Entschliessung 64 (1998)1 betreffend nukleare Sicherheit und kommunale sowie regionale Demokratie

Der Kongress,

1. Nach Prüfung des von den Herren Knape und Leinen, Berichterstattern, vorgelegten Berichts über "nukleare Sicherheit und kommunale sowie regionale Demokratie";

2. Daran erinnernd, dass der Grundsatz 10 der Erklärung von Rio über Umwelt und Entwicklung (1992) erklärt: "Die beste Art und Weise des Umgangs mit Umweltfragen ist es, sich der Beteiligung aller betroffenen Bürger auf der richtigen Ebene zu versichern. Auf nationaler Ebene muss jedes Individuum vorschriftsmässig Zugang zu den umweltrelevanten Informationen haben, über welche die öffentlichen Behörden verfügen, einschliesslich Informationen über gefährliche Substanzen oder Tätigkeiten in seiner Gebietskörperschaft, sowie die Möglichkeit, sich an den Prozessen der Entscheidungsfindung zu beteiligen. Die Staaten müssen die Sensibilisierung und Partizipation des Publikums dadurch erleichtern und ermutigen, dass sie ihm die Informationen zur Verfügung stellen. Ein tatsächlicher Zugang zu strafrechtlicher und verwaltungsrechtlicher Verfolgung, insbesondere zu Schadensersatz und zu Rechtshilfe, muss sichergestellt werden.";

3. Erinnernd an die Stellungnahme 4 (1996) des KGRE zu dem Vorentwurf einer Empfehlung des Ministerkomitees an die Regierungen der Mitgliedstaaten betreffend die Verteilung der Zuständigkeiten und Aufgaben zwischen dem Zentralstaat und den kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften in Umweltbelangen, worin der Kongress seine Überzeugung kundtat, dass die Grundsätze der Erklärung auf allen gesellschaftlichen Ebenen und in allen gesellschaftlichen Sektoren eingeführt werden können;

4. Erinnernd an die Agenda 21, worin gesagt ist, dass die Mitwirkung und Zusammenarbeit der kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften ein entscheidender Faktor für die Erreichung der in der Erklärung von Rio gesteckten Ziele sei und die Behörden dringend aufgefordert werden, neben anderen Initiativen auch einen Dialog mit den Bürgern zwecks Annahme der Agenda 21 im lokalen Massstab einzuleiten sowie die betroffenen Bürger und Körperschaften zu konsultieren, um die für die Ausarbeitung der besten Vorgehensweisen nötigen Informationen zu erhalten;

5. Erinnernd an die Europäische Erklärung über das Recht in der Stadt, die sich ergibt aus der durch die KGRE 1992 angenommenen Europäischen Städte-Charta und wonach die Bürger in den europäischen Städten das Recht auf Beteiligung haben;

6. Die Tatsache begrüssend, dass die Arbeitsgruppe für die Ausarbeitung eines "Übereinkommens über den Zugang zu Umweltinformationen und die Mitwirkung des Publikums bei den Entscheidungsprozessen in Umweltbelangen" der Regionalen Wirtschaftskommission der UNO für Europa den KGRE beim Entwurf dieses Übereinkommens konsultiert hat;

7. Überzeugt vom Bestehen eines dringenden Bedürfnisses, die demokratischen und partizipatorischen Verfahren bei der Planunng und beim Betrieb von Kernkraftanlagen so zu verstärken, dass alle betroffenen Gruppen auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene miteinbezogen sind;

8. Die in der Schlusserklärung der Konferenz von Göteborg über nukleare Sicherheit und kommunale sowie regionale Selbstverwaltung, welche der vorliegenden Entschliessung beigeheftet ist, enthaltenen allgemeinen Grundsätze übernehmend;

9. Fordert alle kommunalen, regionalen und zentralstaatlichen Obrigkeiten sämtlicher Mitgliedstaaten des Europarats auf, ihre Anstrengungen zur Förderung der Transparenz, des Zugangs zu Informationen sowie der Mitwirkung des Publikums bei der Entscheidungsfindung in Kernkraftbelangen zu steigern, um so die Qualität der getroffenen Entscheidungen, die diesen Entscheidungen entgegengebrachte Unterstützung, die Einschätzung aller Risiken sowie die Angemessenheit des Bürgerverhaltens im Notfall zu verbessern;

10. Fordert insbesondere die Obrigkeiten jener Länder, wo der Betrieb von Atomreaktoren alten Typs besondere Sicherheitsrisiken beinhaltet, auf, die nötigen Informationen abzugeben und öffentliche Mitwirkungsverfahren für die betroffenen Bevölkerungen einzurichten;

11. Beauftragt ihre Arbeitsgruppe für Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung, einen Mustervertrag für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Regionen und/oder Gemeinden in Sachen Kernkraftwerke auszuarbeiten.

Anhang
Schlusserklärung der Konferenz von Göteborg

Die Teilnehmer an der Europäischen Konferenz über nukleare Sicherheit und kommunale sowie regionale Demokratie (Göteborg, Schweden, 24.-26. Juni 1997):

1. Dem Kongress der Gemeinden und Regionen Europas und dem Ausschuss der Regionen dankend für die Initiative zu diesem Kongress und für dessen Organisation, weiter dem Bürgermeister und der Stadt Göteborg sowie allen an der Veranstaltung beteiligten lokalen Organisationen für den herzlichen Empfang und ihre Gastfreundschaft dankend;

2. Daran erinnernd, dass die entscheidende Bedeutung der Gemeinden und Regionen im Subsidiaritätsprinzip verankert ist, wonach Entscheidungen und Massnahmen - in Übereinstimmung auch mit der Europäischen Charta der kommunalen Selkbstverwaltung - jeweils auf der bürgernächsten Ebene beschlossen werden sollen;

3. Unterstreichend die wichtige Rolle der Gemeinden und Regionen für die Verbesserung der Lebensbedingungen, den wirtschaftlichen Fortschritt und eine nachhaltige Entwicklung, und die Notwendigkeit hervorhebend, ihnen die Mittel zu geben, um die von ihnen verwalteten grundlegenden menschlichen und natürlichen Systeme zu führen, zu verbessern, umzuformen und daraus lebensfähige Gesellschaften entstehen lassen zu können;

4. Im Wissen um die in den demokratischen Gesellschaften anhaltende Debatte über die Risiken und Vorteile der friedlichen Nutzung von Kernenergie, eine Debatte, durch welche die Bevölkerung zwar informiert, aber auch gespalten wurde und zu welcher die Schlusserklärung der Konferenz keine grundsätzliche Stellung bezieht;

5. Allerdings die Notwendigkeit hervorhebend, Energiesparmassnahmen zu fördern und Alternativen zu den nuklearen Energiequellen zu entwickeln, die den Erfordernissen der Sicherheit und des Umweltschutzes entsprechen;

6. Unterstreichend, dass die Debatten und Entscheidungsprozesse betreffend Kernenergieanlagen bisher stattgefunden haben, ohne die Zustimmungg der unmittelbar betroffenen Ortsbevölkerungen zu suchen: die Gemeinden und Regionen wurden selten befragt vor den politischen Entscheidungen für diese Art von Anlagen, und die Ortsbevölkerungen hatten selten die Möglichkeit, sich tatsächlich am Entscheidungsprozess zu beteiligen;

7. Im weiteren daran erinnernd, dass eine der Hauptfolgen der Katastrophe von Tschernobyl für die öffentliche Gesundheit, abgesehen von den Fällen direkter radioaktiver Verstrahlung, eine psychosoziale Schädigung ist: das Gefühl, Strahlungen ausgesetzt zu sein und die Angst vor deren gesundheitlichen Folgen ist der Gesundheit der Individuen tatsächlich abträglich;

Empfehlen die nachfolgenden Schlussfolgerungen der Konferenz der wohlwollenden Aufmerksamkeit des KGRE und des Ausschusses der Regionen:

8. Die europäischen Gemeinden und Regionen sind überzeugt von der Legitimität und der Ernsthaftigkeit der Ängste um die öffentliche Gesundheit, welche Strahlungen in die Umgebung verursachen - nicht nur während der Produktion von Nuklearenergie, sondern vor allem im Fall von radioaktiven Folgeerscheinungen nach einem Unfall, von Lecks bei der Lagerung von Atommüll sowie beim Aufbereiten und Wiederaufbereiten von Kernbrennstoffen;

9. Die Gemeinden und Regionen befinden sich oft in einer Situation, worin sie einerseits dem Druck übergeordneter, von ihnen die Erfüllung des nationalen Energieprogramms fordernder Behörden, und andererseits dem Druck ihrer Bürger ausgesetzt sind, die eine Nuklearanlage auf ihrem Gebiet fürchten und ablehnen;

10. Eine gute Lenkung und Beschlussfassung bedarf einer eingehenden Klärung der nationalen, grenzüberschreitenden und internationalen Bedürfnisse hinsichtlich der Gesundheit und Sicherheit der Bürger, der technischen und psychosozialen Aspekte, der energiepolitischen Bedürfnisse und der tatsächlichen örtlichen Gegebenheiten;

11. Beschlüsse auf diesem Gebiet sollten durch den Grundsatz der Vorsicht geleitet sein, handelt es sich doch um mittel- bis langfristige und somit die kommenden Generationen miteinbeziehende Verpflichtungen;

12. Die Teilnehmer pflichten den folgenden Bestimmungen der Erklärung von Rio voll bei:
"Die beste Art und Weise des Umgangs mit Umweltfragen ist es, sich der Beteiligung aller betroffenen Bürger auf der richtigen Ebene zu versichern. Auf nationaler Ebene muss jedes Individuum vorschriftsmässig Zugang zu den umweltrelevanten Informationen haben, über welche die öffentlichen Behörden verfügen, einschliesslich Informationen über gefährliche Substanzen oder Tätigkeiten in seiner Gebietskörperschaft, sowie die Möglichkeit, sich an den Prozessen der Entscheidungsfindung zu beteiligen.";

13. Information und Beteiligung sind notwendig für die Hebung der Entscheidungsqualität, für die Erhöhung des Masses an Zustimmung zu solchen Entscheidungen, für die Förderung einer objektiven Einschätzung und Annahme der Risiken, die sich daraus für die Gesundheit, Sicherheit und Umwelt ergeben können, sowie für das richtige Reagieren der Bevölkerung im Falle eines Unfalls. Es ist deshalb notwendig, die Vorkehrungen für die demokratische Mitwirkung an der Planung und am Betrieb von Kernenergieanlagen zu verstärken, sodass sämtliche betroffenen Gruppen auf kommunaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene miteinbezogen werden;

14. Der Meinung der Gemeinden und Regionen muss im Entscheidungsprozess Rechnung getragen werden, sodass die nachstehenden Erfordernisse befriedigt werden:

a. Transparenz

Alle verfügbaren Informationen und Vorschläge betreffend den Standort, den Bau, den Betrieb und die Stillegung von Kernkraftwerken müssen klar, richtig und zuverlässig sein und den betroffenen Gemeinden und Regionen - auch in den Nachbarländern, insoweit sie mitbetroffen sein könnten, sowie in den vom Transport radioaktiven Materials betroffenen Gebietskörperschaften - unvoreingenommen vorgelegt werden. Sowohl die Betreiber als auch die Kontrollstellen müssen gehalten sein, alle sachdienlichen Informationen bekanntzugeben;

b. Beteiligung

Die Ortsbevölkerung und alle betroffenen Bürger müssen bei der Standortwahl einer Atomanlage beigezogen werden. Es muss an den Gemeinden und Regionen sein, sich letztinstanzlich für oder gegen das Projekt auszusprechen. Hierfür müssen sie Zugang zu sämtlichen für die Entscheidung benötigten Informationen haben. Die Errichtung eines Kernkraftwerks oder einer Wiederaufbereitungsanlage muss von einer Umweltverträglichkeitsprüfung abhängig gemacht werden, die, wenn sie gut gemacht ist, die Möglichkeit bietet, das Publikum zu informieren, seine Beteiligung zu verstärken und die möglichen Alternativen zu prüfen;

c. Finanzielle Hilfe

Die durch bestehende oder potentielle Pläne für die Ansiedelung, den Bau oder den Betrieb einer Kernkraftanlage betroffenen Gemeinden und Regionen müssen Anrecht auf eine vorgängige finanzielle Hilfe vonseiten des Zentralstaats haben. Diese müsste es ihnen ermöglichen, eigene Experten für die Prüfung der Projekte und die Mitwirkung an dem auf jede anfängliche Annahme folgenden Entscheidungsprozess anzustellen;

d. Wirtschaftliche Analyse

Die Ansiedelung oder der Bau einer neuen Anlage muss von einer regionalen Wirtschaftsanalyse und einem die Konsultation der Öffentlichkeit vorsehenden Entwurf eines Entwicklungsplans abhängig sein. Es müssten im Zusammenhang mit bestehenden wie zukünftigen Anlagen Wirtschafts- und Beschäftigungsprogramme erstellt werden, um eine übermässige Abhängigkeit der betreffenden Region von der Kernkraftanlage zu vermeiden. Damit würden die negativen Auswirkungen einer späteren Stillegung vermieden;

15. Die Bildung örtlicher Verbindungsausschüsse aus Vertretern der Gemeinden und Regionen, der sozialen Netze, der Betreiber und Inspektoren von Nuklearanlagen und anderer einschlägiger Gruppen (z.B. Bürgervereine, Wissenschaftler, medizinischer Forscher, auf den Umweltschutz spezialisierter NROs) könnten den passenden Rahmen für die Beteiligung der Öffentlichkeit abgeben unter der Bedingung, dass sie ihrem Statut nach unabhängig sind; ihre Hauptaufgabe bestünde in der Überwachung der Sicherheitsmassnahmen in den Kernkraftanlagen, in der Sammlung einschlägiger Informationen, in der Information des Publikums über Sicherheitsfragen und in der Mitwirkung bei der Planung von Notfallbestimmungen;

16. Derartige Ausschüsse müssten unter die Verantwortung der Gemeinden und Regionen gestellt sein, um zu gewährleisten, dass ihre Tätigkeit den Interessen der Bevölkerung dient;

17. Auch die Durchführung von Referenden auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene kann der Bevölkerung die Möglichkeit geben, ihren Willen bezüglich geplanter oder bestehender Kernkraftanlagen zum Ausdruck zu bringen;

18. Auf internationaler Ebene müssen die Bürgerrechte auf Information und Beteiligung an der Entscheidungsfindung in diesem Bereich vor allem durch die Fertigstellung und Umsetzung des Übereinkommens der Wirtschaftskommission für Europa über "den Zugang zu Information in Umweltbelangen und die Beteiligung der Öffentlichkeit bei umweltrelevanten Beschlüssen" verbessert werden;

19. Die Rechte auf Information und Beteiligung können nicht wirksam umgesetzt werden ohne ein Berufungsrecht, weshalb es wichtig ist, dass das neue Übereinkommen ein verwaltungsrechtliches Beschwerdeverfahren zu bescheidenen Kosten, verbunden mit der Möglichkeit einer gerichtlichen Prüfung auf höherer Ebene, vorsieht;

20. Es besteht das Bedürfnis, die Aktivitäten der verschiedenen europäischen Organisationen für nukleare Sicherheit besser zu koordinieren. Namentlich könnte die Einrichtung eines echten Sicherheitskontrollverfahrens für sämtliche Einrichtungen innerhalb der Europaratsstaaten völlige Neutralität und Unabhängigkeit von den Energieproduzenten gewährleisten;

21. Die Kernenergiepolitik der Europäischen Union müsste den allgemeineren umwelt- und gesundheitspolitischen Grundsätzen entsprechen. Fortschritte im Bereich der Publikumsbeteiligung hängen ab von einer Änderung der Direktive über den freien Zugang zu Umweltinformationen, mit dem Ziel, die Abweichungen davon zu begrenzen, ihren Anwendungsbereich auf die Informationen betreffend Gesundheit und Sicherheit auszudehnen und die Sektoren ihrer Geltung, einschliesslich der Nuklearindustrie, zu präzisieren;

22. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den nationalen und regionalen Nuklearbehörden und den lokalen Verbindungsausschüssen ist unerlässlich, um die Bevölkerung wirksam nuklearen Risiken und vor den Folgen radioaktiver Strahlen zu schützen und um zu gewährleisten, dass auch die Grenzbewohner Zugang zu den von ihnen benötigten Informationen haben;

23. In Zentral- und Osteuropa stellt die Verbesserung der Sicherheit alter Reaktoren vor komplexe Probleme: üblicherweise wird das Hauptgewicht auf technische Verbesserungen und die Ausarbeitung einer alle nuklearen Aktivitäten abdeckenden Gesetzgebung gelegt; es ist aber genau so notwendig, eilends Verfahren für die demokratische Beteiligung an der Beschlussfassung im Bereich der zukünftigen energiepolitischen Ausrichtung auszuarbeiten;

24. Das Studium der Vorschläge im Bereich der Entsorgung radioaktiver Abfälle wirft zahlreiche Fragen auf, die in ihrer Komplexität vom breiten Publikum nicht verstanden werden können. Deshalb ist es unerlässlich, ihm alle einschlägigen Informationen zu vermitteln, die Gemeinden und Regionen an den Entscheidungsprozessen zu beteiligen und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Prinzipien zu gewinnen, welche die Sicherheit der Lagerstätten und die Bewirtschaftung des Atommülls leiten;

25. Die Abschaltung und Stillegung von Nuklearzentralen werden künftig neue Sicherheitsprobleme aufwerfen. Die Schliessung von Kernenergiezentralen stellt die Gemeinden und Regionen vor neue Herausforderungen: neben den Sicherheitsproblemen werden sie auch mit demn Verlust an Arbeitsplätzen und an Steuereinnahmen, dem Wegzug der Arbeitnehmer und ihrer Familien und dem möglichen Rückgang der Geschäftstätigkeit am Ort Fertigwerden müssen. Gerade in solchen Fällen wird sich Transparenz, der Zugang zu Informationen und die Mitwirkung der Öffentlichkeit an Entscheidungen als von überragender Wichtigkeit erweisen.

1 Diskussion und Annahme durch den Kongress am 27. Mai 1998, 2. Sitzung (siehe Dok. CG (5) 10, Entschliessungsentwurf vorgelegt von Herren J. LEINEN und A. KNAPE, Berichterstatter)