Entschliessung 91 (2000)1 betreffend bürgerschaftliche Verantwortung und Beteiligung am öffentlichen Leben
Der Kongress
1. Nimmt den von Herrn Haas über "Bürgerschaftlichkeit und Beteiligung am öffentlichen Leben" vorgelegten Bericht zur Kenntnis, welchem die unter der Leitung der Herren Tchernoff und Hofmann unternommenen Arbeiten der Arbeitsgruppe über die Rechte und Pflichten der Bürger vorangegangen waren;
2. Unterstreicht, dass die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung in ihrer Präambel bekräftigt, dass das Recht der Bürger, sich an der Führung der öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen, zu den demokratischen Grundsätzen gehört, die allen Mitgliedstaaten des Europarats gemeinsamen sind, und dass dieses Recht auf der kommunalen Ebene am unmittelbarsten ausgeübt werden kann;
3. Ist der Überzeugung, dass eine enge Beziehung zwischen bürgerschaftlicher Verantwortung einerseits und der Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten auf kommunaler und regionaler Ebene andererseits besteht;
4. Erinnert in diesem Zusammenhang an mehrere einschlägige Texte des Europarats, einschliesslich des KGRE, worunter insbesondere:
- das Übereinkommen über die Beteiligung von Ausländern am kommunalen öffentlichen Leben (1992);
- die Europäische Charta über die Beteiligung der jungen Menschen am Leben der Gemeinde und der Region, welche mit der Entschliessung 237 (1992) der KGRE angenommen wurde;
- die Entschliessung 243 (1993) der KGRE über Bürgerlichkeit und tiefe Armut: die Erklärung von Charleroi;
- die Entschliessung 15 (1995) über Gemeindedemokratie: ein Projekt der Bürgerschaftlichkeit;
5. Stellt fest, dass das Ministerkomitee am 7. Mai 1999 eine Erklärung und ein Programm betreffend die Erziehung zu einer auf die Rechte und Pflichten der Bürger gegründeten demokratischen Bürgerschaftlichkeit angenommen hat;
6. Hält es für richtig, alle Hindernisse zu beseitigen, die sich der Entfaltung eines echten Prozesses wachsenden Verantwortungsbewusstseins und zunehmender Beteiligung der Bürger am öffentlichen Leben entgegenstellen;
7. Heisst deshalb die "Leitprinzipien für eine Politik verantwortungsvoller Beteiligung der Bürger am Leben der Gemeinde und der Region", so wie diese als Anhang zu der vorliegenden Entschliessung erscheinen, gut;
8. Fordert die Gemeinden und Regionen Europas auf, die genannten "Leitprinzipien" zu beachten:
- indem sie ihnen beispielsweise einige öffentliche Arbeitssitzungen widmen;
- indem sie für eine weite Verbreitung der Leitprinzipien unter den Bürgern aller Kreise sorgen;
- indem sie dem Sekretariat des KGRE ihre Kommentare sowie ihre Vorschläge für die Umsetzung der Leitprinzipien zur Kenntnis bringen;
9. Fordert die europäischen Bürger und ihre Vereine auf, den Leitprinzipien ganz besondere Aufmerksamkeit zu widmen;
10. Ersucht seinen hierfür zuständigen Ausschuss, diese Frage zum gegebenen Zeitpunkt im Kontext der bis dahin erhaltenen Resultate neu zu prüfen, um gegebenenfalls zu einer präziseren und bindenderen Neuformulierung dieser Prinzipien zu gelangen.
ANHANG
Leitprinzipien für eine Politik verantwortungsvoller Beteiligung der
Bürger am Leben der Gemeinde und der Region
I. Der Bürger in seiner Verantwortung für die Gemeinschaft - Bürgerpflichten –
Die Mitgliedsstaaten des Europarates verpflichteten sich, in der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (1950) sowie in der europäischen Sozialcharta (1961), unverfügbare Menschen- und Bürgerrechte als Grundlage ihrer Rechtsordnungen anzuerkennen und zu garantieren. Sie bekannten sich damit zu der Aufgabe, als Rechts- und Sozialstaaten jeder Person jenes Höchstmaß an Rechten und Freiheiten zu sichern, das sich mit den gleichen Rechten und Freiheiten aller Personen vereinbaren läßt, und jedem Bürger die Mittel und Chancen zu bieten, ein gutes Leben zu führen. Die Anerkennung der Menschen- und Bürgerrechte als Basis der Rechtsordnung ist eine notwendige Bedingung menschenwürdigen Zusammenlebens.
Das friedliche und gedeihliche Gelingen dieses Zusammenlebens hängt jedoch nicht nur davon ab, daß die Rechtsordnung diese Rechte und Freiheiten garantiert. Es kommt auch wesentlich darauf an, wie die Bürger diese Rechte und Freiheiten nützen und verwirklichen, an welchen Werten und Sinnoptionen sie sich in ihren Lebensplänen und ihrer Lebensführung orientieren und welche Einstellungen sie gegenüber ihren Mitbürgern in Familie, Gesellschaft und im politischen Bereich praktizieren.
Alle Rechte verweisen auf Pflichten, die rechtlichen Charakter haben. Die Rechtsordnung sanktioniert diese Rechtspflichten und setzt so das legale Verhalten der Bürger durch. Pflichten im Rahmen des Ethos, also ethisch-moralische Pflichten, unterscheiden sich von Rechtspflichten. Einerseits gehen sie als Normen des Lebens inhaltlich über das hinaus, was Recht und Gesetz im freiheitlichen Rechtsstaat fordern können. Andererseits beziehen sie sich auf die Werte und Sinnoptionen des Guten und damit auf das Gewissen, die Gesinnung, die Verantwortung und Einstellung der Person, während das Recht nur das äußere Verhalten normiert.
Für das Gelingen eines menschenwürdigen Zusammenlebens stellt die Erfüllung der Rechtspflichten zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dar. Nur wenn die durch Rechte und Freiheiten garantierten Handlungsspielräume der Bürger ethisch-moralisch gestaltet werden, kann Zusammenleben menschenwürdig gelingen.
Der Kongreß der Gemeinden und Regionen Europas ruft daher die Bürger der Mitgliedstaaten des Europarates auf, die nachstehenden ethisch-moralischen Pflichten als Bürgerpflichten zu bedenken, anzuerkennen und zu erfüllen.
Verantwortung für das eigene Leben
Jede Person soll bestrebt sein, innerhalb der Grenzen des Rechts einen im Rahmen ihrer Interessen, Fähigkeiten und Möglichkeiten vernünftigen Lebensplan zu entwickeln und verantwortlich zu verfolgen.
Jede Person soll sich bemühen, ihre natürlichen Anlagen zu kultivieren und im Rahmen ihrer Möglichkeiten Qualifikationen auszubilden, welche die Verwirklichung ihres Lebensplans begünstigen. Außerdem soll sie Sorge tragen für ihre Gesundheit.
Eine verantwortlich-planvolle Lebensgestaltung setzt voraus, daß die Person eine gewisse Ordnung in die Vielfalt ihrer Bedürfnisse und Neigungen bringt. Notwendiges, Nützliches und Angenehmes zu unterscheiden weiß und nach Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle strebt.
Darum soll sie bestrebt sein, das Entstehen krankhafter bzw. suchtartiger Abhängigkeiten, die eine vernünftige Lebensführung behindern, nach Kräften zu vermeiden.
Jede Person soll im Rahmen ihres Lebensplans jene Zuständigkeiten eigenverantwortlich wahrnehmen, die sie aus eigenen Kräften wahrzunehmen vermag und die Hilfestellung der Gesellschaft nur dann beanspruchen, wenn die Anforderungen die eigenen Kräfte übersteigen.
Jede Person sollte sich Rechenschaft geben über die Werte und Sinnoptionen, welche die Basis ihres Lebensplans bilden. Sie sollten sich insofern nicht nur um die Ausbildung fachlich-spezieller Qualifikationen bemühen, sondern auch um jene "Bildung des Herzens", ohne welche niemand ein guter Mensch sein kann.
Verantwortung gegenüber den Mitmenschen
Aus den Menschenrechten folgen Rechtspflichten gegenüber den Mitmenschen. Jede Person sollte sich diese Pflicht moralisch zu eigen machen und sich in ihrer Einstellung gegenüber den Mitmenschen am Ethos der Menschenrechte orientieren.
Daraus folgt die Pflicht, Leben, Würde und Freiheit jedes Menschen zu achten, sich für Gerechtigkeit und Solidarität einzusetzen und Toleranz zu üben gegenüber den Überzeugungen anderer.
Niemand darf Menschen wegen ihres Geschlechts, ihrer ethischen Herkunft, ihrer Nationalität, Religion, Kultur oder Sprache diskriminieren.
Jede Person sollte bestrebt sein, in der Verwirklichung ihres Lebensplans Eigenschaften auszubilden, die Menschen wechselseitig voneinander wünschen. Diesen Grundsatz der Wechselseitigkeit drückt die goldene Regel aus: Behandle andere so, wie Du auch von ihnen behandelt werden willst.
Hierher gehört die Bereitschaft, Mitmenschen wohlwollend, höflich und hilfsbereit zu begegnen sowie die Wahrhaftigkeit der Rede und des Handelns.
Im Falle von Interessenkonflikten mit anderen sollte jede Person bestrebt sein, den Konflikt nach Möglichkeiten verständigungsorientiert und kompromißbereit beizulegen, statt ihn strategisch auszutragen.
Jede Person sollte das Ansehen und die Ehre des Mitmenschen, seine Privatsphäre und sein Eigentum als Spielraum seiner Freiheit respektieren.
Jede Person sollte sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für den Schutz der natürlichen Umwelt und die sparsame Nutzung knapper Ressourcen einsetzen, damit auch zukünftige Generationen unter menschenwürdigen Bedingungen leben können.
Partnerschaft und Familie
Alle Beziehungen von Frauen und Männern sollen geprägt von einem Ethos der gleichen Würde, welches sexistische Vorurteile und Verhaltensweisen ausschließt.
Geschlechtspartnerschaften sollen bestimmt sein vom gegenseitigem Respekt, Fairneß, Verständnis und rücksichtsvoller Hilfsbereitschaft, Abhängigkeit - auch sexuelle - und Ausbeutung widersprechen dem Ethos einer menschenwürdigen Partnerschaft.
Aufgabe der Ehegatten ist es, ihre eheliche Bindung in Liebe, Treue und fürsorglichen gegenseitigem Beistand zu gestalten und in guten und schlechten Zeiten zu bewähren.
Väter und Mütter sind verpflichtet, nach Kräften die große Verantwortung für ihre Kinder wahrzunehmen, die sich aus ihrer Elternschaft ergibt. Ihre Liebe zu den Kindern, ihr Engagement in Erziehung und Fürsorge, aber auch ihr Verständnis zueinander beeinflussen maßgeblich die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder.
Niemand darf Kinder ausbeuten, mißhandeln oder mißbrauchen.
Jedermann soll dazu beitragen, das Verhältnis der Generationen menschenwürdig zu gestalten, insbesondere sollen Kinder ihre Eltern ehren und ihnen besonders im Alter Hilfe und Beistand bieten.
Gesellschat
Jeder sollte sich bemühen, den Menschen in seinem Wohnumfeld ein guter Nachbar zu sein, seinen Nachbarn rücksichtsvoll, freundlich und hilfsbereit zu begegnen und Konflikte verständigungsbereit beizulegen.
Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums sollte über die rechtlichen Regelungen hinaus die persönliche Verantwortung des Eigentümers bestimmen.
Die wirtschaftliche Sicherung jedes Hauhalts sollte im Sinn des Subsidiaritätsprinzips nach Möglichkeit primär durch eigene Erwerbsarbeit gewährleistet werden. Das setzt das Bemühen voraus, Erwerbsarbeit zu suchen, und die Bereitschaft, sie sorgfältig und zuverlässig zu leisten.
Arbeit in Unternehmen und Verwaltung ist stets Kooperation von Personen. Darum sollen alle, vor allem jene, die eine leitende Funktion innehaben, jeden Mitarbeiter korrekt und fair behandeln und seine Würde als Person respektieren.
Auch gegenüber Konkurrenten im marktwirtschaftlichen Wettbewerb ist Wahrhaftigkeit, Achtung und Fairneß geboten.
Die Freiheit der Medien verweist auf die besondere Verantwortung der in diesem Bereich Tätigen, wahrheitsgemäß und ausgewogen zu informieren, die Privatsphäre von Personen zu respektieren, Anstand und Sitte zu beachten und die Verherrlichung von Gewalt und Brutalität zu unterlassen.
Jede Person sollte in jeder beruflichen Tätigkeit stets jene Pflichten erfüllen, die sich allgemein aus der Verantwortung gegenüber Mitmenschen ergeben und die in dieser Erklärung genannt wurden. Kein Beruf dispensiert von diesen Pflichten. Sie gelten uneingeschränkt auch gegenüber ausländischen Mitbürgern.
Politischer Bereich
Demokratische Politik auf der Basis der Bürgerrechte setzt mündige, politisch interessierte und demokratisch eingestellte Bürger voraus, die sich ihrer politischen Mitverantwortung bewußt sind. Mit politisch abstinenten Bürgern ist kein demokratischer Staat zu machen.
Bürgerschaftlich demokratische Verantwortung schließt die Bereitschaft ein, sich über politische Entwicklungen zu informieren, an der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung mitzuwirken und sich als aktiver, engagierter Staatsbürger am politischen Geschehen zu beteiligen.
Für das Gelingen eines humanen Zusammenlebens ist es wichtig, daß eine Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen initiativ werden, gemeinnützige Einrichtungen bilden, assoziative Selbsthilfe organisieren und durch ihr soziales und kulturelles Engagement Solidarität üben. Nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten sollten Bürger bereit sein, solche Initiativen zu fördern, in politischen Organisationen, Bürgerinitiativen oder Projekten mitzuarbeiten, politische Funktionen zu übernehmen und sich für ehrenamtliche Aufgaben zur Verfügung zu stellen.
Basis der funktionsfähigen Demokratie im Staat ist die lebendige Demokratie vor Ort in Kommunen und Regionen. Besonders in diesem überschaubaren Selbstverwaltungsbereichen sollten die Bürger aktiv die diversen Mitwirkungs- und Kontrollrechte wahrnehmen. Der Jugend könnten sie damit eine Schule gelebter Demokratie bieten.
Jeder Bürger sollte die auf den Menschen- und Bürgerrechten basierende Rechts- und Verfassungsordnung achten und die demokratisch legitimierten Gesetze gewissenhaft befolgen.
Darüber hinaus sollte jeder die Zivilcourage aufbringen, die Grundwerte des demokratischen Rechts- und Verfassungsstaates gegen extremistische und menschenrechtswidrige Einstellungen und Äußerungen zu verteidigen sowie gegen die kriminelle Gefährdung von Personen und vandalistisches Verhalten einzuschreiten bzw. zu protestieren.
II. Stärkung der Bürgerbeteiligung auf kommunaler und regionaler Ebene - Bürgerrechte -
1. Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der lokalen Politik muß auf allen politischen und administrativen Ebenen gewährleistet werden. Der Kongreß der Gemeinden und Regionen Europas ist in Übereinstimmung mit der Agenda 21 der Auffassung, daß "eine der Grundvoraussetzungen für die Erzielung einer nachhaltigen Entwicklung die umfassende Beteiligung der Öffentlichkeit an der Entscheidungsfindung ist".
Dies setzt vor allem voraus,
- die Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips, wonach die öffentlichen Geschäfte nur insoweit durch die öffentliche Verwaltung besorgt werden sollten, als sie nicht auch durch die Bürger und deren freiwillige Vereinigungen erfolgreich wahrgenommen werden können,
- das Recht der Bürgerinnen und Bürger über jedes größere Projekt oder Vorhaben schon im Vorfeld der Entscheidungen informiert und gehört zu werden (Transparenz fördert den Sinn für das Gemeinwohl !);
- die Nutzung der neuen Informationstechnologien zur umfassenden Information der Bürgerinnen und Bürger sowie zur Ermittlung ihrer Bedürfnisse und Probleme,
- die Schaffung eines Systems der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den bediensteten Fachkräften einerseits und den Bürgern und deren Vertretern andererseits,
- die größtmögliche Einbeziehung aller Einwohner in das politische Leben, seien sie Staatsangehörige oder nicht.
2. Der Kongreß der Gemeinden und Regionen Europas ruft die Städte und Gemeinden auf, den Rahmen demokratischer Beteiligung innerhalb der nationalen Gesetzgebung zu überprüfen, ihn ggf. zu erweitern und zu intensivieren.
Bürgerbeteiligung beschränkte sich bislang vor allem auf die Beteiligung an Wahlen und Einflußmöglichkeiten im vorparlamentarischen Raum. Selbstverwaltung bedeutet jedoch mehr. Selbstverwaltung bedeutet auch die Aktivierung der Beteiligten für ihre eigenen Angelegenheiten mit dem Ziel, das Wohl der Einwohner zu fördern und die geschichtliche und heimatliche Eigenart zu wahren.
Hierbei ist den veränderten Motivlagen, die dem Engagement der Bürgerinnen und Bürger zugrunde liegen, Rechnung zu tragen. War früher für die Übernahme von Ehrenämtern häufiger Pflichtgefühl maßgebend, so hat heute die durch die ehrenamtliche Tätigkeit vermittelte persönliche Befriedigung und Erfüllung einen höheren Stellenwert erhalten. Wichtig ist für Menschen heute vielfach die Berücksichtigung persönlicher Fähigkeiten und Neigungen sowie der Wunsch, sich in einem beschränkten zeitlichen Rahmen für Projekte zu engagieren.
3. Um das Engagement der Bürger für die kommunalen Belange zu fördern, sollten die Gemeinden die folgenden politischen Ziele beachten und sich für deren Umsetzung einzusetzen:
Verbesserung der Transparenz
Öffentlichkeit der Tagesordnungen und Beschlüsse der Gemeindeversammlungen und -verwaltungen.
Die Tagesordnungen und Beschlüsse der Gemeindeversammlungen und -verwaltungen sollten nicht nur in der durch das Gesetz vorgeschriebenen Weise publiziert, sondern dem breiten Publikum in vielerlei Weisen wie etwa durch Postwurfsendungen an die Haushalte, durch die örtliche Presse, Rundfunk- und Fernsehsender, durch Verteilung in Cafés, Klubs und anderen Treffpunkten sowie auf Internet-Websites zur Kenntnis gebracht werden.
Die Organisation der Verwaltung und die verantwortlich handelnden Personen sollten den Bürgerinnen und Bürgern sowie den Einwohnern bekanntgemacht werden.
Öffentlichkeit laufender Entscheidungsfindungen
Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Sitzungen der Gemeindevertretungen und ihrer Ausschüsse ist einer der wichtigsten Grundsätze demokratischer Strukturen. Hiermit wird allen Bürgern die Möglichkeit gegeben, die Arbeit der gewählten Vertreter zu verfolgen. Ferner wird das allgemeine Interesse an der Selbstverwaltung geweckt und gefördert sowie der Gedanke der Selbstverwaltung im Bewußtsein der Bürgerinnen und Bürger gefestigt.
Es sollten in jeder Stadt, in jeder Gemeinde und bei großen Städten, zumindest in jedem Stadtbezirk durch sämtliche in einem bestimmten Territorium (z.B. einer Region, Grafschaft, Landkreis ... ) ansässigen Gemeindeverwaltungen spezielle gemeinsame Dokumentationszentren eingerichtet werden; in diesen Zentren sollte jeder Einwohner (Staatsangehörige sowie Nichtstaatsangehörige) alle Unterlagen betreffend die Tagesordnung sowie bereits gefaßte oder noch in Beratung befindliche Beschlüsse eingesehen werden können, sofern sie diejenigen Themen betreffen, die im öffentlichen Teil der Gemeindeversammlungen behandelt werden. Diese Unterlagen sollten offen zugänglich sein und es sollte möglich sein, Kopien davon anzufertigen und mitzunehmen.
Obligatorische Anhörung von Einzelpersonen vor Erlaß von Verwaltungsbeschlüssen
Vor dem Erlaß von Beschlüssen der Gemeindeverwaltung, welche Rechte eine Einzelperson (Staatsangehörige oder Nichtstaatsangehörige, natürliche oder juristische Personen) eingreifen könnten, sollten die betreffenden Personen von der im Gang befindlichen Entscheidungsfindung unterrichtet und angehört werden.
Direkter Behördenzugang für Bürger und Einwohner
Jedes Mitglied einer Ratsversammlung, Exekutive oder Verwaltungsbehörde sollte offiziell spezielle Stunden für den Empfang des Publikums anbieten. Außerdem wäre es vorteilhaft, wenn - der technischen Entwicklung entsprechend - eine besondere E-Mail-Adresse und eine Mail-Box vorhanden wäre, wo die Bürger und Einwohner Vorschläge und Kommentare anbringen können.
Stärkung der vorparlamentarischen Beteiligung
Das Demokratieprinzip geht von verantwortlich handelnden Bürgerinnen und Bürgern aus. Der Wille der Bürgerschaft ist oberster Maßstab des Handelns von Rat und Verwaltung. Die repräsentative Demokratie sollte daher durch Elemente der direkten Demokratie ergänzt werden. Als solche Ergänzungen kommen insbesondere in Betracht:
- Bürgerbegehren/Bürgerentscheid
Bürgerbegehren und Bürgerentscheid sind die weitestgehenden Formen der direkten Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an politischen Sachentscheidungen. Mit einem Bürgerbegehren können die Bürger beantragen, daß sie anstelle des Rates über eine Angelegenheit der Gemeinde selbst entscheiden.
- Anhörungsrechte
Die Möglichkeit, Anregungen und Beschwerden an die Gemeindeversammlung oder die Verwaltung zu richten, sollte jedem Bürger und jedem Einwohner in der Kommune möglich sein.
- Einwohnerantrag
Jedem Einwohner sollte die Möglichkeit gegeben werden, Anträge an die Gemeindeversammlung und die Verwaltung zu stellen. Der Antrag muß ein Begehren mit einer Begründung enthalten, um die Gemeindeversammlung zu veranlassen, über eine vorgeschlagene Sache, für die die Gemeindeversammlung zuständig ist, zu beraten und zu entscheiden.
- Fragestunden
Fragestunden bei Rats- und Ausschußsitzungen ermöglichen es der Bürger- und Einwohnerschaft, sich unmittelbar und persönlich mit Problemen und Fragen an den Rat und die Ausschüsse zu wenden. Dadurch werden die Beziehungen zwischen der Bevölkerung und den gewählten Kommunalpolitikern vertieft.
- Bürgerbefragungen
Die kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften sollten unter Nutzung der neuen Technologien vermehrt Bürgerbefragungen initiieren, um sich über bestimmte Problemlagen in der Bevölkerung zu informieren.
- Einwohnerversammlungen
Zu wechselseitigen Informationen von Verwaltung, Rat und Bürgerschaft können Einwohnerversammlungen von Nutzen sein.
- Einbindung von Sachverstand
Zur Nutzung des Sachverstandes der Bürgerinnen und Bürger sowie der Einwohner sollten Möglichkeiten geschaffen werden, daß auch nichtgewählte Persönlichkeiten (Staatsangehörige und Nichtstaatsangehörige) vor Ort als sachkundige Berater in die politischen Gremien der Kommunen einbezogen werden können.
- Neue Beteiligungsverfahren
Planungszelle/Bürgergutachten
Eine repräsentativ oder funktional (z. B. Multiplikatoren, Vereine) getroffene Auswahl von Bürgerinnen und Bürgern erarbeitet auf Einladung der Gemeinde eigenständig Bewertungen oder Empfehlungen zu aktuellen Entwicklungen in der Gemeinde. Die Entscheidungszuständigkeit des Rates wird nicht berührt, allerdings fließen die Empfehlungen in die Entscheidungsfindung der Gemeindeversammlung ein.
Runde Tische
Bei einem runden Tisch handelt es sich um ein Verfahren zur Mitgestaltung durch Erörterung eines gemeindlichen Themas (z. B. Stadtentwicklung). Dabei wird ein möglichst breites Spektrum betroffener Organisationen und Interessen einbezogen. Die Verfahrensregeln werden jeweils gesondert vereinbart. Auch hier wird die Entscheidungszuständigkeit der Gemeindeversammlung nicht berührt.
Zukunftskonferenz
Ausgewählte Bürger, Vereine und Vertreter - z. B. aus Wirtschaft und Politik - beraten gemeinsam über die Entwicklungsziele und über notwendige Veränderungen in einer Kommune (z. B. Vision 2010). Daraus können Initiativen für konkrete Projekte entstehen.
- Ombudsmann
Zur Verbesserung der Beziehung zwischen Verwaltung und Bürgerinnen und Bürgern empfiehlt sich die Einrichtung eines Ombudsmanns. Dieser vermittelt als unabhängige Instanz bei Differenzen, Mißverständnissen und Irrtümern zwischen Verwaltung und Bürgerinnen und Bürgern.
Insoweit dies mit dem geltenden Recht vereinbar ist, verpflichten sich die Gemeinden und Regionen zu einer Politik, bei welcher die Verwaltung der örtlichen Dienste an lokale gemeinnützige Organisationen und/oder Verbrauchervereinigungen delegiert wird.
Dabei überwachen die Gemeinden und Regionen die so angebotenen Dienste hinsichtlich ihrer Qualität und Kosten, um sicherzustellen, daß die mit der Erbringung . einer bestimmten Dienstleistung beauftragte gemeinnützige Organisation und/oder Verbrauchervereinigung (i) über das nötige professionelle Know-how verfügt und (ii) die Dienste nicht nur ihren Mitgliedern und Anhängern, sondern jedermann anbietet.
Die Gemeinden verpflichten sich dazu, unter den gemeinnützigen Organisationen und Verbrauchervereinigungen keinerlei Diskriminierung aufgrund von Nationalität, Religion, Geschlecht oder politische Ausrichtung vorzunehmen.
Verbesserung parlamentarischer Beteiligung
- Wahlalter/Wahlsystem
Das wichtigste Bürgerrecht in einer parlamentarischen Demokratie ist das Wahlrecht. Dieses fundamentale Recht muß aufgewertet werden, um die gewählten Vertretungen auf allen Ebenen zu stärken. Hierzu gehören Überlegungen, das aktive und passive Wahlrecht herabzusetzen. Hierzu gehört auch, das Wahlsystem so zu gestalten, daß die Bürger einen größtmöglichen Gestaltungsspielraum für die Besetzung des Rates haben. Es bedeutet eine Stärkung der Persönlichkeitswahl auch der Mitglieder der politischen Vertretungen, wenn beim System des Kumulierens und Panaschierens den Bürgern mehrere Stimmen gegeben werden, die sie dann sowohl auf eine Person wie auch auf mehrere Personen unterschiedlicher Parteien verteilen können.
- Direkte Wahl des Bürgermeisters
Bei der direkten Wahl des Bürgermeisters haben die Bürger die Möglichkeit, diese herausragende Personalentscheidung in ihrer Gemeinde selbst zu treffen und sich selbst als Kandidaten zur Verfügung zu stellen.
- Jugendräte/Jugendparlamente
Nicht zuletzt unter dem Eindruck von Desinteresse und Politikverdrossenheit in unseren Gesellschaften wird die Beteiligung von Jugendlichen in allen sie betreffenden Angelegenheiten mit zunehmendem Interesse politisch diskutiert. Die Einrichtung solcher Institutionen kann in den Gemeindeordnungen verankert werden.
Wesentlich für den Erfolg von Jugendräten und Jugendparlamenten ist die Begrenzung der Themen auf das unmittelbare Lebensumfeld. Überschaubarkeit ist hierfür Voraussetzung. Institutionalisierte Verfahrensregeln unterstützen Regelmäßigkeit und Verläßlichkeit, dürfen andererseits jedoch nicht die Lebendigkeit der Beteiligung behindern.
- Seniorenbeiräte
Zur Ermittlung der spezifischen Bedürfnisse einer angesichts der demografischen Entwicklung immer größer werdenden Bevölkerungsschicht bietet es sich an, in den kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften Seniorenbeiräte einzurichten, die einerseits den spezifischen Sachverstand in die politischen Beratungen einbringen können, andererseits den Seniorinnen und Senioren ein politisches Tätigkeitsfeld eröffnen.
- Das Recht von Nichtstaatsangehörigen auf Vertretung in den Gemeindeversammlungen
Auf dem Territorium lebende Nichtstaatsangehörige sollten die Möglichkeit haben - soweit dies rechtlich möglich ist - Vertreter in die Gemeindeversammlung oder die Ausschüsse zu entsenden, die nicht nur beratende Funktion, sondern die Rechte eines Vollmitglieds ausüben können.
Stärkung kommunikativer Kompetenz und Partizipation der Bürger
Die Bereitschaft der Bürger und Bürgerinnen, sich zu engagieren, ist entscheidend davon abhängig, daß in der Kommune ein engagementfreundliches Klima geschaffen wird. Die Kommunen haben es mit in der Hand, ob das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an ehrenamtlicher Tätigkeit wächst, brachliegt oder zurückgeht. Sie können insbesondere durch Rahmenbedingungen und unbürokratisches Verhalten ein für die Freiwilligkeit positives Umfeld schaffen.
- Stärkung der Vereinsarbeit, Förderung von Stiftungen
Sport-, Kultur- und Traditionsvereine ebenso wie Selbsthilfegruppen, politische Vereine oder Initiativen können für die gesellschaftliche Integration nicht hoch genug eingeschätzt werden. Hier werden Konflikte produktiv gelöst, viele Vereine leisten Enormes für die Verhütung von Kriminalität. In Vereinen werden Engagement und Verantwortung gelernt, deshalb sind sie gerade für die aktive Bürgergesellschaft eminent wichtig.
- Bürgerengagement und Beteiligung in der Stadtteil- und Ortsentwicklung
Moderne Stadtteil- und Ortsentwicklung beschränkt sich nicht auf die Beteiligung an Planungen in der Infrastruktur. Wichtig ist eine konzertierte Stadtteil- und Ortspolitik. Diese kann eingebettet werden in eine Abstimmung von siedlungsnaher Investitionsförderung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, wohnungsnahen sozialen Dienstleistungen, architektonischer Aufwertung von Bürgerhäusern, sozio-kulturellen Zentren und Begegnungsstätten, Spiel- und Sportanlagen sowie Beratungsnetzwerken für Gesundheitsfragen, Selbsthilfe oder Kinderbetreuung.
Die Gemeinden können Projekte fördern im Bereich der Wohnumfeldverbesserung, der Einrichtung und Pflege von Grünanlagen, der Spielplatzgestaltung, bei Kultur- und Sportereignissen, bei Maßnahmen der Kriminalitätsverhütung sowie bei der Organisation von Nachbarschaftshilfen, insbesondere für ältere Menschen.
- Ermutigung und Festigung ehrenamtlicher Arbeit
Die Gemeinden sind aufgerufen, den Bürger als den eigentlichen Adressaten aller kommunalen Aktivitäten wesentlich stärker mit der kommunalen Leistungsproduktion zu verbinden. Die Gemeinden fördern die Ausweitung der Bürgerbeteiligung mit Hilfe einer Reihe von Maßnahmen wie etwa der Präsentation in Schulen und an besonders frequentierten Treffpunkten, besonderen Programmen im örtlichen Rundfunk und Fernsehen, der Verbreitung von Druckerzeugnissen u.ä..
Die Gemeinden fördern besondere Preisverleihungen an natürliche und/oder juristische Personen, die sich in besonders wertvoller Weise für das Leben der Gemeinden und Regionen eingesetzt haben.
Die Gemeinden und Regionen können Politiken entwickeln, die geeignet sind, das Engagement der Einwohner für Leistungen im Rahmen einer gegenseitigen Nachbarschaftshilfe (wie etwa Beistand bei der Kinder- und Altenbetreuung u.ä.) zu fördern und zu unterstützen. Hierbei kommt insbesondere in Betracht:
- Ansprechen: Kontakt zu Freiwilligen und Organisationen aufnehmen sowie Organisationen für eine zeitgemäße Arbeit mit Freiwilligen gewinnen. Mit einer differenzierten Öffentlichkeitsarbeit wird für eine neue Kultur der Freiwilligkeit geworben, Informationsveranstaltungen initiiert und Aktionen und Kooperationen mit den Medien, Presse, Rundfunk und Fernsehen entwickelt.
- Informieren: Tätigkeiten für Freiwillige werden vorgestellt und damit Angebot und Nachfrage in den Bereichen Kultur, Ökologie, Sport und Soziales transparent gemacht.
- Beraten: In Gesprächen werden die Motive, Interessen und Rahmenbedingungen von Freiwilligen geklärt sowie mit Organisationen Konzepte und Modelle für deren Arbeit mit Freiwilligen entwickelt.
- Vermitteln: Der "richtigen Person" wird der Weg in die "passende Tätigkeit" aufgezeigt und Organisationen werden die neuen Anforderungen an die Arbeit mit freiwillig Engagierten deutlich gemacht.
- Begleiten: Freiwillige werden fachlich und persönlich unterstützt.
- Weiterbilden: Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen werden mit verschiedenen Kooperationspartnern in unterschiedlichen Zeitrahmen durchgeführt.
Für alle Beteiligten stellen sich zukünftig hinsichtlich der Förderung des Bürgerengagements hohe Anforderungen. Bürgerengagement ist jedoch eine wichtige Lebensader für Städte und Gemeinden. Die Kommunalverwaltung sollte dabei nicht der dominierende Akteur sein. Sie muß Initiativfunktion übernehmen und ihre Anstrengungen erhöhen, um "Bürgersinn" zu fördern, um das Engagement bei den Bürgern zu initiieren und vielleicht bislang latente Ansätze zusammenzuführen. Mit einer so verstandenen Koordinierungsrolle kann die Gemeinschaftsfähigkeit in den Städten und Gemeinden zum Nutze aller gestärkt werden.
1 Diskussion durch den Kongress und Annahme am 24. Mai 2000, 2. Sitzung (siehe Dok. CG (7) 8, Entschliessungsentwurf, vorgelegt durch Herrn M. Haas, Berichterstatter).