Empfehlung 39 (1998)1 betreffend die Einarbeitung der europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung in die Rechtsordnung der sie ratifiziert habenden Staaten und betreffend den rechtlichen Schutz der kommunalen Selbstverwaltung

Der Kongress,

mit Bezug auf den Vorschlag der Kammer der Gemeinden,

1. Erneut seine Überzeugung bekräftigend, dass die kommunalen Gebietskörperschaften eines der Fundamente jedes demokratischen Staats sind, und dass ihre Selbstverwaltung nicht nur geschützt, sondern auch entwickelt werden muss;

2. Erwägend:

a. dass die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung gemeinsame europäische Normen für den Schutz und die Entwicklung der Rechte und der Selbstverwaltung kommunaler Gebietskörperschaften festlegt, indem sie diesen die Möglichkeit gibt, sich an der Beschlussfassung betreffend ihre Lebenswelt wirksam zu beteiligen;

b. die Aktualität und den Einfluss der Charta, die Vielfalt der Situationen, auf die sie anwendbar ist, den offenkundigen Willen der europäischen Staaten, sich beim Aufbau einer echten, den Bedürfnissen der Bürger entsprechenden Demokratie darauf zu beziehen, sowie ihre Sorge, sie wirklich umgesetzt zu sehen;

3. Daran erinnernd:

a. dass er, mit Zustimmung des Ministerkomitees und gestützt auf den erläuternden Bericht zu der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung, die Verantwortung für die politische Kontrolle ihrer Umsetzung in den Unterzeichnerstaaten übernommen hat,

b. dass er die Durchführung der oben erwähnten Kontrolle einer ad hoc-Arbeitsgruppe übertragen hat, die von einem Komitee unabhängiger Experten unterstützt wird;

c. dass der erste durch die oben erwähnte Arbeitsgruppe ausgearbeitete Bericht betrifft:

i. die Frage der Einarbeitung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung in die Rechtsordnungen der Staaten, die sie ratifiziert haben,

ii. die den kommunalen Gebietskörperschaften dieser Staaten zur Verfügung stehende Möglichkeit, sich im Falle, dass der Text eines nationalen Gesetzes oder einer Vorschrift nicht konform ist mit der Charta, an ein Verwaltungsgericht oder ein internes Gericht zu wenden;

d. dass er aufgrund des ersten Berichts über die Umsetzung der Charta die Empfehlung 2 (1994) angenommen hat, worin er:

i. feststellte, dass in einer Reihe von die Charta ratifiziert habenden Staaten diese nicht in das interne Recht eingearbeitet worden ist, sodass es den Gemeinden immer noch nicht möglich ist, sich im Falle der Unvereinbarkeit eines Gesetzestexts oder einer Vorschrift mit der Charta an die Gerichte zu wenden;

ii. dem Ministerkomitee empfahl, den Lenkungsausschuss für Gemeinden und Regionen (CDLR) zu beauftragen, diese Fragen zu untersuchen und dem KGRE genau mitzuteilen, mittels welcher Verfahren - sofern solche existieren - die kommunalen Gebietskörperschaften die Konformität der oben erwähnnten Texte mit der Charta abklären können, und zwar sowohl in den die Charta ratifiziert habenden Staaten, wo diese in das interne Recht eingearbeitet worden ist, als auch in solchen die Charta ratifiziert habenden Staaten, wo diese nicht in das interne Recht eingearbeitet worden ist.

4. In Anbetracht der auf den Bericht des CDLR [CDLR (96)8, Addendum revidiert] gestützten Antwort des Ministerkomitees auf die Empfehlung 2 (1994), welche die von 21 nationalen Delegationen übermittelten Informationen enthielt;

5. In Anbetracht des dritten Berichts der mit der Kontrolle der Umsetzung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung betrauten Arbeitsgruppe betreffend die oben erwähnte Antwort, welcher Bericht sich auf die durch Prof. Jean-Marie WOEHRLING, französisches Mitglied des Ausschusses unabhängiger Experten, über die Charta angestellte Untersuchung stützt und durch die Berichterstatter, Frau Gaye DOGANOGLU (Türkei) und Herrn Alan LLOYD (Vereinigtes Königreich), ausgearbeitet wurde;

6. Stellt fest, dass die tatsächliche Umsetzung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung in den sie ratifiziert habenden Staaten noch nicht vollgewährleistet ist, und dass dies insbesondere zurückzuführen ist:

a. auf eine falsche Interpretation der Charta, die ungeachtet ihres juristischen Charakters zuweilen als eine Reihe nicht zwingender Empfehlungen statt als ein echtes, zwingendes Dokument internationalen Rechts angesehen wird;

b. zuweilen auf unbefriedigende Mechanismen für die Umsetzung der Bestimmungen der Charta in die interne Rechtsordnung der Staaten;

c. auf die in gewissen internen Rechtsordnungen vorhandenen Grenzen hinsichtlich der den Gemeinden offenstehenden Möglichkeit, sich bezüglich der Bestimmungen der Charta an ein Verwaltungsgericht bzw. die Rechtspflegeorgane zu wenden;

7. In Anbetracht des bisher Gesagten, lädt das Ministerkomitee ein, den in Punkt 5 der vorliegenden Empfehlung erwähnten Bericht den Vertragsparteien der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung zu übermitteln und zuhanden der selben Vertragsparteien eine Empfehlung anzunehmen, welche die folgenden Punkte enthält:

a. die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung soll nicht als eine Reihe von nicht zwingenden Empfehlungen angesehen werden, sondern als ein konventionelles internationales Abkommen, das den sie ratifiziert habenden Staaten Verpflichtungen auferlegt und für die zu diesen Staaten gehörenden kommunalen Gebietskörperschaften Rechte schafft;

b. insbesondere stellen die Artikel 3 §2; 4 §§ 4 und 6; 5; 7 §§ 1 und 3; 8; 10; 11 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung Forderungen dar, welche Rechtsnormen aufstellen, die ungeachtet ihres allgemeinen Charakters als unmittelbar anwendbar und als positive oder negative Leistungspflichten anzusehen sind;

c. die nicht unmittelbar anwendbaren, sondern nur Verpflichtungen zu Ergebnissen festlegenden Bestimmungen der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung müssen unter Berücksichtigung der Überwachung der Umsetzung der Charta im Europarat durch den Kongress der Gemeinden und Regionen Europas interpretiert und im Rahmen der internen Gesetzgebung mithilfe positiver, innerhalb einer angemessenen Frist nach der Ratifikation angenommener Massnahmen konkretisiert werden;

d. es ist unerlässlich, die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung entsprechend den Regeln für die Einführung internationaler Verträge durch einen förmlichen Akt der Eingliederung in die interne Rechtsordnung aufzunehmen. Das Vorliegen nationaler, mit den durch die Charta verankerten Grundsätzen der kommunalen Selbstverwaltung bereits in Übereinstimmung erscheinender Bestimmungen kann die nationalen Behörden von dieser Einführung nicht entpflichten;

e. wenn kommunale Gebietskörperschaften betreffende Gesetze oder Vorschriften interpretiert werden müssen, dann müssen sie dies im Lichte der Bestimmungen der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung;

f. selbst wenn die Einfügung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung in die interne Rechtsordnung zu einer stillschweigenden Aufhebung jener Bestimmungen des internen Rechts führt, die mit den direkt anwendbaren Bestimmungen der Charta unvereinbar sind, so empfiehlt sich dennoch die ausdrückliche Ausserkraftsetzung solcher Bestimmungen internen Rechts, die mit der Charta nicht konform sind;

g. die nach der Ratifikation der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung und nach ihrer Einfügung in die interne Rechtsordnung angenommenen Gesetze und Vorschriften dürfen den in der Charta enthaltenen Regeln nicht widersprechen und müssen in ihrem Sinn interpretiert und angewendet werden;

h. die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung muss als ein Rechtsinstrument angesehen werden, das sich zusammen mit den Fortschritten der kommunalen Selbstverwaltung weiterentwickelt; angesichts der Tatsache nun, dass die Anlage der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung kein juristisches Kontrollsystem hinsichtlich ihrer Umsetzung vorsieht, müssen die Vertragsparteien den Interpretationsgrundsätzen Rechnung tragen, die der Kongress der Gemeinden und Regionen Europas im Rahmen der durch ihn besorgten Umsetzungskontrolle aufgestellt hat;

i. Staaten mit föderaler Struktur müssen dafür sorgen, dass die förderierten Einheiten ihrerseits nach Massgabe ihrer Kompetenzen hinsichtlich des Rechts der kommunalen Gebietskörperschaften eine wirksame Umsetzung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung sicherstellen, indem sie die Charta im Geiste der oben beschriebenen Grundsätze in das eigene Recht der föderierten Einheiten einarbeiten;

j. es ist im Hinblick auf eine wirksame Umsetzung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung unerlässlich, dass sich vor Gericht auf ihre Bestimmungen berufen werden kann. Artikel 11 der Charta über den rechtlichen Schutz der kommunalen Selbstverwaltung ist als eine demokratische Gewähr dafür zu verstehen, dass sich die kommunalen Gebietskörperschaften an ein unabhängiges und unparteiisches Gericht wenden können, um eine Missachtung der Charta feststellen und ihre Rechte wahren zu lassen.

1 Diskussion und Annahme durch den Ständigen Ausschuss des Kongresses am 6. März 1998 (s. doc. CPL (4) 7, Empfehlungsentwurf, vorgelegt durch die Berichterstatter, Frau Doganoglu und Herrn Lloyd)