Entschliessung 52 (1997)1 betreffend "Föderalismus, Regionalismus, kommunale Selbstverwaltung und Minderheiten"

Der Kongress,

1. Nach Kenntnisnahme der Erklärung, die zum Abschluss der durch den KGRE und die autonome Region Friaul - Julisch Venezien vom 24. bis 26. Oktober 1996 in Cividale del Friuli (Italien) veranstalteten Konferenz über "Föderalismus, Regionalismus, kommunale Selbstverwaltung und Minderheiten" angenommen wurde;

2. In Berücksichtigung

a) der durch die Konferenzteilnehmer in ihrer Schlusserklärung geäusserten Vorschläge;

b) des durch Herrn Martini (Italien) im Anschluss an die Konferenz vorgelegten Berichts;

3. In Anbetracht der das Minderheitenproblem betreffenden Rechtsinstumente des Europarats, insbesondere:

a) des Rahmenübereinkommens betreffend den Schutz nationaler Minderheiten;

b) der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, und darin insbesondere des Artikels 7, 1(b), der die Respektierung des geografischen Gebietes jeder Regional- oder Minderheitensprache auferlegt, indem dafür gesorgt werden muss, dass bereits bestehende oder auch neue administrative Aufteilungen die Förderung dieser Sprachen nicht behindern;

4. In Berücksichtigung ausserdem:

a) der Texte der Organisation der Vereinten Nationen (UNO), der OECD sowie der Zentraleuropäischen Initiative (CEI) und des Europäischen Parlaments, die Minderheiten betreffen;

b) der bilateralen Verträge sowie der zahlreichen nationalen Verfassungen, welche vorsehen, dass den Minderheiten gewisse Formen der territorialen Autonomie gewährt werden;

5. Bedenkend, dass das Problem der sprachlichen und ethnischen Minderheiten zwar nationale Massnahmen erfordert, inzwischen jedoch zu einer Frage der Demokratie und der Wahrung der Menschenrechte geworden ist, somit Europa als ganzes angeht und daher eine internationale Regelung rechtfertigt;

6. Bedenkend, dass die Rechtsformen des Föderalismus, des Regionalismus und der kommunalen Selbstverwaltung, innerstaatlich gesehen, faktisch nichts anderes sind als unterschiedliche Anwendungen des Subsidiaritätsprinzips, welches die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung folgendermassen umschreibt: "Die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben obliegt im allgemeinen vorzugsweise den Behörden, die den Bürgern am nächsten sind. Bei der Aufgabenzuweisung an andere Stellen sollte Umfang und Art der Aufgabe sowie den Erfordernissen der Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit Rechnung getragen werden";

7. Bedenkend ausserdem den in der Empfehlung 1201 (1993) der Parlamentarischen Versammlung enthaltenen Vorschlag, wonach den Angehörigen einer nationalen Minderheit in jenen Regionen, wo sie sich in der Mehrheit befinden, das Recht auf angemessene örtliche Verwaltungen oder Selbstverwaltungen oder auf ein Sonderstatut zuerkannt werden sollte, das der besonderen geschichtlichen und territorialen Situation entspricht und mit der nationalen Gesetzgebung des betreffenden Staates im Einklang steht;

8. In Erwägung, dass territoriale Selbstverwaltung den Grundsätzen der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung zufolge umschrieben werden kann als das Recht und die tatsächliche Fähigkeit der Gebietskörperschaften, im Rahmen der Gesetze einen wesentlichen Teil der öffentlichen Angelegenheiten in eigener Verantwortung zum Wohl ihrer Einwohner zu regeln und zu gestalten;

9. In Erwägung, dass die kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften Orte darstellen können, wo die Probleme von Minderheiten, Probleme des Zusammenlebens, der Solidarität und des gegenseitigen Akzeptierens, diskutiert und geregelt werden können;

10. Versichert, dass unter gewissen Bedingungen, wie etwa starker Konzentrationen von Angehörigen einer kulturellen oder sprachlichen Minderheit (auf dem Gebiet einer Gemeinde, Provinz oder Region), die kommunale Selbstverwaltung ein sehr wirksames Instrument zur Regelung des Minderheitenproblems darstellt und separatistische Tendenzen verhindern kann;

11. Meint, dass kulturelle Selbstverwaltung - als wesentlicher, von den Minderheiten ausgeübter Bestandteil territorialer Selbstverwaltung - unter gewissen Bedingungen eine die Selbstverwaltung ergänzende Lösung darstellen kann;

12. Erachtet es angesichts der Besonderheit gewisser durch das Minderheitenproblem direkt betroffener Regionen als möglich, einzelnen Gebietskörperschaften des Staates erweiterte Kompetenzen insbesondere auf kulturellem und sprachlichem Bereich und im Bildungswesen zuzugestehen;

13. Tut seine Überzeugung kund, dass die territoriale Selbstverwaltung von Minderheiten nicht auf Bundesstaaten oder Staaten mit regionalen Strukturen beschränkt bleiben sollte, sondern dass sie auch in Einheitsstaaten möglich und wünschenswert ist; sie gefährdet die Oberhoheit und Integrität des Staates nicht;

14. Erinnert daran, dass grenzüberschreitende Zusammenarbeit beitragen kann zur friedlichen Lösung nationaler Minderheitenprobleme, wie dies die am 18. Oktober 1993 in Wien angenommene Erklärung der Staats- und Regierungschefs sowie das am 21. März 1980 unterzeichnete übereinkommen von Madrid hervorhebt;

15. Erklärt, dass die Voraussetzung für eine territoriale Selbstverwaltung von Minderheiten innerhalb eines Staates in jedem Falle die Herstellung der tatsächlichen Gleichheit aller Staatsbürger sowie eines angemessenen Rechtsschutzes der Minderheiten ist;

16. Beauftragt

seine Arbeitsgruppe "Regionalimus, Föderalismus, kommunale Selbstverwaltung und Minderheiten", einen dem Ministerkomitee zur Annahme vorzulegenden Empfehlungsentwurf auszuarbeiten, der aufzeigt:

a) unter welchen Umständen Minderheiten - unter voller Wahrung der territorialen Unversehrtheit des Staates und der Loyalität ihm gegenüber - eine geeignete Form der territorialen Selbstverwaltung zuerkannt werden sollte;

b) die Zuständigkeiten, welche eine territoriale Selbstverwaltung von Minderheiten grundsätzlich umfassen sollte sowie das Recht der Gebietsbehörden zur Zusammenarbeit und zur Vereinigung gemäss Artikel 10 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung;

c) die Vorkehrungen, welche dafür sorgen sollen, dass die den Minderheiten zugestandene territoriale Selbstverwaltung nicht etwa zu einem Faktor der Abkaspselung gegenüber der nationalen und europäischen Gemeinschaft wird, sondern, umgekehrt, einen zusätzlichen Anreiz zur Integration in diese darstellt;

d) die den regionalen Behörden zu übertragenden Zuständigkeiten hinsichtlich ihrer Minderheiten, worunter die Möglichkeit, auf kommunaler und regionaler Ebene Vermittler zu ernennen mit dem Auftrag, gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit den die Minderheiten vertretenden Organisationen die Rechte der Minderheiten zu verteidigen;

e) die Kriterien, welche herangezogen werden sollen, um in den Fällen, da die Dichte der Minderheitenbevölkerung die Einrichtung von territorialen Selbstverwaltungsbehörden rechtfertigt, die geografischen Zuständigkeitsbereiche dieser Behörden festzulegen;

f) die Notwendigkeit, im Falle der Zuerkennung oder jeglicher anderer Veränderung der territorialen Selbstverwaltung, über welche die Minderheiten verfügen, die Angehörigen dieser Minderheiten - eventuell über die sie vertretenden Organisationen - zu konsultieren, um zu einem Konsens sämtlicher betroffener Parteien zu gelangen;

g) die wünschenswerten Formen und Institutionen der kommunalen Selbstverwaltung sowie deren Funktionieren für die Fälle, dass aus geografischen, wirtschaftlichen, sozialen oder historischen Gründen die Gebietskörperschaft aus ethnisch, religiös, sprachlich und kulturell unterschiedlichen Bevölkerungen zusammengesetzt ist;

h) die Mittel zur Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von regionalen oder kommunalen Gebietskörperschaften, auf deren Territorium sich eine hohe Anzahl von Minderheiten befindet;

i) die Notwendigkeit, geeignete Instrumente für den Schutz der kulturellen und sprachlichen Identität der Minderheiten bereitzustellen.

1 Diskussion und Annahme durch den Kongress am 3. Juni 1997, 1. Sitzung (s. Doc. CG (4) 5, Entschliessungsentwurf, vorgelegt von Herrn Gianfranco MARTINI, Berichterstatter)