Empfehlung 49 (1998)1 über den Stand der kommunalen und regionalen Demokratie im vereinigten Königreich

Der Kongress,

1. In Anbetracht des durch das Kongresspräsidium den für die Ausarbeitung des Berichts über den Stand der Gemeinde- und Regionaldemokratie im Vereinigten Königreich verantwortlichen Berichterstattern (Henry Frendo und Hans-Ulrich Stoeckling) erteilten Auftrags, der im Rahmen der gemeinsamen Zusammenkünfte der Arbeitsgruppen über "den Stand der kommunalen Demokratie in den Mitgliedstaaten" und über "Regionalisierung in Europa" am 3. Februar 1998 durch das Präsidium erneuert wurde;

2. Eingedenk seiner Entschliessung 58 (1997) über die Situation der Gemeindedemokratie in den Mitgliedstaaten, insbesondere deren Abschnitte 17 und 18, worin die Aufmerksamkeit auf gewisse Aspekte des Standes der Gemeindedemokratie im Vereinigten Königreich gelenkt wird;

3. Erinnernd an seine Entschliessung 31 (1996) über die durch den Kongress zu befolgenden Grundsätze bei der Erarbeitung von Berichten über den Stand der kommunalen und regionalen Demokratie in den Mitgliedstaaten des Europarats und den Anwärterstaaten;

4. Insbesondere erinnernd an Abschnitt 11 der Entschliessung 31 (1996), worin gefordert wird, daß sämtliche Mitgliedstaaten innerhalb einer vernünftigen Zeitspanne Gegenstand eines ausführlichen Berichts über den Stand der kommunalen und regionalen Demokratie werden;

5. Folglich in dem Bewusstsein, daß die vorliegende Untersuchung der kommunalen und regionalen Demokratie im Vereinigten Königreich Teil einer umfassenden Verpflichtung des Kongresses ist, den Stand der kommunalen und regionalen Demokratie in den Mitgliedstaaten des Europarats und den Anwärterstaaten zu überprüfen;

6. Im Bewusstsein der Tatsache, daß das Vereinigte Königreich zu den Gründerstaaten des Europarats gehört und daß das Niveau der Gemeindeverwaltung dort, allgemein gesprochen, hoch ist, obgleich ihre Prinzipien und ihre Arbeitsweise sich aufgrund der Besonderheiten des britischen Rechtssystems in vielen Hinsichten von der Rechtslage und Praxis auf dem Kontinent unterscheiden;

7. Die Tatsache begrüssend, daß das Vereinigte Königreich am 3. Juni 1997, d.h. an der letzten Plenartagung des Kongresses, die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung unterzeichnet hat, sowie die Tatsache, daß die Charta am 24. April 1998 ratifiziert wurde und am 1. August 1998 in Kraft treten wird;

8. Die Tatsache begrüssend, daß sämtliche Grundsätze der Charta vom Vereinigten Königreich angenommen wurden und die Charta bereits in mehreren Regierungsdokumenten betreffend Reformen - wie beispielsweise die Übertragung von Befugnissen (devolution) an das schottische Parlament - zitiert worden ist;

9. Seiner Hoffnung Ausdruck gebend, daß die Charta auch weiterhin die von der Regierung geplanten Reformen, vor allem auch den eventuell nächstes Jahr in Arbeit zu nehmenden Entwurf eines neuen Gemeindegesetzes, inspirieren möge;

10. Einräumend, daß sich das britische Rechtssystem insofern stark von den meisten kontinentalen Systemen unterscheidet, als es kein geschriebenes Grundgesetz kennt und weitgehend auf Common Law and Statute (durch richterliche Entscheidung weiterentwickeltem Recht) statt auf allgemeinen Rechtsvorschriften beruht. Das führt unweigerlich zu Schwierigkeiten beim Versuch, allgemeingültige europäische Texte wie die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung anzuwenden. Solche Texte müssen deshalb in einem weiteren Sinne, nicht so sehr nach dem Buchstaben wie nach ihrem Geist, umgesetzt werden. Dabei gilt es, eine vorhandene starke Tradition des Kommunalwesens zu berücksichtigen, selbst wenn diese - auch in der Sicht der Medien, der Politiker und des breiten Publikums, was sich beispielsweise in einer sehr niedrigen Beteiligung an Gemeindewahlen äussern kann - in den vergangenen Jahrzehnten einige schwere Einbussen hat erleiden müssen;

11. Vor diesem Hintergrund die das vergangene Jahr kennzeichnenden, sehr weitreichenden Bestrebungen nach Reformen und Demokratisierung des Staates allgemein und des Gemeindewesens im besonderen begrüssend und anerkennend;

12. In Erwägung dessen, daß die in der vorliegenden Empfehlung enthaltenen Bemerkungen als Beitrag zu einer im Vereinigten Königreich selbst im Gange befindlichen Debatte zu verstehen sind und die Suche nach bestmöglichen Lösungen auch mithilfe der Erfahrungen anderer europäischer Länder unterstützen möchten;

13. Jedoch auch in Anerkennung der mit der Tatsache verbundenen Schwierigkeiten, daß die Zuerkennung von Selbstverwaltung sich auf kein Grundgesetz stützen kann, da ein solches im Vereinigten Königreich nicht existiert, und daß eine Einschränkung souverän durch das Parlament erlassener Gesetze (Acts of Parliament) unter britischem Recht im Prinzip nicht annehmbar erscheint;

14. Die Befunde der Berichterstatter anlässlich ihrer Aufenthalte in London und Edinburgh vom 15.-17. Dezember 1997 und vom 26.-27. März 1998 gebührend zur Kenntnis nehmend;

15. Den britischen Vertretern von Parlament, Regierung, Gemeinden, Universitäten, NROs und anderen Körperschaften, sowie insbesondere auch Frau Hilary Armstrong, Ministerin für das Gemeindewesen, den Vertretern des Local Government International Bureau (des internationalen Amts für Gemeindeverwaltung) und der Convention of Scottish Local Authorities (des schottischen Gemeindeverbands) für ihre ausgezeichnete Mitarbeit an der Erfüllung der Aufgabe der Berichterstatter seinen Dank aussprechend;

16. Die Tatsache begrüssend, daß die britische Regierung ernsthafte Schritte zur Übertragung von Verantwortung getan hat, worunter insbesondere die Einrichtung eines schottischen Parlaments (Scottish Parliament) mit weitgehenden Kompetenzen auch in der Gesetzgebung, die Einrichtung einer walisischen Versammlung (Welsh Assembly) sowie einer strategic authority (Lenkungsbehörde) für London einschliesslich eines gewählten Bürgermeisters;

17. Der Hoffnung Ausdruck gebend, daß diese Übertragung von Befugnissen (devolution) auch in England selbst voranschreiten werde, wo die geplanten Behörden für regionale Entwicklung, sofern die Betroffenen dies wünschen, nach den im Entwurf einer Europäischen Charta der regionalen Selbstverwaltung enthaltenen Richtlinien in demokratisch konstituierte Gebietskörperschaften umgewandelt werden sollten;

18. Insbesondere auch die positiven Resultate der Nordirland-Verhandlungen und die Errichtung einer regionalen Versammlung in diesem Landesteil sowie von Ratsversammlungen für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Nordirland und der Republik Irland begrüssend;

19. In Erwägung der Tatsache, daß dieses wichtige Verhandlungsergebnis betreffend die langwährende Krise in Nordirland der durch den Kongress bereits geäusserten Ansicht entspricht, wonach Friede und Stabilität in Europa dadurch gefördert werden könnten, daß in bestimmten Gebieten ein gewisses Ausmass an Selbstverwaltung gewährt und Organe für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Regionen geschaffen werden;

20. Im Bewusstsein der Tatsache, daß die Gemeinden in Britannien derzeit unter schweren finanziellen Nachteilen wie Abhängigkeit von Zuschüssen aus staatlichen Budgets (zu 80% ihres Haushalts) und anderen Massnahmen, worunter die staatliche Begrenzung der Gemeindesteuern, leiden, sodass der kommunale Handlungsspielraum sowohl hinsichtlich des Tätigkeitsbereichs wie der Ermessensfreiheit der Gemeinden schwerwiegend eingeschränkt ist;

21. Den durch die derzeitige britische Regierung bei zahlreichen Gelegenheiten zum Ausdruck gebrachten Wunsch begrüssend, das Funktionieren der Gemeindedemokratie zu verbessern - dies vor allem in finanzieller Hinsicht, aber auch durch die Erweiterung der kommunalen Zuständigkeitsbereiche, durch die Stärkung der Führungsrolle der Gemeinde zusätzlich zu ihren herkömmlichen Dienstleistungsfunktionen und dadurch, daß ihr ein Initiativrecht zur Verbesserung der Lebensqualität für ihre Bürger auf Gebieten wie dem sozialen Zusammenhalt, der Umwelt usw. erteilt wird;

22. Die Tendenz zur Stärkung der kommunalen Verantwortlichkeit gegenüber den Bürgern - statt der Verantwortung anderen Institutionen gegenüber - als einen grossen Entwicklungsschritt in Richtung einer Basisdemokratie begrüssend;

23. Überzeugt, daß die "Quangos" ("quasi non governmental organisations") sogenannten halbstaatlichen Organisationen, insoweit sie Funktionen ausüben, die einer demokratisch legitimierten kommunalen Kontrolle (wie z.B. durch das schottische Parlament oder die walisische Versammlung) unterstehen könnten und sollten, abgeschafft und ihre Aufgaben den Gemeinden übertragen werden sollten;

24. In Anbetracht dessen, daß die Rolle der Audit Commissions for England and Wales (Rechnungsprüfungsausschüsse für England und Wales) und der Accounts Commission for Scotland (Rechnungsausschuss für Schottland) durchaus annehmbar ist, soweit es sich um die Überprüfung der Legalität der Gemeindeaktivitäten und der korrekten Buchführung handelt, daß sie aber schwieriger zu akzeptieren sein dürfte, wenn es sich um Bereiche wie die Angemessenheit der Gemeindeaktivitäten handelt (es sei denn, kommunale Ratsmitglieder oder Beamte handeln rechtswidrig) oder vor allem, wo es um die Frage des value for money (kostengünstige Lösung) oder, in Zukunft, des best value (preiswerteste Lösung) geht;

25. Zwar die allgemeine Tendenz zur preiswertesten Lösung (best value) begrüssend, wo es sich um die Erbringung von Dienstleistungen für den Bürger handelt, erachtet er dies jedoch grundsätzlich als eine Angelegenheit der politischen Entscheidung im Rahmen kommunaler Selbstverwaltung, sodass die Gemeinde generell die einzige für die Umsetzung dieses Prinzips verantwortliche Institution sein sollte. Das heisst, die Gemeinde sollte die Freiheit haben, ihre Partner für die jeweils preiswerteste Lösung auszuwählen, und die Sanktionen in diesem Bereich sollten keineswegs von der Regierung, sondern einzig und endgültig in regelmässigen zeitlichen Abständen von den Wählern kommen;

26. Empfiehlt sowohl der Regierung als auch dem Parlament des Vereinigten Königreichs, die grossen Reformen auf dem Gebiet des Gemeindewesens im Lichte dieser Empfehlung sowie ihres Anhangs (mit weiteren Einzelheiten aus den Befunden der Berichterstatter) weiterzuführen und insbesondere:

i. einen Gesetzesrahmen auszuarbeiten, worin den Gemeinden eine klare Grundlage und allgemeine Zuständigkeit einschliesslich derjenigen für die Führung des Gemeinwesens zum Wohl ihrer Bürger und übrigen Einwohner gegeben werden;

ii. eine klare Unterscheidung einzuführen zwischen Kompetenzen, die von der nationalen Regierung an die Gemeinde delegiert werden und den gemeindeeigenen Kompetenzen;

iii. die finanzielle Leistungsfähigkeit der Gemeinden in ernstzunehmender Weise zu erhöhen durch den Aufbau eigener Einnahmequellen, deren Anteil denjenigen der staatlichen Subventionen bei weitem übersteigt, und durch die Abschaffung von Praktiken wie der staatlichen Begrenzung der Gemeindesteuern (rate capping) sowie durch eine "Rekommunalisierung" der Gewerbesteuer;

iv. den kommunalen Behörden mehr Verantwortlichkeit gegenüber ihren Bürgern zu geben;

v. die Macht von Drittstellen über die kommunalen Geschäfte in Fragen wie des value for money bzw. best value (kostengünstige bzw. preiswerteste Lösungen) abzubauen;

vi. sicherzustellen, daß gewählte Bürgermeister/Ratsmitglieder usw., die vollzeitlich arbeiten, ein anständiges Einkommen aus dieser ihrer Arbeit erzielen, das sich neben demjenigen der für sie arbeitenden höheren Beamten sehen lassen kann;

vii. dafür zu sorgen, daß die durch das Vereinigte Königreich angenommenen Grundsätze der Europäischen Charta der kommmunalen Selbstverwaltung in das innerstaatliche Recht eingearbeitet und durch die britischen Gerichte als bindend anerkannt werden;
27. Gibt seiner Hoffnung Ausdruck, daß sich die britische Regierung in näherer Zukunft mit der Unterzeichnung und Ratifikation auch noch weiterer Übereinkommen des Europarats im kommunalen und regionalen Bereich einverstanden erklären kann, insbesondere:

- des Europäischen Rahmenübereinkommens über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Gebietskörperschaften oder -behörden [ETS 106] und seiner Zusatzprotokolle [ETS 159 und ETS 169];

- des Übereinkommens über die Beteiligung von Ausländern am öffentlichen Leben auf kommunaler Ebene [ETS 144];

- der Europäischen Charta der regionalen oder Minderheitensprachen [ETS 148];
28. Bietet den betroffenen Behörden des Vereinigten Königreichs seine Unterstützung in Form eingehenderer Besprechungen über Reformpläne oder -gesetze an, wann immer ihnen dies nützlich scheint;
29. Empfiehlt dem Ministerkomitee die Bereitstellung finanzieller Mittel für den Fall, daß die Behörden des Vereinigten Königreichs auf dieses Angebot vonseiten des Kongresses in grösserem Umfang eingehen möchten.

Anhang

VORSCHLÄGE IM HINBLICK AUF DIE AUSARBEITUNG
KOMMUNALER UND REGIONALER REFORMEN
IM VEREINIGTEN KÖNIGREICH

Rechtsgrundlage für die kommunale Selbstverwaltung
30. Es ist zu hoffen, daß die Europäische Charta nicht lediglich als eine Absichtserklärung betrachtet wird, sondern, daß sie durch britische Gerichte - auch durch die sogenannte judicial review (gerichtliche Überprüfungsinstanz) anwendbar gemacht wird. Obwohl feststeht, daß das britische Parlament in diesem Zusammenhang souverän bleibt und Gemeinden dadurch als "vom Gesetz hervorgehend" betrachtet werden, die jederzeit durch ein sogenanntes Act of Parliament (parlamentarisches Gesetz) abgeschafft werden können, wird es gewünscht, daß gemäß Artikel 2 der Europäischen Charta Schritte unternommen werden, damit diesem Prinzip eine rechtliche und quasi-verfassungsmässige Anerkennung eingeräumt werden kann, vielleicht im künftigen Gesetz über kommunale Selbstverwaltung.

Konzept der kommunalen Selbstverwaltung
31. Obwohl sich der Zuständigkeitsbereich jeder öffentlichen Behörde einschließlich der kommunalen Körperschaften von Machtbefugnis und Souveränität des Parlaments vom Vereinigten Königreich herleitet, hat nichtsdestoweniger das Parlament kommunalen Körperschaften ganz besondere und getrennte Befugnisse und Pflichten in so bedeutenden Bereichen wir Raumordnung, Bildungs-, Gesundheits-, Wohnungswesen und Abfallbewirtschaftung übertragen. Dies hatte zur Folge, daß gemäß Artikel 3 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung kommunale Körperschaften einen bedeutenden Teil der öffentlichen Angelegenheiten in eigener Verantwortung und zum Wohl ihrer Einwohner regeln und führen können.

Umfang der kommunalen Selbstverwaltung
32. Der Gedanke, den Gemeinden in Ergänzung ihrer Dienstleistungsfunktion eine allgemeine Befugnis zur Führung ihres Gemeinwesens zu erteilen, sollte gefördert werden. Das Gesetz müsste den Gemeinden das Recht zusprechen, sich nach Gutdünken "mit allen Angelegenheiten zu befassen, die nicht von ihrer Zuständigkeit ausgeschlossen oder einer anderen Stelle übertragen sind". In der Tat könnte das britische Rechtssystem die Entwicklung einer allgemeinen kommunalen Zuständigkeit auf allen nicht einer anderen Behörde übertragenen Gebieten schwierig gestalten. Aber die vorgesehene allgemeine Befugnis zur Gemeindeführung als Initiativrecht zur Hebung des Wohlergehens der Bürger würde wahrscheinlich den in Artikel 4 Abschnitt 2 der Charta enthaltenen Gedanken im wesentlichen abdecken.

33. Artikel 4 Abschnitt 3 enthält eine Definition von Subsidiarität. Es wäre sicherlich wünschenswert, eine derartige Bestimmung in ein zukünftiges Gesetz über generelle Aspekte des Gemeindewesens aufzunehmen.

34. In Britannien gibt es heute ungefähr 900 "Quangos", von denen 654 mit dem National Health Service (dem staatlichen Gesundheitsdienst) verbunden sind. Von den 230 übrigen sind aber viele in Bereichen tätig, in denen man eigentlich kommunale Aktivitäten erwarten würde. Es kann bezweifelt werden, daß diese Praxis mit dem in Artikel 4 Abschnitt 3 der Charta formulierten Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist. Als äusserst positiv ist die Tatsache zu begrüssen, daß die "Quangos" von Schottland und Wales in allen Bereichen, für die das schottische Parlament oder die walisische Versammlung verantwortlich sein werden, unter deren Oberhoheit kommen und somit einer echten demokratischen Kontrolle unterworfen sein werden. Ganz allgemein ist zu hoffen, daß die Funktionen der "Quangos" eines Tages von Organen demokratisch gewählter Gemeinden übernommen werden.

35. Was die in Artikel 4 Abschnitt 6 vorgesehenen Anhörungen betrifft, so kann die im Vereinigten Königreich neu eingeführte Praxis der Partnerschaftstreffen zwischen Zentralstaat und Kommunen unter Mitwirkung zahlreicher Minister als eine ausgezeichnete Neuerung erachtet werden.

36. Hinsichtlich der internen Strukturen der Kommunalverwaltung würde die Lord Hunt Bill ein weites Experimentierfeld, einschliesslich der Direktwahl von Bürgermeistern, für die Stärkung der Lokaldemokratie eröffnen. Es ist sehr zu hoffen, daß dieses Gesetz durch das Parlament angenommen und nicht etwa aus zeitlichen Gründen fallengelassen wird.

Schutz der Gemeindegrenzen
37. Im Hinblick auf die Entwicklung hin zur Regionalisierung in England und zum Übergang von den District Councils (Stadträten) zu unitary authorities (einheitlichen Gebietskörperschaften) darf bei allfälligen Änderungen von Gemeindegrenzen Artikel 5 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung nicht übersehen werden. Dasselbe gilt für Schottland, falls das neue schottische Parlament die Grenzen zwischen den bestehenden einheitlichen Gebietsbehörden ändern sollte.

Verwaltungsstrukturen und Mittel für die kommunalen Aufgaben
38. Obwohl es offenbar kein allgemeines Gesetz oder Ausbildungssystem für Kommunalbeamte gibt, scheint es auch nicht, dass irgendeine der bestehenden Regeln die britischen Gemeinden daran hindern könnte, hochqualifiziertes Personal nach Leistung und Befähigung einzustellen, wie dies Artikel 6 Abschnitt 2 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung vorsieht;

39. Ein grosses Problem wurde allerdings festgestellt: es betrifft die Praxis des surcharge (das sind bedeutende Geldbussen, die Gemeindebeamten als Ersatz für vorsätzlich oder "durch grobe Fahrlässigkeit" herbeigeführte finanzielle Verluste der Kommune auferlegt werden können). Es ist besonders diskriminatorisch, dass diese Praxis nur auf Kommunalbeamte und -räte und auf keine anderen öffentlichen oder halböffentlichen Verantwortungsebenen wie zentralstaatliche Behörden oder "Quangos" Anwendung findet. Diese Praxis dürfte revidiert werden, wenngleich eine individuelle Verantwortlichkeit für eindeutig rechtswidrige oder die geltenden finanziellen Regeln missachtende Handlungen in irgendeiner Weise - dann aber auf allen einschlägigen Ebenen - aufrechterhalten werden könnte.

Die Bedingungen, unter welchen kommunale Verantwortungen wahrgenommen werden
40. Es scheint, dass vollzeitlich für Gemeinden arbeitende Bürgermeister, Stellvertretende Bürgermeister oder andere Ratspersonen derzeit nur ein Viertel oder einen noch kleineren Teil dessen verdienen, was leitende Beamte der selben Gemeinde bekommen. Dieser Umstand fördert nicht die Übernahme demokratischer Aufgaben durch hoch qualifizierte Ratspersonen. Überdies könnten sich solche Ratspersonen gegenüber ihren höheren Beamten in einer peinlichen Situation befinden.

41. Die Bemerkungen betreffend "surcharge" gelten ebenso für gewählte Ratspersonen und hohe Beamte.

Verwaltungsaufsicht über die Tätigkeit von Gemeinden
42. Die sehr umfassenden Aufgaben der Audit Commission for England and Wales und die etwas weniger umfassenden der Accounts Commission for Scotland (beides Rechnungsprüfungskommissionen) wecken Zweifel an ihrer Vereinbarkeit mit Artikel 8 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung. Obschon ins Feld geführt wurde, dass diese Kommissionen nicht das Recht haben, direkt in Gemeindeangelegenheiten einzugreifen und daher keine Macht zur Ausübung von "Kontrolle" haben, ausserdem keine unmittelbar staatlichen Organe, sondern unter staatlicher Kontrolle gebildete unabhängige Komitees seien, so ist doch nicht auszuschliessen, dass solche Kommissionen hinsichtlich der Überwachung der kommunalen Aktivitäten im Vergleich zu Artikel 8 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung eine übermässige Rolle ausüben. Dies gilt vor allem dann, wenn die Kommissionen auf dem Gebiet des "value for money" ( oder, zukünftig, des "best value") intervenieren, wo sogar die Veröffentlichung von Berichten über die kommunale Tätigkeit, z.B. vor Gemeindewahlen, sich schwerwiegend auf die autonome Entscheidungsbildung der Gemeinde auswirken kann. In einer Demokratie sollte die grösstmögliche Sanktion auf allen betroffenen Ebenen immer das Wählerverhalten sein. Jede Regierungspolitik sollte, was die Führungsqualitäten betrifft, dem Urteil des Wählers genügend zutrauen. Hinsichtlich der Gesetzestreue und der korrekten Buchführung liegen die Dinge natürlich anders. Das mag auch hinsichtlich die Rechtschaffenheit der kommunalen Ratsmitglieder oder Beamten gelten, wenn ihr Verhalten gegen die Gesetze, die Regeln der finanziellen Rechenschaft oder anerkannte ethische Grundsätze verstösst.

43. In Anbetracht dieser Argumente sowie des Artikels 8 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung sollte eine Unterscheidung ins Auge gefasst werden zwischen einer administrativen Grundaufsicht in rechtlicher und finanzieller Hinsicht und einer Führungsberatung in qualitativen Belangen. Für eine Führungsberatung sollten die Gemeinden ihre Berater frei wählen und über die Befolgung der Ratschläge frei entscheiden können. Auch ist die an die Gemeinden gerichtete Äusserung des Premierministers schwer verständlich, wenn er sagt: "Wenn Sie nicht willens oder unfähig sind, nach der modernen Tagesordnung zu arbeiten, dann wird sich die Regierung nach anderen Partnern umsehen müssen, die Ihre Rolle übernehmen". Auch wenn eine solche Aussage im gegebenen Kontext wohl das kommunale Verantwortungsbewusstsein stärken sollte, so könnte sie doch auch interpretiert werden als Weigerung, die grundlegenden Prinzipien der kommunalen Selbstverwaltung anzuerkennen.

44. Es ist davon auszugehen, daß die allererste Absicht der Regierung darin liegt, die kommunale Selbstverwaltung voranzutreiben, die eher den Bedürfnissen und Erwartungen der Wählerschaft entspricht. Es wird gewünscht, daß kommunale Körperschaften in der Lage sein werden, diese Gelegenheit wahrzunehmen und somit ihre demokratische Legitimität, Aufgeschlossenheit und Verantwortungsbewußtsein zu festigen. Die Rolle der Gemeinden sollte darin bestehen, moderne Stadträte zu bilden mit dem Ziel, zukunftsorientiert und den Einwohnern nahestehend zu bleiben. Auf diese Weise würden sie in der Lage sein, die Gemeinschaft besser zu leiten und eine hochwertige Stadtverwaltung anbieten zu können.

45. Im Bereich der Verwaltungsaufsicht erscheinen schliesslich auch Bräuche wie das rate capping (staatliche Begrenzung der Gemeindesteuern) und compulsory competitive tendering (Zwang zur Mitabgabe von Angeboten bei öffentlichen Ausschreibungen) nicht vereinbar mit Artikel 8 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung. Es ist daher zu begrüssen, dass die Regierung willens scheint, solche Praktiken fallen zu lassen.

46. Der Unterschied zwischen den kommunalen Körperschaften eigenen und den von der Regierung übertragenen Aufgaben sollte besser hervorgehoben werden. Dieser Unterschied würde somit der Regierung es erlauben, im Bereich der übertragenen Aufgaben, die Wirksamkeit der durch kommunale Körperschaften ausgeübten Tätigkeiten gemäß Artikel 8, Absatz 2 der Charta zu überprüfen.

47. Im Gefolge der Nolan-Commission wird Gewicht gelegt auf das Erfordernis eines Verhaltenskodex für kommunale Abgeordnete. Die Bestrebungen des Kongresses der Gemeinden und Regionen Europas, der ähnliche Ziele verfolgt, stehen hiermit im Einklang. Ein solcher Kodex ergäbe eine seriöse Grundlage für die Verwaltungsaufsicht der kommunalen Tätigkeit (Artikel 8 der Charta) und könnte auch die Frage der "Rechtschaffenheit" abdecken, die bisher von den Rechnungsprüfungskommissionen gestellt wird.

Finanzmittel der Gemeinden
48. Die gegenwärtige Situation im Vereinigten Königreich, bei welcher 80% des kommunalen Einkommens aus staatlichen Zuschüssen und nur 20% aus kommunalen Steuern und Abgaben stammen, kann kaum als mit Artikel 9 der Charta im Einklang stehend erachtet werden. Die Absichtserklärung der britischen Regierung, die finanziellen Möglichkeiten der Gemeinden zu stärken und ihnen einen grösseren Anteil an Eigeneinkommen zu gewähren, ist deshalb nur zu begrüssen. Das gilt vor allem auch für die Absicht, die Gewerbesteuern (Business rate) wieder den Gemeinden zu überlassen, auch wenn die grundlegenden Parameter hierfür - um ein diskriminatorisches Vorgehen der Gemeinden, wie es früher vielleicht vorkam, zu vermeiden - auf nationaler Ebene festgelegt werden müssen.

49. Es muss allerdings eingeräumt werden, dass nach dem gegenwärtigen System 80% der staatlichen Zuschüsse nichtgebundener Art und nur 20% an spezifische Verwendungszwecke gebunden sind. Und es ist zu sagen, dass die Ausgaben der Gemeinden 25% der gesamten öffentlichen Ausgaben in Britannien ausmachen.

50. Das Vorhaben der britischen Regierung, das compulsory competitive tendering (Zwang zur Mitabgabe von Angeboten bei öffentlichen Ausschreibungen) und das überall praktizierte rate capping abzuschaffen, weist in die richtige Richtung. Das hindert die Regierung nicht daran, Finanzausgleichsverfahren oder gleichwertige Massnahmen zum Schutz finanzschwächerer Gemeinden einzuführen, wie dies in Artikel 9 Abschnitt 5 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung festgehalten ist. Doch solche "Massnahmen dürfen die Entscheidungsfreiheit der kommunalen Gebietskörperschaften in ihrem eigenen Verantwortungsbereich nicht schmälern".

51. Es muss auch eingeräumt werden, dass die Regierung den Wunsch haben könnte, einen allgemeinen Rahmen festzulegen, um eine Explosion der Gemeindeausgaben, die die grundlegenden wirtschaftlichen und finanziellen Bilanzen des Landes verschlechtern könnte, zu verhindern. Ein solcher Rahmen müsste jedoch aufgrund allgemeingültiger Richtlinien und nicht aufgrund von Einzelentscheiden betreffend bestimmte Gemeinden erstellt werden. Auch müsste dabei Artikel 9 Abschnitt 6 der Charta betreffend die Anhörung der Gemeinden zu der Frage, in welcher Weise ihnen umverteilte Mittel zugeteilt werden sollen, befolgt werden.

52. Es sollte überdies sichergestellt werden, dass die Gemeinden innerhalb der hierfür in Artikel 9 Abschnitt 8 der Charta definierten Grenzen Zugang zum Kapitalmarkt haben.

Rechtsschutz der kommunalen Selbstverwaltung
53. Es scheint, dass das britische Recht den Gemeinden das Recht zuerkennt, vor Gericht, und in entsprechenden Fällen vor die oberste Rechtsprechung, das judicial review (gerichtliche Überprüfungsinstanz), zu gehen. Ein Problem kann sich hier aus der Tatsache ergeben, dass es ohne ein schriftliches Grundgesetz für eine Gemeinde schwierig sein kann, zu begründen, dass eine spezielle Vorschrift eines Gesetzes oder einer Verordnung mit einer bestimmten verfassungsmässigen Vorschrift nicht im Einklag steht. Ein zukünftiges Gemeindegesetz sollte bestimmen, dass in solchen Fällen eine Bezugnahme auf die Vorschriften der Europäischen Charta möglich ist.

Verpflichtungen
54. Es ist zu begrüssen, dass das Vereinigte Königreich die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung als ganze ratifiziert hat, ohne einzelne Bestimmungen auszunehmen. Daran erweist sich das hohe Vertrauen, das die britischen Behörden in ihre Gemeinden setzen.

55. Es würde sich allerdings lohnen, wenn die britischen Behörden dafür sorgen würden, dass der Text der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung in hohem Masse, vor allem auch bei den Gerichten und anderen Gremien wie den Rechnungs-prüfungskommissionen, bekanntgemacht würde und die Gerichte sowie das judicial review in zukünftigen Verfahren auf ihn Bezug nehmen würden.

Körperschaften, auf welche die Charta Anwendung findet
56. Die Charta ist nicht auf Parish councils (Gemeindebezirke, kleinste britische Verwaltungseinheiten) anwendbar. Das ist dadurch zu rechtfertigen, dass diese nicht als "ausgewachsene" kommunale Gebietskörperschaften gelten können.

57. Ebenso verständlich ist es, dass die Charta in der gegenwärtigen Lage nicht auf die Kommunen Nordirlands angewendet werden kann. Doch ist zu hoffen, dass dies, wenn der Friedensprozess voranschreitet, zu einem späteren Zeitpunkt möglich ist.

58. Die Charta wäre nicht anwendbar auf das schottische Parlament und auf die walisische Versammlung. Wahrscheinlich ist dies eine zutreffende Sicht. Der Kongress hofft aber, dass zu einem späteren Zeitpunkt die Europäische Charta der regionalen Selbstverwaltung, sofern sie vom Ministerkomitee angenommen wird, auf diese Regionen sowie hoffentlich auch auf Regionen in England selbst Anwendung findet. Zur Zeit ist in England nämlich nur die Schaffung regionaler Entwicklungsämter vorgesehen, die eine Art von "Quangos" wären. Doch ist die Ansicht des Ministers gebührend zur Kenntnis genommen worden, wonach diese Ämter eher als Ausgangs- denn als Endpunkt einer Entwicklung anzusehen sind. Daher besteht Hoffnung, dass im Zuge des allgemeinen Devolutionsprozesses, den die gegenwärtige Regierung eingeleitet hat, diese Ämter später in demokratisch legitimierten Regionen aufgehen, auf welche der Entwurf der Europäischen Charta der regionalen Selbstverwaltung angewendet werden kann.

59. Das schottische Parlament und die walisische Versammlung werden Machtbefugnisse über die Gemeinden der betreffenden Regionen haben. Im Falle Schottlands schliessen diese die volle Gesetzgebungsbefugnis für die Kommunen ein. Es wurde klargestellt, dass vom schottischen Parlament die Umsetzung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung in seiner internen Gesetzgebung erwartet wird. Dies wird sich auch aus Artikel 7 der Europäischen Charta der regionalen Selbstverwaltung ergeben, sofern diese in ihrer zur Zeit vorliegenden Form angenommen wird.

1 Diskussion und Annahme durch den Kongress am 28. Mai 1998, 3. Sitzung (siehe Dok. CG (5) 7, Empfehlungsentwurf vorgelegt von Herren H. FRENDO und H.U STOECKLING, Berichterstatter)