Empfehlung 20 (1996)1 betreffend die Folgearbeiten zu der Umsetzung der europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung

Der Kongress,

mit Bezug auf den Vorschlag der Kammer der Gemeinden,

1. Überzeugt von der Wichtigkeit einer wirksamen Gemeindedemokratie für den Aufbau eines geeinten, auf das Walten des Rechts gegründeten Europa;

2. In Anbetracht der Arbeiten anlässlich der am 17. und 18. April 1996 in Kopenhagen (Dänemark) stattgefundenen Konferenz zur Feier des 10. Jahrestages der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung, an der sich die grosse Verbreitung der Charta zeigte, die Vielfalt der Situationen, in der sie Anwendung findet, der erwiesene Wille der europäischen Staaten, sich auf sie zu stützen beim Aufbau einer Gemeindedemokratie, die den Bedürfnissen der europäischen Bürger nachkommt, sowie ihre Sorge, dass die Charta auch wirklich angewendet wird;

3. In Anbetracht dessen,

a. dass die kommunalen Gebietskörperschaften eines der wichtigsten Fundamente jedes demokratischen Systems und eine Säule der Konstruktion von Europa sind, und dass es, nach dem Grundsatz der Subsidiarität, die örtliche Ebene ist, wo sich das Recht der Bürger, sich an der Führung der öffentlichen Geschäfte zu beteiligen, am unmittelbarsten ausüben lässt;

b. dass die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung - so wie dies die Europäische Menschenrechtskonvention bezüglich der Rechte und Freiheiten von Personen tut - gemeinsame europäische Normen für den Schutz der kommunalen Gebietskörperschaften festlegt, indem sie diesen die Möglichkeit gibt, an den Entscheidungen über ihre tägliche Umgebung tatsächlich mitzuarbeiten;

c. dass die Charta der kommunalen Selbstverwaltung am 10. Jahrestag ihrer Auflegung zur Unterzeichnung noch immer das einzige rechtliche Referenzwerk von zwingender internationaler Bedeutung ist, das die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung und die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips in ganz Europa ansteuert, wie dies auch die wachsende Zahl von Mitgliedstaaten bezeugt, die sie unterzeichnet oder ratifiziert haben;

d. dass die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung ein Modell abgab, das die neuen Demokratien Zentral- und Osteuropas bei der Reform ihrer Gesetzgebung im Bereich der Gemeindeautonomie inspiriert hat, und dass die UNO zur Zeit eine Erklärung über die kommunale Selbstverwaltung ausarbeitet, die ebenfalls von der Charta inspiriert ist;

4. Daran erinnernd,

a. dass der Kongress - mit Zustimmung des Ministerkomitees und in Abwesenheit eines zwischenstaatlichen Kontrollsystems für die Umsetzung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung - unmittelbar verantwortlich ist für deren Anwendung, dass deshalb eine hierzu geschaffene Arbeitsgruppe des KGRE in regelmässigen Abständen irgendwelche Bestimmungen der Charta herausgreift, um deren tatsächliche Anwendung durch die Vertragsparteien zu prüfen und entsprechende Beobachtungen und Vorschläge an die Regierungen zu richten;

b. dass die zur Zeit für die Kontrolle der Anwendung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung verantwortliche Arbeitsgruppe des Kongresses einen unter ihrer Aegide und unter dem Vorsitz von Herrn Alain DELCAMP (Frankreich) arbeitenden unabhängigen Fachausschuss mit einer Untersuchung beauftragt hat über "Die institutionellen

Beziehungen der zentralsstaatlichen und der regionalen zu den kommunalen Behörden: Fälle, Typen und politisch-rechtliche Merkmale der über die Organe der Gemeinden ausgeübten Kontrollen";

5. Angsichts des Berichts der Arbeitsgruppe betreffend die Anwendung von Artikel 3, Artikel 6 Paragraph 2, Artikel 7 Paragraph 1 und Artikel 8 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung, der sich stützt auf die durch den unabhängigen Fachausschuss ausgearbeitete und durch Herrn Giorgio DE SABBATA, Berichterstatter (Italien), vorgelegte Untersuchung, welche ein besonders vollständiges Bild von den institutionellen Beziehungen der zentralstaatlichen und/oder regionalen zu den von der Charta betroffenen Behörden bietet;

6. Überzeugt, dass inbezug auf die Beziehungen der zentralstaatlichen und/oder regionalen Behörden zu den kommunalen Behörden die kombinierten Bestimmungen von Artikel 7 Paragraph 1 und von Artikel 8 der Charta einen hinreichenden Sockel für das garantierte Vorhandensein einer echten kommunalen Selbstverwaltung abgeben;

7. Konstatiert hinsichtlich der Anwendung der unter Punkt 5 der vorliegenden Empfehlung erwähnten Bestimmungen der Charta eine Reihe von Unregelmässigkeiten und Schwierigkeiten, die insbesondere betreffen:

a. das Weiterbestehen von Zweckmässigkeitskontrollen, insbesondere in finanzieller Hinsicht, in Staaten, die hinsichtlich des Artikels 8 der Charta keinerlei Vorbehalte angebracht hatten;

b. das Bestehen von Kontrollen der Volksvertreter oder der kommunalen Organe, die zu verwaltungs- oder strafrechtlichen Sanktionen führen unter Missachtung der elementaren Rechte auf Verteidigung in Verfahren, worin die Anwendung des Grundsatzes des Widerspruchsrechts und die Garantien der administrativen und rechtlichen Rekursmöglichkeit nicht gegeben sind;

c. die Nichtbeachtung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit bei den Kontrollaktivitäten, die sich in erster Linie und einzig auf die Akte beziehen dürfen, welche Gegenstand der Übertretung sind, und die in Beziehung stehen müssen zu der begangenen Übertretung, wobei die vorläufige Amtsenthebung und die Absetzung von Kommunalvertretern nur ultima ratio sein darf;

d. in manchen Fällen das Fehlen von institutionellen oder spontanen Regelungssystemen, die die Lösung politischer Konflikte innerhalb von Kommunalverwaltungen ermöglichen und damit das Eingreifen zentralstaatlicher oder regionaler Behörden verhindern;

e. die Existenz von Staatspersonal im Dienste gewählter Kommunalregierungen, welches in gewissen Fällen als Stützpunkt einer eigentlichen indirekten a priori-Bevormundung fungiert;

f. die Einschränkung der Freiheit der gewählten Kommunalvertreter, Fachpersonal nach Verdienst und Kompetenz zu rekrutieren;

8. Fordert das Ministerkomitee auf, den Regierungen der die Charta unterzeichnet und ratifiziert habenden Mitgliedstaaten den unter Punkt 5) der vorliegenden Empfehlung erwähnten Bericht betreffend die Anwendung von Artikel 3, Artikel 6 Paragraph 2, Artikel 7 Paragraph 1 und Artikel 8 der Charta zuzuleiten;

9. Fordert das Ministerkomitee auf, gegenüber den Regierungen der die Charta ratifiziert habenden Mitgliedstaaten eine Empfehlung anzunehmen, welche die folgenden Punkte enthält:

a. für die gewissenhafte Befolgung von Artikel 3, Artikel 6 Paragraph 2, Artikel 7 Paragraph 1 sowie Artikel 8 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung, zu deren Anwendung sie sich verpflichtet haben, zu sorgen, indem sie - unterstützt von der mit der Kontrolle der Umsetzung der Charta beauftragten Arbeitsgruppe des Kongresses - so rasch wie möglich jene Bestimmungen ihrer Gesetzgebung überprüfen, die im Widerspruch zu ihrem Wortlaut oder ihrem Geist stehen könnten;

b. den unter Punkt 8 der vorliegenden Empfehlung berührten Fragen, und vor allem den Bedingungen für eine Kontrolle der Verwaltungskte besondere Aufmerksamkeit zu widmen, welche Zweckmässigkeitskontrollen auf das streng unumgängliche Mass beschränken sollen;

c. hinsichtlich der Kontrolle über die Personen und gewählten kommunalen oder regionalen Organe, denen sie mitgeteilt hatten, dass die Charta in ihrem Territorium zur Anwendung gelangt, zur Kenntnis zu nehmen:

i. dass dieser Punkt in Artikel 7 Paragraph 1 der Charta angesprochen ist;

ii. dass diese Form der Kontrolle Garantien enthalten müsse, die zumindest gleichwertig sind denen, die vorgesehen sind für die Kontrolle der Akte, vor allem auch, was die in Artikel 8 Paragraph 3 der Charta niedergelegte Regel der Verhältnismässigkeit betrifft;

iii. dass nach Artikel 11 der Charta, unbeschadet der Anwendung der in der Europäischen Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten enthaltenen Regeln, ein Einspruchsrecht besteht, und dass die Beachtung der freien Ausübung des Mandats im allgemeinen impliziert, dass ein solcher Einspruch, ausser unter ausserordentlichen, ordnungsmässig gerechtfertigten Umständen, aufschiebende Wirkung hat ;

d. die Tatsache zu berücksichtigen,

i. dass das Bestehen von Verfahren zur Absetzung, vorläufigen Amtsenthebung und Auflösung an sich zwar nicht im Widerspruch zu der Charta steht, dass es sich dabei aber nur um letztmögliche Rechtsmittel handeln darf, die nur in Fällen wiederholter und erwiesener Verletzung der Verfassung oder des durch das Parlament verabschiedeten Gesetzes oder aber in sich lang hinziehenden Blockadesituationen durchgeführt werden können, welche die Ausübung eines anvertrauten Mandats unmöglich machen;

ii. dass es zur Einschränkung der Fälle, in welchen die oben erwähnten Verfahren ergriffen werden könnten, notwendig ist, in ihre Gesetzgebung Konversionsverfahren oder - um einen Schiedsspruch durch die Kontrollbehörde zu vermeiden - Konfliktlösungsverfahren auf eigene Initiative der Kommunen selbst aufzunehmen;

e. hinsichtlich der Anwendung von Artikel 6 der Charta und, vor allem, seines Paragraphen 1, jene Regeln auf das strikt Notwendige zu reduzieren, mithilfe derer, unter dem Vorwand einer besseren Geschäftsführung oder im Namen eigener finanzieller Schwierigkeiten, versucht werden könnte, die in der Charta verbriefte Freiheit der Körperschaften zu beschneiden, die darin besteht, die internen Verwaltungsstrukturen, die sie sich zulegen wollen, selbst zu bestimmen;

f. sich stets daran zu erinnern, dass die eigentliche Sanktion zuerst und vor allem vom Wähler ausgeht, und dass jede Verwaltungskontrolle nur das Ziel haben kann, durch eine objektive und transparente Information beizutragen zu dessen Aufklärung;

g. bezüglich des Vorhandenseins von zentralstaatlichen Beamten in Organen, die an der Verwaltung von durch die Charta betroffenen Körperschaften beteiligt sind, zur Kenntnis zu nehmen:

i. dass jede Anstrengung unternommen werden muss für die Rekrutierung und Ausbildung von Personal, das vollkommen unabhängig ist von jeder Behörde ausser derjenigen, bei der es angestellt ist;

ii. dass ganz allgemein alle Lösungen ausgeschlossen werden müssen, in welchen Personal - sei es aufgrund seines Statuts oder aufgrund seiner Stellung im Organigramm - dazu veranlasst werden könnte, bei den durch es im Rahmen seiner Funktionen gefassten Beschlüssen von Behörden abzuhängen, die nicht seine offiziellen Arbeitgeber sind;

iii. dass die Beziehungen zu den den Gemeinden zur Verfügung gestellten zentralstaatlichen Diensten sich nicht dahingehend auswirken dürfen, dass eine im Verschwinden begriffene offizielle Überwachung nun durch eine offiziöse, "technische" Überwachung ersetzt wird;

10. Empfiehlt den die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung unterzeichnet habenden Mitgliedstaaten - Belgien, Frankreich, Moldawien, Rumänien, die Russische Föderation, Slowenien, die "ehemals jugoslawische Republik Mazedonien" - diese, falls das noch nicht geschehen ist, zu ratifizieren, und zwar auch dann, wenn die die kommunale Selbstverwaltung betreffenden Bestimmungen in ihrer Verfassung und Gesetzgebung wie auch ihre diesbezügliche praktische Organisation den in der Charta enthaltenen Grundsätzen schon jetzt entsprechen sollten;

11. Empfiehlt den die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung noch nicht unterzeichnet habenden Mitgliedstaaten - Albanien, Andorra, Tschechische Republik, Irland, Lettland, Litauen, San Marino, Slowakische Republik, Schweiz, Ukraine, Vereinigtes Königreich - diese in Anbetracht dessen zu unterzeichnen und zu ratifizieren, dass die Befolgung ihrer Bestimmungen die wesentliche Rechtsgrundlage der Arbeit des Europarats auf dem Gebiet der Gemeindedemokratie darstellt;

12. Empfiehlt den die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung unterzeichnet und ratifiziert habenden Mitgliedstaaten - Österreich, Bulgarien, Zypern, Dänemark, Estland, Finnland, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Island, Italien, Liechtenstein, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Spanien, Schweden und der Türkei - die Übereinstimmung der Bestimmungen ihres innerstaatlichen Rechts mit den eingegangenen Verpflichtungen zu überprüfen sowie auch zu prüfen, ob es noch zweckmässig sei, die anlässlich ihrer Ratifizierung formulierten Vorbehalte weiterhin beizubehalten.

13. Fordert das Ministerkomitee auf, dem bereits durch die KGRE eingebrachten und nun durch die Parlamentarische Versammlung in ihrer Empfehlung 1285 (1996) erneuerten Antrag stattzugeben, der auf Ausarbeitung eines die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung abändernden Protokolls lautet, wonach das Ministerkomitee berechtigt wird, auch Nichtmitgliedstaaten zur Übernahme der Charta aufzufordern in dies Anbetracht des Interesses, das darin liegt, die Charta auch solchen nichteuropäischen Staaten zur Unterzeichnung anzubieten, welche mit Mitgliedstaaten des Europarates in einer Beziehung der Zusammenarbeit stehen.

1 Diskussion und Zustimmung durch die Kammer der Gemeinden am 3. Juli 1996 und Annahme durch den Ständigen Ausschuss des Kongresses am 5. Juli 1996 (siehe Dok. CPL (3) 7, Empfehlungsentwurf vorgelegt von Herrn G. De Sabbata, Berichterstatter)