Empfehlung 176 (2005) 1 über die Gemeinde - und Regionaldemokratie in der Türkei

Der Kongress,

1. Unter Berücksichtigung des Begründungstextes über die Gemeinde- und Regionaldemokratie in der Türkei [CG(12)25 Part II], eingereicht von Anders Knape (Schweden, EVP/CD, L) und Hans-Ulrich Stöckling (Schweiz, ILDG, R) fordert das Ministerkomitee auf, folgende Schlussfolgerungen über den derzeitigen Stand der Gemeinde- und Regionaldemokratie in der Türkei zur Kenntnis zu nehmen und die türkischen Behörden aufzufordern, die folgenden Empfehlungen umzusetzen:

A. Globaler Reformprozess:

2. Der Kongress bestätigt, dass die türkische Regierung in den letzten Jahren klar ihre Entschlossenheit für substanzielle institutionelle Veränderungen zur Modernisierung der Gemeinde- und Provinzregierung unter Beweis gestellt und dass sie ein umfassendes Reformprogramm für Gesetzesänderungen begonnen hat. Das Programm befindet sich jedoch immer noch in der Umsetzungsphase und eine vollständige Evaluierung seiner Ergebnisse kann daher nicht vorgenommen werden;

3. Der Kongress stellt fest, dass vier lang erwartete Gesetzestexte (Gesetz über die Stadtgemeinden, Gemeindegesetz, Gesetz über die spezielle Provinzverwaltung und Gesetz über die Verbände/ Vereinigung der Gemeinden) nun verabschiedet wurden;

4. Offensichtlich erwägt die Regierung auch weitere Gesetzesentwürfe/Vorschläge (darunter ein Gesetz über Dorfverwaltung, ein Gesetz über Gemeindeeinnahmen und ein Gesetz über den öffentlichen Dienst). Diese Liste ist wichtig, da die Reform der Gemeinderegierung in der Türkei nur dann wirklich effizient ist, wenn ein breites Maßnahmenpaket, einschließlich dieser vorgeschlagenen Gesetze, geschnürt wird. Außerdem wird offensichtlich ein weiteres Programm mit Verfassungsänderungen erwogen, das eine langfristigere Anpassung der Beziehungen zwischen der Zentralregierung und den Gemeinden sowie die Ministerialbefugnisse zur Amtsenthebung der Bürgermeister vorsieht;

5. Festzustellen ist auch, dass die Reform zur Dezentralisierung nicht einstimmig von allen politischen Kreisen in der Türkei aufgenommen wird. Einige sind der Auffassung, dass die Übertragung der Zuständigkeiten die Einheit und die Integrität des Staates sowie die Kohärenz und Komplementarität der öffentlichen Dienste beeinträchtigen könnte;

6. Es ist offensichtlich, dass, wenn die vier neuen Gesetze voll und ganz umgesetzt sind und die notwendigen Ausführungsverordnungen erlassen werden, ein großer Fortschritt erzielt ist. Der Kongress ist jedoch der Auffassung, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt wesentlich ist, dass diese Gesetze auch von den übrigen Reformen begleitet werden (insbesondere der Finanzreformen) bevor man eine wirkliche Veränderung der Aufteilung der Zuständigkeiten zu erwarten ist. Das Ausmaß der erforderlichen Veränderungen sollte nie unterschätzt werden;

7. Empfehlung: Der Kongress empfiehlt, dass:

a. die türkische Regierung den Reformprozess fortsetzt und die Rechtsgrundlage der Gemeinden und Provinzen in enger Konsultation mit dem Verband der türkischen Gemeinden modernisiert;

b. die vier Gesetzte durch weitere Gesetze, insbesondere zu den Finanzressourcen, ergänzt werden;

c. die türkischen Behörden die Experten des Europarates gegebenenfalls bei Fragen der Gemeindefinanzen konsultieren;

B. Derzeitiger Stand der Gemeinde- und Provinzregierung und Einhaltung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung:

8. Obwohl ein ehrgeiziges Reformprogramm begonnen wurde, muss der Kongress leider feststellen, dass gemessen an der derzeitigen beschlossenen und umgesetzten Gesetzgebung, bisher wenig passiert ist, um das System der Gemeinderegierung in der Türkei zu reformieren, das der Kongress in seinen Berichten in den letzten Jahren beschrieben hat;

9. Begriff der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 3). Nach Auffassung des Kongresses ist es zwar deutlich, dass einige Stadtgemeinden und einige der größeren Gemeinden sich einer Situation annähern, in der sie „einen wesentlichen Teil der öffentlichen Angelegenheiten in eigener Verantwortung regeln und gestalten” dürfen, jedoch sind die Provinzgouverneure weiterhin dominant, die Funktionen der kleineren Gemeinden eingeschränkt und die Dorfverwaltungen schwach. Das macht das allgemeine Bild der kommunalen Selbstverwaltung in der Türkei nicht immer befriedigend;

10. Umfang der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 4). Der offizielle Umfang der Zuständigkeiten der Gemeinden (nicht aber in den Dörfern) wie im Gesetz festgelegt, ist umfassend, aber es ist dem Kongress unmöglich angesichts der zentralen Aufsicht, diese als „umfassend und ausschließlich“ zu beschreiben. Der Umfang der Zuständigkeiten (abgesehen von denen, die ad hoc als getrennt finanziertes Entwicklungsprojekt zugestanden werden) ist nicht groß. Ein Kennzeichen dieses Systems ist, dass viele Funktionen, die angemessen von den Gemeinden ausgeübt werden könnten, in der Praxis privatisiert sind;

11. Empfehlung: Der Kongress empfiehlt der türkischen Regierung, mit den Gemeinden eine schrittweise Übertragung der Zuständigkeiten gemäß der neu verabschiedeten Gesetzgebung auszuarbeiten. Besonderes Augenmerk sollte auf die kleinen Gemeinden und Dörfer gelegt werden. Der Kongress schlägt vor, dass die Dienste, die angemessen von den Gemeinden erbracht werden könnten, von ihnen übernommen werden sollten;

12. Angemessene Verwaltungsstrukturen und Ausstattung (Art. 6). Der Kongress ist der Auffassung, dass die Ausstattung im Allgemeinen nicht ausreicht für eine „effektive lokale Verwaltung”. Insbesondere gibt es keine Garantie für eine „Einstellung von qualifiziertem Personal auf der Grundlage von Leistung und Befähigung“;

13. Empfehlung: Der Kongress empfiehlt, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um die Einstellung von qualifiziertem Personal zu sichern;

14. Bedingungen für die Wahrnehmung der Aufgaben auf kommunaler Ebene (Art. 7) und Verwaltungsaufsicht über die Tätigkeiten der kommunalen Gebietskörperschaften (Art. 8)

a. eine Verbesserung in der Praxis ist, dass während in den 90er Jahren viele Bürgermeister des Amtes enthoben oder aus dem Amt entlassen wurden, sich die Situation in den letzten Jahren verbessert hat: 2002 (insgesamt 16 Amtsenthebungen), 2003 (12) und 2004 (4). Jedoch sind die Gesetzes- und Verfassungsbestimmungen, die bereits früher Anlass zu Kritik gaben, weiterhin in Kraft;

b. der Kongress ist der Auffassung, dass das große Gewicht der Zentralaufsicht und die Kontrolle über die Gemeinden noch nicht völlig aufgehoben wurden. Art. 127 der türkischen Verfassung sieht immer noch vor, dass „die Zentralverwaltung das Recht hat, eine Verwaltungsaufsicht über die Gemeinden im Rahmen der Prinzipien und Verfahren auszuüben, die im Gesetz festgelegt wurden, um die Funktionsweise der Gemeindedienste im Einklang mit dem Prinzip der integralen Einheit der Verwaltung, der Kohäsion des öffentlichen Dienstes zu gewährleisten und darauf zu achten, dass die örtlichen Bedürfnisse angemessen befriedigt werden;”

15. Empfehlung: Der Kongress empfiehlt den staatlichen Behörden auf Regierungs- und Parlamentsebene darüber nachzudenken, wie (im Einklang mit den vorangegangenen Empfehlungen des Kongresses) Art. 127 der Verfassung abzuändern ist, um das System der staatlichen Kontrolle über die Gemeinden zu lockern;

16. Finanzmittel der kommunalen Gebietskörperschaften (Art. 9)

a. der Kongress ist der Auffassung, dass die Finanzmittel der kommunalen Gebietskörperschaften, mit Ausnahme der großen Gebietskörperschaften, ein beträchtliches Problem für die kommunale Selbstverwaltung in der Türkei darstellen und trotz der angekündigten institutionellen Änderungen bei der ersten Serie der Legislativreformen, die 2004 eingeführt wurde, noch kein Entwurf für ein Gesetz über Gemeindefinanzen veröffentlicht wurde. Dies ist eine große Unterlassung;

b. man kann auch nicht sagen, dass der Großteil der Gebietskörperschaften mit angemessenen Finanzressourcen ausgestattet ist (gemessen an ihren Zuständigkeiten) über die sie frei verfügen könnten. Der Kongress stellt eine größere Abhängigkeit von den Zuschüssen der Zentralregierung fest (viele davon sind spezifisch und projektgebunden) als von den kommunal festgelegten Steuern und Abgaben (auch wenn die Zahlen für die Jahre 1995 -2001 einen kleinen (aber steigenden) Anteil des BIP zeigen (von 2,42% auf 3,18%) und (von 2,6% auf 3,15%) für die Gemeinden;

17. Empfehlung: Der Kongress empfiehlt, ein Gesetz über Gemeindefinanzen zu erlassen und umzusetzen. Dies wird als wichtige Frage erachtet, da die Reform nur dann effektiv sein kann, wenn dieses Gesetz kurzfristig verabschiedet wird;

18. Der Kongress schlägt auch vor, dass die starke Abhängigkeit der kleineren Gemeinden von den Zuschüssen der Zentralregierung schrittweise verringert werden sollte und dass ein neues Gesetz es den Gemeinden ermöglichen sollte, ihre Steuern und Abgaben gemäß Art. 9 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung festzulegen;

19. Vereinigungsrecht der kommunalen Gebietskörperschaften (Art. 10)

a. der Kongress stellt fest, dass die Gemeinden mit Hilfe von Verbänden untereinander kooperieren sollten und dass diese Praxis nach dem neuen Gesetz betreffend Verbände/Vereinigungen ausgebaut wird;

b. der Kongress betont auch, dass die Gemeinden sich dem Verband der türkischen Gemeinden anschließen;

c. die Gemeinden können Gründungsmitglieder oder Mitglieder von internationalen Organisationen oder Organen sein, die sich mit Angelegenheiten befassen, die in den Verantwortungsbereich der Gemeinden fallen. Der Kongress weist jedoch darauf hin, dass diese Tätigkeiten nur im Einklang mit der türkischen Außenpolitik und den internationalen Verträgen durchgeführt werden können und der vorherigen Genehmigung des Innenministers bedürfen;

20. Empfehlung: Der Kongress empfiehlt:

a. die Verbände und Vereinigungen der Gemeinden besser zu nutzen, insbesondere mit kleinen Gemeinden, um die Dienste zu erbringen, die sie alleine nicht erbringen können;

b. dem Verband der türkischen Gemeinden ein ständiger Partner der Zentralregierung bei der Ausarbeitung und Vorbereitung der Gemeindepolitik zu werden. Der Verband sollte bei allen relevanten Dokumenten, die von der Regierung ausgearbeitet werden, konsultiert werden;

c. die Notwendigkeit einer Vorabgenehmigung des Innenministeriums aufzuheben, damit eine Gemeinde einer internationalen Organisationen beitreten kann;

21. Provinzverwaltung

a. der Kongress stellt fest, dass einige Legislativmaßnahmen zu einer stärkeren Dezentralisierung der Provinzregierung eingeführt wurden. Hierzu gehören:

i. der (zentral ernannte) Gouverneur ist nicht länger der Vorsitzende des Provinzgeneralrates. Statt dessen wird der Generalrat von einem seiner Mitglieder geleitet, den der Rat wählt;

ii. der Provinzexekutivausschuss, der weiterhin vom Gouverneur geleitet wird, wird um zwei zusätzlich ernannte Beamte erweitert – den Leiter der Finanzabteilung und einen weiteren Beamten, der vom Gouverneur ausgewählt wird;

iii. eine Reihe von Anpassungen werden an die Funktionen, Befugnisse und Privilegien der Provinzbehörden vorgenommen;

b. der Kongress ist jedoch der Auffassung, dass der Zentralstaat immer noch eine beträchtliche Kontrolle über die Provinzen ausübt;

22. Empfehlung: Der Kongress empfiehlt, weiter über eine größere Dezentralisierung auf Provinzebene nachzudenken, einschließlich einer schrittweisen Einrichtung politisch wichtiger Provinzen, die in der Lage sind, einen beträchtlichen Anteil der öffentlichen Angelegenheiten aus eigenen Mitteln zu bewältigen;

23. Der Kongress fordert:

a. das Ministerkomitee auf, diese Empfehlung an die türkischen Behörden weiterzuleiten und sie aufzufordern, diese umzusetzen;

b. die türkischen Behörden auf, sich diese Empfehlungen des Kongresses anzusehen und über ihre Umsetzung bei einer der kommenden Sitzungen des Kongresses zu berichten;

c. die Parlamentarische Versammlung des Europarates auf, die Schlussfolgerungen des Kongresses über den Stand der Gemeinde- und Regionaldemokratie bei ihrem post-monitoring Dialog mit der Türkei zu berücksichtigen.

1 Diskussion und Annahme durch den Ständigen Ausschuss am 8. November 2005 (siehe Dok. CG (12) 25, Empfehlungsentwurf vorgelegt durch A. Knape (Schweden, L, EVP/CD) und H.-U. Stöckling (Schweiz, R, ILDG), Berichterstatter).