Entschliessung 91 (2000)1 betreffend bürgerschaftliche Verantwortung und Beteiligung am öffentlichen Leben

Der Kongress

1. Nimmt den von Herrn Haas über "Bürgerschaftlichkeit und Beteiligung am öffentlichen Leben" vorgelegten Bericht zur Kenntnis, welchem die unter der Leitung der Herren Tchernoff und Hofmann unternommenen Arbeiten der Arbeitsgruppe über die Rechte und Pflichten der Bürger vorangegangen waren;

2. Unterstreicht, dass die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung in ihrer Präambel bekräftigt, dass das Recht der Bürger, sich an der Führung der öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen, zu den demokratischen Grundsätzen gehört, die allen Mitgliedstaaten des Europarats gemeinsamen sind, und dass dieses Recht auf der kommunalen Ebene am unmittelbarsten ausgeübt werden kann;

3. Ist der Überzeugung, dass eine enge Beziehung zwischen bürgerschaftlicher Verantwortung einerseits und der Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten auf kommunaler und regionaler Ebene andererseits besteht;

4. Erinnert in diesem Zusammenhang an mehrere einschlägige Texte des Europarats, einschliesslich des KGRE, worunter insbesondere:

5. Stellt fest, dass das Ministerkomitee am 7. Mai 1999 eine Erklärung und ein Programm betreffend die Erziehung zu einer auf die Rechte und Pflichten der Bürger gegründeten demokratischen Bürgerschaftlichkeit angenommen hat;

6. Hält es für richtig, alle Hindernisse zu beseitigen, die sich der Entfaltung eines echten Prozesses wachsenden Verantwortungsbewusstseins und zunehmender Beteiligung der Bürger am öffentlichen Leben entgegenstellen;

7. Heisst deshalb die "Leitprinzipien für eine Politik verantwortungsvoller Beteiligung der Bürger am Leben der Gemeinde und der Region", so wie diese als Anhang zu der vorliegenden Entschliessung erscheinen, gut;

8. Fordert die Gemeinden und Regionen Europas auf, die genannten "Leitprinzipien" zu beachten:

9. Fordert die europäischen Bürger und ihre Vereine auf, den Leitprinzipien ganz besondere Aufmerksamkeit zu widmen;

10. Ersucht seinen hierfür zuständigen Ausschuss, diese Frage zum gegebenen Zeitpunkt im Kontext der bis dahin erhaltenen Resultate neu zu prüfen, um gegebenenfalls zu einer präziseren und bindenderen Neuformulierung dieser Prinzipien zu gelangen.

ANHANG

Leitprinzipien für eine Politik verantwortungsvoller Beteiligung der
Bürger am Leben der Gemeinde und der Region

I. Der Bürger in seiner Verantwortung für die Gemeinschaft - Bürgerpflichten –

Die Mitgliedsstaaten des Europarates verpflichteten sich, in der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (1950) sowie in der europäischen Sozialcharta (1961), unverfügbare Menschen- und Bürgerrechte als Grundlage ihrer Rechtsordnungen anzuerkennen und zu garantieren. Sie bekannten sich damit zu der Aufgabe, als Rechts- und Sozialstaaten jeder Person jenes Höchstmaß an Rechten und Freiheiten zu sichern, das sich mit den gleichen Rechten und Freiheiten aller Personen vereinbaren läßt, und jedem Bürger die Mittel und Chancen zu bieten, ein gutes Leben zu führen. Die Anerkennung der Menschen- und Bürgerrechte als Basis der Rechtsordnung ist eine notwendige Bedingung menschenwürdigen Zusammenlebens.

Das friedliche und gedeihliche Gelingen dieses Zusammenlebens hängt jedoch nicht nur davon ab, daß die Rechtsordnung diese Rechte und Freiheiten garantiert. Es kommt auch wesentlich darauf an, wie die Bürger diese Rechte und Freiheiten nützen und verwirklichen, an welchen Werten und Sinnoptionen sie sich in ihren Lebensplänen und ihrer Lebensführung orientieren und welche Einstellungen sie gegenüber ihren Mitbürgern in Familie, Gesellschaft und im politischen Bereich praktizieren.

Alle Rechte verweisen auf Pflichten, die rechtlichen Charakter haben. Die Rechtsordnung sanktioniert diese Rechtspflichten und setzt so das legale Verhalten der Bürger durch. Pflichten im Rahmen des Ethos, also ethisch-moralische Pflichten, unterscheiden sich von Rechtspflichten. Einerseits gehen sie als Normen des Lebens inhaltlich über das hinaus, was Recht und Gesetz im freiheitlichen Rechtsstaat fordern können. Andererseits beziehen sie sich auf die Werte und Sinnoptionen des Guten und damit auf das Gewissen, die Gesinnung, die Verantwortung und Einstellung der Person, während das Recht nur das äußere Verhalten normiert.

Für das Gelingen eines menschenwürdigen Zusammenlebens stellt die Erfüllung der Rechtspflichten zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dar. Nur wenn die durch Rechte und Freiheiten garantierten Handlungsspielräume der Bürger ethisch-moralisch gestaltet werden, kann Zusammenleben menschenwürdig gelingen.

Der Kongreß der Gemeinden und Regionen Europas ruft daher die Bürger der Mitgliedstaaten des Europarates auf, die nachstehenden ethisch-moralischen Pflichten als Bürgerpflichten zu bedenken, anzuerkennen und zu erfüllen.

Verantwortung für das eigene Leben

Jede Person soll bestrebt sein, innerhalb der Grenzen des Rechts einen im Rahmen ihrer Interessen, Fähigkeiten und Möglichkeiten vernünftigen Lebensplan zu entwickeln und verantwortlich zu verfolgen.

Jede Person soll sich bemühen, ihre natürlichen Anlagen zu kultivieren und im Rahmen ihrer Möglichkeiten Qualifikationen auszubilden, welche die Verwirklichung ihres Lebensplans begünstigen. Außerdem soll sie Sorge tragen für ihre Gesundheit.

Eine verantwortlich-planvolle Lebensgestaltung setzt voraus, daß die Person eine gewisse Ordnung in die Vielfalt ihrer Bedürfnisse und Neigungen bringt. Notwendiges, Nützliches und Angenehmes zu unterscheiden weiß und nach Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle strebt.

Darum soll sie bestrebt sein, das Entstehen krankhafter bzw. suchtartiger Abhängigkeiten, die eine vernünftige Lebensführung behindern, nach Kräften zu vermeiden.

Jede Person soll im Rahmen ihres Lebensplans jene Zuständigkeiten eigenverantwortlich wahrnehmen, die sie aus eigenen Kräften wahrzunehmen vermag und die Hilfestellung der Gesellschaft nur dann beanspruchen, wenn die Anforderungen die eigenen Kräfte übersteigen.

Jede Person sollte sich Rechenschaft geben über die Werte und Sinnoptionen, welche die Basis ihres Lebensplans bilden. Sie sollten sich insofern nicht nur um die Ausbildung fachlich-spezieller Qualifikationen bemühen, sondern auch um jene "Bildung des Herzens", ohne welche niemand ein guter Mensch sein kann.

Verantwortung gegenüber den Mitmenschen

Aus den Menschenrechten folgen Rechtspflichten gegenüber den Mitmenschen. Jede Person sollte sich diese Pflicht moralisch zu eigen machen und sich in ihrer Einstellung gegenüber den Mitmenschen am Ethos der Menschenrechte orientieren.

Daraus folgt die Pflicht, Leben, Würde und Freiheit jedes Menschen zu achten, sich für Gerechtigkeit und Solidarität einzusetzen und Toleranz zu üben gegenüber den Überzeugungen anderer.

Niemand darf Menschen wegen ihres Geschlechts, ihrer ethischen Herkunft, ihrer Nationalität, Religion, Kultur oder Sprache diskriminieren.

Jede Person sollte bestrebt sein, in der Verwirklichung ihres Lebensplans Eigenschaften auszubilden, die Menschen wechselseitig voneinander wünschen. Diesen Grundsatz der Wechselseitigkeit drückt die goldene Regel aus: Behandle andere so, wie Du auch von ihnen behandelt werden willst.

Hierher gehört die Bereitschaft, Mitmenschen wohlwollend, höflich und hilfsbereit zu begegnen sowie die Wahrhaftigkeit der Rede und des Handelns.

Im Falle von Interessenkonflikten mit anderen sollte jede Person bestrebt sein, den Konflikt nach Möglichkeiten verständigungsorientiert und kompromißbereit beizulegen, statt ihn strategisch auszutragen.

Jede Person sollte das Ansehen und die Ehre des Mitmenschen, seine Privatsphäre und sein Eigentum als Spielraum seiner Freiheit respektieren.

Jede Person sollte sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für den Schutz der natürlichen Umwelt und die sparsame Nutzung knapper Ressourcen einsetzen, damit auch zukünftige Generationen unter menschenwürdigen Bedingungen leben können.

Partnerschaft und Familie

Alle Beziehungen von Frauen und Männern sollen geprägt von einem Ethos der gleichen Würde, welches sexistische Vorurteile und Verhaltensweisen ausschließt.

Gesellschat

Politischer Bereich

II. Stärkung der Bürgerbeteiligung auf kommunaler und regionaler Ebene - Bürgerrechte -

1. Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der lokalen Politik muß auf allen politischen und administrativen Ebenen gewährleistet werden. Der Kongreß der Gemeinden und Regionen Europas ist in Übereinstimmung mit der Agenda 21 der Auffassung, daß "eine der Grundvoraussetzungen für die Erzielung einer nachhaltigen Entwicklung die umfassende Beteiligung der Öffentlichkeit an der Entscheidungsfindung ist".

Dies setzt vor allem voraus,

2. Der Kongreß der Gemeinden und Regionen Europas ruft die Städte und Gemeinden auf, den Rahmen demokratischer Beteiligung innerhalb der nationalen Gesetzgebung zu überprüfen, ihn ggf. zu erweitern und zu intensivieren.

3. Um das Engagement der Bürger für die kommunalen Belange zu fördern, sollten die Gemeinden die folgenden politischen Ziele beachten und sich für deren Umsetzung einzusetzen:

Verbesserung der Transparenz

Öffentlichkeit der Tagesordnungen und Beschlüsse der Gemeindeversammlungen und -verwaltungen.

Transparenz der Organigramme

Öffentlichkeit laufender Entscheidungsfindungen

Ad hoc-Dokumentationszentren

Obligatorische Anhörung von Einzelpersonen vor Erlaß von Verwaltungsbeschlüssen

Direkter Behördenzugang für Bürger und Einwohner

Stärkung der vorparlamentarischen Beteiligung

Verbesserung parlamentarischer Beteiligung

Stärkung kommunikativer Kompetenz und Partizipation der Bürger

1 Diskussion durch den Kongress und Annahme am 24. Mai 2000, 2. Sitzung (siehe Dok. CG (7) 8, Entschliessungsentwurf, vorgelegt durch Herrn M. Haas, Berichterstatter).