Entschliessung 57 (1997)1 betreffend Kriminalität und Unsicherheit in der Städten Europas

Der Kongress,

mit Bezug auf den Vorschlag der Kammer der Gemeinden,

1. Begrüsst die Berichte und Schlussfolgerungen der KGRE-Konferenz über "Kriminalität und städtische Unsicherheit in Europa: Rolle und Verantwortung der Gemeinden und Regionen", die in Zusammenarbeit mit dem Freistaat Thüringen und der Stadt Erfurt vom 26. bis 28. Februar 1997 in der Stadt Erfurt durchgeführt wurde.

2. Ist der Ansicht, dass die drei Themen der Konferenz:

- Eine Bilanz der aktuellen Lage
- Die Rolle und Verantwortung der Gemeinden und Regionen
- Internationale Zusammenarbeit zwischen Gemeinden und Regionen

einen kohärenten und ausgewogenen Zugang zu einer Analyse des Sachverhalts boten.

3. Stellt fest, dass die Konferenz von Erfurt 10 Jahre nach der grossen Konferenz über Verbrechensverhütung stattgefunden hat, die der KGRE 1987 in Barcelona organisiert hatte - zehn Jahre, in denen sich grosse soziale, wirtschaftliche und politische Veränderungen in Europa ereignet haben.

4. Begrüsst den vorläufigen Bericht von Herrn Ries, dem Berichterstatter des KGRE, der an der Plenartagung des KGRE 1996 vorgelegt wurde, sowie die dazugehörige Entschliessung, worin eine Reihe von Problemen und auf Gemeindeebene möglichen Lösungen dargestellt sind.

In Bezug auf die Lage hinsichtlich Kriminalität:

5. Erinnert daran, dass die Kriminalität und die Unsicherheit in den Städten Europas grosse Probleme sind, die die Öffentlichkeit, berufliche Kreise und Politiker beunruhigen, und dass befriedigende Lösungen dieses Problems einen der wichtigsten Schlüssel zu bürgerlichem Frieden und Stabilität darstellen;

6. Möchte insbesondere auf den beträchtlichen Anstieg der Kriminalität, vor allem der Jugendkriminalität, das sinkende Alter der Delinquenten sowie die Zunahme von Bagatelldelinquenz und unsozialem Verhalten aufmerksam machen;

7. Ist sich dessen bewusst, dass die heutige Rechtspraxis und die Rechtsstrukturen nicht immer ausreichen, um den Bürger angemessen zu schützen, dass die Strafjustiz nicht immer für abschreckend genug gilt, und dass die jüngsten organisatorischen und rechtlichen Entwicklungen im Bereich der Verbrechensbekämpfung die Kriminalität nicht einzuschränken vermochten;

In Bezug auf die Ursachen und die Art der Verbrechen:

8. Zählt zu den vorrangigen Gründen der Kriminalität: wirtschaftlichen Wandel und/oder Abstieg, zunehmende Gelegenheiten und abnehmende soziale Kontrolle, Bindungsverlust und Ausgrenzung, eine armselige oder monotone Umgebung, Wohnungs- und Familienprobleme, die schädlichen Auswirkungen von Gewalt im Fernsehen, die Nichtachtung von Unterschieden vonseiten gewisser Generationen und ethnischen Gruppen, Frustration, weil höherer Wohlstand unerreichbar ist.

9. Stellt fest, dass der politische und soziale Wandel im erweiterten Europa in den letzten fünf bis sechs Jahren und der damit einhergehende Zusammenbruch der politischen Grenzen sowie die grössere Bewegungsfreiheit und Mobilität auch zu einer Veränderung der Art des Verbrechens geführt haben wie zu starker Häufigkeit von Drogenmissbrauch und Drogenkriminalität, rassistischen Übergriffen, einer spektakulären Ausweitung und Spezialisierung des internationalen organisierten Verbrechens, Schlepperbanden und illegaler Einwanderung, Wirtschaftsverbrechen, Diebstahl von Rohstoffen, klandestinem Waffenhandel usw.

In Bezug auf Korruption und die öffentliche Verwaltung:

10. Ist besorgt angesichts des Umfangs, den die Korruption im öffentlichen Leben angenommen hat, vor allem auch durch den von gewählten Abgeordneten und von Staatsbeamten geübten Missbrauch ihrer Stellung und Verantwortung.

11. Ist der Überzeugung, dass Korruption nicht nur ernsthafte Auswirkungen auf die öffentliche Verwaltung hat, sondern auch in erheblichem Masse die Hilfe einschränkt, die dem Publikum bei der Lösung gewisser Probleme entgegengebracht werden sollte, und dass die Korruption im Verein mit einem Mangel an Kontrolle über den öffentlichen Dienst, einer Zunahme der Kriminalität zuarbeitet.

12. Ist zudem überzeugt, dass die öffentliche Verwaltung in den Gemeinden oft übertrieben kompliziert ist; allzuviele Entscheidungsebenen lassen sie bürgerfern werden und tendieren dazu, den zuständigen Beamten seiner Verantwortung zu entheben;

In Bezug auf die grenzüberschreitende Kriminalität:

13. Stellt fest, dass die Verwaltungsstrukturen den politischen Veränderungen nicht immer angepasst wurden, was die Polizei z. B. daran hindert, mit der grenzübergreifenden Kriminalität fertig zu werden.

14. Weist auf die hohe Konzentration von Straftaten entlang der neuen Grenzen hin, die sich aus der Teilung Europas in Schengen- und Nicht-Schengen-Gebiete ergibt; diese Unterteilung führt in Grenzgegenden zur Zunahme von Spannungen und leistet dem illegalen Überqueren der Grenzen sowie dem Schmuggel von Drogen, gefälschten Papieren, Autos, Zigaretten, Alkohol, elektrischem und elektronischem Material, Waffen und Munition Vorschub.

15. Ist besorgt darüber, dass solche grenzübergreifenden Verbrechen, obwohl durch Angehörige verschiedenster Nationalitäten begangen, sich doch unmittelbar auf die Gemeinden und Regionen in den betroffenen Gebieten auswirkt.

In Bezug auf die Auswirkungen der Kriminalität:

16. Drückt seine Besorgnis aus darüber, dass die Kriminalität sich schädigend auf die Gesellschaft auswirkt, und zwar nicht nur auf die Opfer und deren Verwandte, sondern auch auf die Zeugen, auf die Konsumenten, die als Folge davon höhere Preise zahlen müssen, auf Eigentümer, die höhere Versicherungsprämien zahlen müssen usw.

17. Ist besorgt auch deshalb, weil Verbrechen von Investitionen sowohl in bedürftigen Stadtvierteln industrialisierter Länder als auch in den von Verbrechenssyndikaten heimgesuchten Schwellenländern abschrecken.

18. Bringt seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass solche Entwicklungen das Vertrauen der Öffentlichkeit in den demokratischen Prozess unterminieren, extremistischen Bewegungen Vorschub leisten, anti-europäische Gefühle provozieren und die Menschenrechte und demokratischen Institutionen bedrohen können.

In Bezug auf Verbrechensverhütung und die Gemeinden:

19. Erinnert daran, dass die Europäische Städtecharta den Bürgern europäischer Städte das Grundrecht auf "eine sichere und gefahrlose Stadt, soweit wie möglich frei von Verbrechen, Straftaten und Aggressionen" zusichert, und dass dieses Grundrecht auf eine sichere Umgebung in viele staatliche und kommunale Programme zur Verbrechensverhütung Eingang gefunden hat.

20. Glaubt, dass Verbrechensverhütung zu sozialer und wirtschaftlicher Regeneration ermutigt und dass eine sichere Umwelt auch den Wohlstand der Kommunen bedeutet.

21. Ist sich bewusst, dass viele Stadtplaner und Architekten der Ansicht sind, dass die soziale Stabilität der Städte durch die Umwelt beeinflusst wird und dass "Architektur contra Verbrechen" die Gelegenheiten zu Verbrechen reduzieren kann.

22. Ist der Meinung, dass die zentralstaatlichen Behörden zwar die meiste Verantwortung tragen für die Verbrechensbekämpfung, das Ausmass des Verbrechens jedoch vor allem auf Gemeindeebene empfunden wird, sodass den kommunalen Behörden wichtige Aufgaben bei der Bekämpfung und Verhütung von Verbrechen zufallen.

23. Ruft deshalb nach einer Stärkung der Gemeindeverwaltung, der Gemeindedemokratie und der Subsidiarität in Europa gemäss den Richtlinien der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung sowie insbesondere, in Verbindung mit entsprechenden Finanzmitteln, nach einer vermehrten Zuständigkeit der Gemeindeverwaltungen für die Verbrechensverhütung.

24. EMPFIEHLT IN ANBETRACHT DES OBEN GESAGTEN, DASS DIE GEMEINDEN UND REGIONEN:

In Bezug auf ein gemeinsames, partnerschaftliches Vorgehen bei der Verbrechensverhütung:

25. Unter ständiger Beteiligung der Bürger integrierte Aktionspläne zur Prävention von Verbrechen entwickeln, in denen die Prävention als politische Massnahme alle Aspekte der Verantwortung der Gemeindebehörden umfasst. Ein solcher Plan sollte die Natur und die Art des zu bekämpfenden Verbrechens, die Zielvorstellungen, einen Zeitrahmen und Vorschläge für aktives Handeln festlegen und auf einer weitreichenden und aktuellen Erhebung von Verbrechensstatistiken und-diagnosen beruhen.

26. Die Prävention als gemeinsame Verantwortung verschiedener Teile der Gesellschaft betrachten und deshalb die Entwicklung multisektorieller Gremien zur Verbrechensbekämpfung auf Gemeindeebene und ein breit abgestütztes, ausgewogenes, pluri-institutionelles Vorgehen bzw. eine Koordination von Behörden, Politikern, privatem und gemeinnützigem Sektor, Medien, Universitäten und Polizei betreiben.

27. Dafür sorgen, dass ein solcher gemeinsamer Lösungsansatz zu einer Kombination staatlicher und kommunaler Politiken für Solidarität, Prävention, Abwehr und Repression wird.

28. Eine engere Zusammenarbeit mit der Polizei, d.h. Mitwirkung bei Entscheidungen zu Kontaktbereichen, Festsetzung der Zeiten für Streifengänge und motorisierte Patrouillen und Beratung der Bürger, die darauf abzielt, Dieben und anderen Straftätern weniger Gelegenheit zu bieten, anstreben.

29. Mit den Justizbehörden zusammenarbeiten, um Alternativen zur Inhaftierung zu entwickeln wie z.B. Gemeindearbeiten sowie Hilfs- und Unterstützungsprogramme für Opfer von Verbrechen.

30. Die Industriebetriebe und Geschäfte der Gemeinde auffordern, besondere Schutzmassnahmen z.B. zur Verminderung von Einbruchsdelikten und erhöhten Aufklärung zu verbreiten.

31. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Gemeinde- und Regionalbehörden bei der Prävention und Kontrolle der Kriminalität fördern.

In Bezug auf die Einbeziehung der Öffentlichkeit:

32. Die Öffentlichkeit ermutigen, sich an der Verbrechensverhütung zu beteiligen, und zwar durch Nachbarschafts-Wachpläne und andere Initiativen, die die Bürger anspornen, für ihre Überzeugungen einzustehen und ihr eigenes Wohhlbefinden in Zusammenarbeit mit den Behörden zu schützen.

33. Für die gesamte Öffentlichkeit regelmässige kommunale Kampagnen über die Verhütung von Verbrechen durchführen, die speziell auf Systeme und Techniken der Verbrechensverhütung aufmerksam machen, die bereits anderswo mit Erfolg eingesetzt worden sind.

In Bezug auf die Polizei und Fragen der Sicherheit:

34. Die Einrichtung und/oder Stärkung von Polizeikräften mit klar definierten Verantwortungsbereichen, ausreichender Finanzierung und einem hohen Standard an technischer Ausrüstung fördern.

35. Sicherstellen, dass unabhängige Sicherheitskräfte dort, wo es solche gibt, unter demokratischer Kontrolle arbeiten.

In Bezug auf die soziale und natürliche Umwelt:

36. Die informelle soziale Kontrolle stärken durch eine entsprechende Politik im Sinne einer Durchmischung von Wohnhäusern und Geschäften, angemessener Einkaufsmöglichkeiten in Wohngebieten, ein Nebeneinander von Schulen und Altenheimen usw.

37. Tatkräftige Initiativen entwickeln, um bekannte kriminelle Aktivitäten in bestimmten Gemeindegebieten einzudämmen und eine Anhäufung von armen und benachteiligten Gesellschaftsgruppen zu verhindern, besonders solcher, die das Gefühl haben, nichts mehr zu verlieren zu haben.

38. Zivilcourage fördern und belohnen, z.B. durch den garantierten Schutz von Zeugen.

39. Besondere Schritte unternehmen, um die städtische Umwelt (Beleuchtung, Freiräume, weniger Graffiti, Abfall) zu verbessern in der Überzeugung, dass eine unbefriedigende Umgebung eine der Wurzeln für Kriminalität ist.

40. Die Zusammenarbeit zwischen Polizei und professionellen Stadtplanern fördern und darauf dringen, dass Polizeibeamte speziell geschult werden im Hinblick auf die Zusammenhänge zwischen Kriminalität und baulicher Umgebung.

41. Strategien entwickeln, um Verbrechen bei der Benutzung von Bussen, Taxis, U-Bahnen oder Zügen, beim Spazierengehen, Rad- oder Autofahren zu mindern in der Überzeugung, dass das Angebot eines sicheren Nahverkehrs und sicherer Strassenverbindungen zu wichtigen Knotenpunkten ein wichtiges Ziel der Gemeindebehörden und ein Schlüsselfaktor für die Lebensqualität des Einzelnen ist.

In Bezug auf Anti-Drogen-Programme, Jugendpolitik und Erziehung:

42. In Partnerschaft mit Sozial- und Gesundheitsdiensten Programme betreffend Drogenmissbrauch ausarbeiten und durchführen; Informationsprogramme insbesondere für junge Menschen innerhalb und ausserhalb von Schulen entwickeln und die gesamte Gemeinde dahingehend mobilisieren, dass die Nachfrage nach Drogen nachlässt.

43. Das Bewusstsein für Verbrechensverhütung in der Erziehung und in Jugendprogrammen entwickeln, Sport- und Freizeitaktivitäten insbesondere in benachteiligten Stadtvierteln fördern und Programme für Jugendliche erarbeiten, damit sie sich an die veränderten sozialen Umstände anpassen können.

FORDERT DEN KGRE AUF:

44. Die von der russischen Delegation in der Kammer der Gemeinden ausgesprochene Einladung anzunehmen, eine Konferenz in Russland durchzuführen zum Thema der Beziehungen zwischen der Politik zur Verbrechensverhütung auf Gemeindeebene und der Umwandlung der Wirtschaft;

45. Seine Arbeitsgruppe über Kriminalität und Unsicherheit in den Städten um die Prüfung der Möglichkeit zu bitten, vorbehaltlich hinreichender Finanz- und anderer Mittel weitere Seminare zu organisieren, so etwa in Szczecin (Polen) über den Einfluss des städtischen Umfeldes auf die Kriminalität; in Northumbria (Vereinigten Königreich) über die Zusammenarbeit zwischen Gemeindebehörden und Polizei; in den Niederlanden über grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Gemeinden und Regionen im Bereich von Prävention und Kontrolle;

46. einen Leitfaden oder ein Handbuch für die Gemeindebehörden mit Empfehlungen zur Bekämpfung von Straftaten zu erarbeiten sowie später die Ausarbeitung einer Charta für lokale und regionale Massnahmen zur Kriminalitätsvorsorge ins Auge zu fassen;

47. zu prüfen, ob der Vorschlag/die Vorbereitung einer europäischen Kampagne gegen Kriminalität in Städten durchführbar ist;

48. Partnerschaften zwischen Städten bei der Kriminalitätsprävention zu fördern, insbesondere solche mit einem innovativen und erfolgversprechenden Ansatz;

49. Seine Arbeitsgruppe über Bürgerrechte und -pflichten zu bitten, der Verminderung der Verbrechen als einem Hauptziel im Bürgerverhalten besondere Aufmerksamkeit zu schenken;

50. Seine Arbeitsgruppe über Stadtpolitik zu bitten, Aktivitäten betreffend die gesellschaftliche Stabilität und Kohäsion in Stadtquartieren aufzunehmen;

51. Sein Präsidium um die Prüfung der Möglichkeit zu bitten, Aktivitäten zur Vereinfachung der kommunalen Verwaltungsverfahren in den Mitgliedländern im Hinblick auf den Abbau von Korruptionsmöglichkeiten an die Hand zu nehmen;

52. Sein Präsidium zu bitten, seine Arbeiten zur politischen Integrität kommunaler und regionaler Abgeordneter weiterzuführen;

53. Seine aktive Zusammenarbeit mit anderen Stellen des Europarats (wie etwa der Pompidou-Gruppe oder dem Lenkungsausschuss für Kriminalprobleme) über Fragen von gemeinsamem Interesse fortzusetzen.

1 Diskussion und Zustimmung durch die Kammer der Gemeinden am 4. Juni 1997 und Annahme durch den Ständigen Ausschuss des Kongresses am 5. Juni 1997 (s. Doc. CPL (4) 5, Entschliessung vorgelegt von Herrn Jan MANS, Berichterstatter)