Entschliessung 71 (1998)1 betreffend die Kontrolle der Umsetzung der europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung

Der Kongress,

mit Bezug auf den Vorschlag der Kammer der Gemeinden,

1. In Erwägung:

a) dass die pluralistische Demokratie, so wie der Europarat sie konzipiert, zu einem wichtigen Teil in der kommunalen Selbstverwaltung wurzelt, ist es doch, entsprechend dem Sudsidiaritätsprinzip, die kommunale Ebene, auf der die Bürger ihr Recht auf Beteiligung an den öffentlichen Geschäften am unmittelbarsten ausüben können;

b) dass daher:

i. die gewählten Gemeindevertreter das Recht und die Fähigkeit haben müssen, einen grossen Teil der öffentlichen Geschäfte in eigener Verantwortung und im Interesse der durch sie vertretenen Bevölkerung zu führen;

ii. die zentralstaatlichen und die regionalen Behörden sich nur insoweit einschalten sollen, als die gewählten Gemeindevertreter nicht in der Lage sind, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen;

2. Daran erinnernd:

a) dass die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung:

i. der einzige internationale Vertrag für den Schutz und die Förderung der kommunalen Selbstverwaltung und des Subsidiaritätsprinzips in Europa ist, und dass sie nach den kürzlich erfolgten Ratifikationen durch, Rumänien, die Russische Föderation und das Vereinigte Königreich nun durch 30 Mitgliedstaaten des Europarats ratifiziert worden ist;

ii. imstande war, sich als rechtliches Bezugssystem und Angelpunkt der Tätigkeiten des Europarats bei der Einrichtung von Demokratie in dessen neuen zentral- und osteuropäischen Mitgliedstaaten durchzusetzen;

b) dass er mit Zustimmung des Ministerkomitees und gestützt auf den erläuternden Bericht zu der Charta die politische Kontrolle über ihre Umsetzung durch eine ad hoc-Arbeitsgruppe durchführen lässt, der ein unabhängiger Fachausschuss aus den Unterzeichnerstaaten der Charta zur Seite steht;

c) dass diese Kontrolle beruht:

i. auf der ständigen Verfolgung ex officio der Anwendung der Artikel der Charta in sämtlichen Unterzeichnerstaaten im Hinblick auf Formulierung von Beobachtungen und Vorschlägen, die den betreffenden Regierungen durch das Ministerkomitee des Europarats zugeleitet werden;

ii. auf der Verfolgung ihrer Anwendung auch auf die Bitte von Gemeinden oder Regionen hin, die durch die sie vertretenden Verbände oder durch ihre KGRE-Delegationen übermittelt werden;

d) dass die Kontrolle der Umsetzung der in der Charta enthaltenen Bestimmungen somit durch gewählte Gemeindevertreter erfolgt, denen diese Bestimmungen letztlich auch zugute kommen. Diese Aktivitäten stellen -vielleicht aufgrund der sie kennzeichnenden Mischung aus Politik und Recht - ein wirksames Instrument dar, über das der Kongress zur Förderung der Berücksichtigung der Grundprinzipien der Gemeindedemokratie durch die Mitgliedstaaten verfügt;

e) dass der Kongress innerhalb dieses Rahmens bemüht ist, die in den betreffenden Staaten herrschende normative und praktische Lage zu berücksichtigen und eine wandlungsfähige Interpretation der in der Charta enthaltenen Standards zu pflegen; diese Arbeit des Interpretierens ist politischer Natur; abgesehen von ihrem möglichen Einfluss auf die Gesetzgebung in den Empfängerstaaten, befähigt sie die mit der Kontrolle ihrer Umsetzung betraute Gruppe, der organisatorischen Vielfalt der kommunalen Selbstverwaltung in den Mitgliedstaaten gerecht zu werden;

f) dass die unter 2b weiter oben erwähnte Arbeitsgruppe das rechtliche Fundament und die Bedingungen für die Ausübung der kommunalen Selbstverwaltung auch in den die Charta nur unterzeichnet habenden Staaten prüft und dass die Kontrolle ihrer Umsetzung durch den KGRE:

i. daher ein Mechanismus mit politischem Aufforderungscharakter und nicht ein System zur Ermittlung von Sanktionen ist;

ii. die grosse Vielfalt der instituierten Formen territorialer Organisation und kommunaler Selbstverwaltung in den europäischen Staaten respektiert und nicht versucht, sie zu vereinheitlichen;

3. Sich glücklich schätzend:

a) angesichts der Solidität und Beständigkeit der Arbeit der mit der Kontrolle der Umsetzung der Charta beauftragten Arbeitsgruppe, dank deren sich die Verfahren zur Durchsetzung der Charta auf eine Institutionalisierung zu bewegen;

b) angesichts der zunehmenden Ratifikationen der Charta und hoffend, dass diese Zunahme anhält nicht nur bei den neuen, sondern auch bei jenen langjährigen Mitgliedstaaten, die die Prinzipien der Charta in ihrer Gesetzgebung und Praxis zwar einhalten, die Charta aber dennoch zum Teil noch nicht ratifiziert, ja nicht einmal unterzeichnet haben;

4. Erinnernd:

a) an seine Entschliessung 3 (1994) und Empfehlung 2 (1994) betreffend die Kontrolle über die Umsetzung der Charta [Berichterstatter: Herr Van Cauwenberghe, Belgien], die auf dem Bericht betreffend die Einarbeitung der Charta in das Recht der sie ratifiziert habenden Länder und über die den Gemeinden offenstehenden Rechtswege im Falle einer Nichtachtung der kommunalen Selbstverwaltung durch Bestimmungen und normative Texte des innerstaatlichen Rechts (Artikel 11 der Charta) und die Konformität der Gesetzgebung der obenerwähnten Länder mit den Bestimmungen der Charta fussen;

b) an seine Entschliessung 34 (1996) und Empfehlung 20 (1996) [Berichterstatter: Herr De Sabbata, Italien] betreffend die Umsetzung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung, basierend auf dem Bericht betreffend die durch die zentralstaatlichen und regionalen Behörden ausgeübte Kontrolle über die Gemeinden (Artikel 3, 6.2, 7.1 und 8 der Charta) sowie seine Entschliessung 31 (1996) über die durch den Kongress zu befolgenden Grundsätze bei der Erarbeitung von Berichten über die Lage der kommunalen und regionalen Demokratie in den Mitgliedländern des Europarats und den sich um eine Mitgliedschaft bei diesem bewerbenden Ländern [Berichterstatter: die Herren Chénard, Frankreich und Tchernoff, Niederlande];

c) an seine Empfehlung 39 (1998) [Berichterstatter: Frau Doganoglu, Türkei, und Herr Lloyd, Vereinigtes Königreich] betreffend die Kontrolle der Umsetzung der Charta, fussend auf dem Bericht betreffend die Einarbeitung der Charta in das Recht der sie ratifiziert habenden Staaten und der Rechtsschutz der kommunalen Selbstverwaltung (Artikel 11 der Charta);

d) an die Schlusserklärung der Konferenz über die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung (Barcelona, 23.-25. Januar 1992), die entscheidend zur Einfügung einer systematischen Kontrolle der Umsetzung der Charta in das Spektrum der KGRE-Aktivitäten beigetragen hat;

e) an die Arbeiten der Konferenz zur Feier des 10. Geburtstages der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung (Kopenhagen, 17.-18. April 1996), die aufgrund einer Bilanz ihrer Umsetzung nach zehn Jahren Unterzeichnungsmöglichkeit zeigen konnte, wie weit ihre Verbreitung, wie vielfältig die Situationen ihrer Anwendung und wie stark der Wille der europäischen Staaten, insbesondere der neuen zentral- und osteuropäischen Demokratien ist, sich in ihrem internen Recht nach ihr zu richten;

f) an die Schlusserklärung der Konferenz über die Anwendung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung durch die Gerichte (Barcelona, 24.-26. April 1997), die gezeigt hat, dass die durch den Kongress durchgeführte Kontrolle über die Umsetzung der Charta zwar unentbehrlich ist, aber nur die internationale Seite einer solchen Überwachung abdeckt, während die einschlägige Rechtsprechung an den innerstaatlichen Gerichtshöfen deren anderen Teil übernehmen müsste;

5. Begrüssend:

a) die Tatsache, dass das Vorgehen bei der Ausarbeitung der in den Abschnitten 4a, 4b und 4c weiter oben erwähnten ersten drei Berichte über die Anwendung der Charta dank der Mitarbeit des Ministerkomitees über den Lenkungsausschuss für Gemeinde- und Regionaldemokratie (CDLR) zu einem vertieften und fruchtbaren Dialog mit den Unterzeichnerstaaten der Charta geführt hat;

b) die günstige Aufnahme, die der in seiner Entschliessung 34 (1996) enthaltene Vorschlag beim CDLR gefunden hat, worin befürwortet wird, dass der KGRE noch vor seiner nächsten Empfehlung an das Ministerkomitee betreffend die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung eine Stellungnahme vom CDLR einholt und dass er seine Arbeitsgruppe über die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung beauftragt, dies bei der Ausarbeitung des nächsten diesbezüglichen Empfehlungsentwurfs sogleich zu tun;

6. Stellt angesichts des bisher Gesagten fest, dass seine Kontrolltätigkeit hinsichtlich der Umsetzung der Charta im Rahmen seiner statutarisch festgelegten Aktivitäten institutionalisiert werden und somit in die Charta des Kongresses anlässlich ihrer für Januar 2000 vorgesehenen Revision Eingang finden sollte;

7. Betreffend die Ausarbeitung des 4. Berichts über die Umsetzung der Charta hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den finanziellen Mitteln der Gemeinden und ihren Zuständigkeiten (Artikel 9 und 4, Abschnitte 4 und 5 der Charta):

a) angesichts der durch die (in Abschnitt 2b weiter oben) erwähnte Arbeitsgruppe ausgearbeiteten und durch ihren Berichterstatter, Herrn Jean-Claude FRECON (Frankreich) vorgelegten vorläufigen Version, die sich stützt auf die Untersuchung von Prof. Alain DELCAMP, Präsident des unabhängigen Fachausschusses;

b) im Bewusstsein der technischen und juristischen Schwierigkeiten, die sich bei der Ausarbeitung eines Berichts über das Verhältnis zwischen den Finanzmitteln der Gemeinden und ihren Zuständigkeiten stellen und die sich beziehen auf

i. die genaue Bestimmung der tatsächlich durch die Gemeinden ausgeübten im Verhältnis zu den vom Staat ausgeübten Kompetenzen;

ii. die mangelhaften Daten über die Verteilung der Kompetenzen in den verschiedenen Ländern;

iii. den Unwillen der meisten Staaten, in einer begrenzten Anzahl allgemeiner Gesetze eine summarische Liste der wichtigsten Zuständigkeiten aufzuführen, die den Gemeinden übertragen sind;

iv. die Berechnung der Kosten der von den verschiedenen Kategorien von Gemeinden ausgeübten Kompetenzen;

v. die mangelnde Genauigkeit der in der Charta enthaltenen Grundkonzepte und -definitionen betreffend die Zuständigkeiten;

c) fordert seine (in Abschnitt 2b weiter oben erwähnte) Arbeitsgruppe auf, ihre Arbeiten im Hinblick auf die Vorlage eines Schlussberichts und des Entwurfs einer Empfehlung an das Ministerkomitee des Europarats betreffend das Verhältnis zwischen den Finanzmitteln der Gemeinden und ihren Zuständigkeiten (Artikel 9 und 4, Abschnitte 4 und 5 der Charta) anlässlich der 6. Plenartagung 1999 fortzusetzen;

d) in Anbetracht der Bestimmungen der Charta hinsichtlich der Gemeindefinanzen und der Wichtigkeit dieser Frage schon jetzt die Schwierigkeiten berücksichtigen wollend, denen die Gemeinden in dieser Hinsicht begegnen und die sich folgendermassen aufteilen lassen:

i. die Beschränktheit der Eigenmittel aus einer echten Gemeindesteuer, deren Satz die Gemeinde selber festlegen kann: nur in 8 Mitgliedstaaten des Europarats beträgt der Anteil der Eigenaufkommen der Gemeindefinanzen 50% oder mehr ihrer gesamten Finanzmittel;

ii. die Tendenz zur Verminderung der ausschliesslich kommunalen Steuern und die zentralstaatliche oder regionale Praxis, diese durch Transfermittel oder aufgeteilte Steuern zu ersetzen;

iii. das damit gegebene Überwiegen der Transfermittel gegenüber den Eigenmitteln und in manchen Ländern der grosse Anteil an zweckgebundenen Subventionen im Verhältnis zu den ungebundenen Zuwendungen;

iv. eine gewisse Verwirrung zwischen dem Unterhalt der Gemeindebudgets einerseits, der Entschädigung für die übertragenen Zuständigkeiten andererseits und dem Finanzausgleich dritterseits;

v. der Mangel an stetigen Kriterien für die Modalitäten und Zweckbestimmungen von Finanzausgleichen und das freie Ermessen, über welches manche zentralstaatlichen oder regionalen Behörden diesbzüglich verfügen;

vi. die Instabilität und Spärlichkeit der kommunalen Finanzierungsquellen sowie die relative Schwäche der Gemeinden bei der Kreditaufnahme und die aus dieser Schwäche resultierenden Reste von Beaufsichtigung;

vii. die Beaufsichtigung des Gemeindehaushalts durch zentralstaatliche oder regionale Behörden, unter der sich zuweilen eine a priori-Aufsicht über die kommunalen Entscheidungen als solche verbirgt;

viii. die Auswirkungen nationaler Finanzschwierigkeiten auf die kommunale Selbstverwaltung, vor allem in den Staaten, die unter den durch die Einhaltung des Vertrags von Maastricht auferlegten Zwängen leiden;

ix. die Nachteile der Verfahren zur gemeinsamen Finanzierung (Staat-Gemeinde) öffentlicher Arbeiten.

1 Diskussion Zustimmung durch die Kammer der Gemeinden und Annahme durch den Ständigen Ausschuss des Kongresses am 28. Mai 1998, (siehe Dok. CPL (5) 4, Entschliessungsentwurf vorgelegt von Herrn J-C. FRECON, Berichterstatter)