinden, insbesondere der ländlichen Gemeinden, die sich in einer schwierigen Lage befinden, zu entsprechen;
Bezüglich der Beziehungen zwischen den Gemeinden, der Zentralregierung und den Gemeindeverbänden
32. Die nationalen Gemeindeverbände sollten ihre gemeinsamen und koordinierten Aktionen verstärken, um eine gemeinsame Front in den Verhandlungen mit der Zentralregierung darzustellen. Sie sollten erwägen, sich in einer einzigen Union zusammenzuschließen;
33. Das Problem der demokratischen Beteiligung der Gemeinden in der Regionalpolitik und der Entwicklung und die Berücksichtigung der Gemeindeinteressen im Entscheidungsverfahren scheint nicht gelöst zu sein. Denn dieses Problem wird sich nach dem Beitritt zur Europäischen Union bei Erhalt und Umverteilung von Beihilfen aus der EU stellen. In Europa gibt es verschiedene Systeme, in denen die Gemeindeinteressen in der Regionalpolitik vertreten werden. Diese reichen von regionalen kooperativen Organen bis hin zu den autonomen direkt gewählten regionalen Gebietskörperschaften. Diese Überlegungen sollten bei den laufenden Diskussionen nicht außer Acht gelassen werden;
Bezüglich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und der Lage der russischen Minderheit2
34. Es besteht kein Zweifel daran, dass Estland so schnell wie möglich die Europäische Rahmenkonvention über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit unterzeichnen und ratifizieren sollte. Es wäre angezeigt, die Erstellung der für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit Russland (Abkommen betreffend die Grenze und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gemeinden und Regionen sowie Regeln für die gegenseitigen Besuche der Grenzbevölkerungen) notwendigen rechtlichen Grundlage ins Auge zu fassen;
35. In naher Zukunft ist die Bestimmung des Gesetzes über die Wahl des Gemeinderates zu überprüfen, die vorsieht, dass jeder Kandidat der Gemeindewahl fließend Estnisch sprechen muss, einschließlich der Möglichkeit, während einer Wahl der Öffentlichkeit Auskünfte in anderen Sprachen zu erteilen;
36. Das Parlament und die Regierung sollten nach Möglichkeiten zum Schutz der Minderheitensprachen suchen, insbesondere indem sie, wenn es möglich ist, den Gebrauch der Muttersprache bei den Sitzungen des Gemeinderates zulassen (z.B. wenn die Russischsprachigen in der Mehrzahl sind);
Andere Fragen
37. Wir empfehlen, die derzeitige Dauer von drei Jahren des Mandates der Vertreter zu überprüfen. Diese Dauer ist angesichts der politischen Natur des Gemeinderates nicht ausreichend, um ein politisches Programm zu Ende zu führen. Dadurch kann es zu voreiligen Initiativen kommen, die langfristig unwirksam sind.
1 Diskussion und Zustimmung durch die Kammer der Gemeinden am 24. Mai 2000 und Annahme durch den Ständigen Ausschuss am 25. Mai 2000 (siehe Dok. CPL (7) 7, Empfehlungsentwurf vorgelegt von Herrn O. Masters, Berichterstatter).
2 Nach offiziellen Angaben besteht die Bevölkerung Estlands aus folgenden Volksgruppen: Esten 65,1% ; Russen 28,2% ; Ukrainer 2,6% ; Weißrussen 1,5% ; Finnen 0,9% ; Sonstige 1,7%