Empfehlung 26 (1996)1 betreffend "Gesundheit und Bürgerrechte: der Zugang zu Pflege für die Ärmsten Ëuropas"

Der Kongress,

mit Bezug auf den Vorschlag der Kammer der Gemeinden
und nach Kenntnisnahme der Stellungnahme vonseiten der Kammer der Regionen,

Hat zur Kenntnis genommen

1. die Konklusionen und die Schlusserklärung der am 8. und 9. Februar 1996 auf Initiative des KGRE in Strassburg durchgeführten Konferenz über "Gesundheit und Bürgerrechte: der Zugang zu Pflege für die Ärmsten Europas";2

2. den durch Frau Brodnianska (Slowakische Republik) im Anschluss an die Konferenz vorgelegten Bericht;

Erinnert an

1. die durch den KGRE angenommenen Texte und unternommenen Initiativen zur Sicherung der Bürgerrechte der Bedürftigsten in Europa, insbesondere:

- die Entschliessung 243 (1993) über Bürgerrechte und grosse Armut: die Erklärung von Charleroi;

- die Entschliessung 244 (1993) über das Recht auf Unterkunft und die Bedingungen seiner Umsetzung durch die Gemeinden und Regionen;

- die Entschliessung 40 (1996) über Arbeitslosigkeit/Arbeit: neue Tätigkeiten und Berufe - Einsatz und Perspektiven im kommunalen Zuschnitt;3

2. die Empfehlung Nr. R (86)5 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten betreffend die Herstellung der allgemeinen Verfügbarkeit ärztlicher Betreuung;

3. die Artikel 11 und 13 der Europäischen Sozialcharta sowie die revidierte Sozialcharta, und hier insbesondere die Artikel 30 und 31;4

Stellt fest

1. dass die ärmsten Personen, Familien und Gruppen gesundheitlich stärker beeinträchtig sind als die übrigen und bei ihrer Suche nach gesundheitlicher Pflege mehr Hindernissen begegnen;

2. dass der Zugang zu Pflege durch (gesetzliche, vorschriftsmässige oder administrative) Barrieren und diverse Hindernisse (Komplexität der zu unternehmenden Schritte, unterschiedliche Kostenträger für Behandlungen, finanzielle, persönliche oder kulturelle Hemmnisse) beeinträchtigt ist;

3. dass die Wirksamkeit der Gesundheitspolitiken hinsichtlich der Verbesserung des Gesundheitszustandes der Ärmsten in allen ihren Aspekten (Prävention, Förderung, Pflege, Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit und Wiedereingliederung) durch Faktoren wie Fehlernährung, schlechte Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit, fehlende Mittel, Analphabetismus usw. eingeschränkt ist;

Macht aufmerksam

1. auf die Gefahr, dass die sozialen Schwierigkeiten der Ärmsten medizinisch, wo nicht gar psychiatrisch, zu lösen versucht werden;

2. auf nationale, regionale und lokale Initiativen, die beweisen, dass es möglich ist, den gesundheitlichen Verfall der Ärmsten zu bremsen, hier Abhilfe zu schaffen und jenes multifaktorielle Geschehen, wovon der schlechte Gesundheitszustand nur eine der Folgen ist, sogar umzukehren;

Erklärt

1. dass die schlechte Gesundheit der bedürftigen Bevölkerungsteile auf eine Aberkennung ihrer Rechte hinausläuft, die sie von ihrer Mitbürgerlichkeit ausschliesst;

2. dass eine klare politische Willensbekundung für die Verbesserung der Gesundheit der Bedürftigsten, einhergehend mit einer Verbesserung ihrer Lebensumstände, nottut;

3. dass der Zugang zu Pflege und die Gesundheit der Bedürftigsten sich dann wirklich bessern werden, wenn sie an das gesamte übrige Spektrum der öffentlichen Politiken (Wohnungs-, Arbeits-, Einkommens-, Bildungs-, Kulturpolitik usw.) gekoppelt sein werden;

Empfiehlt

I - Den Regierungen der Mitgliedstaaten des Europarats

1. integrierte Politiken einzuleiten, welche die durch die bedürftigsten Personen, Familien und Gruppen selbst zum Ausdruck gebrachten gesundheitlichen Bedürfnisse berücksichtigen, dadurch mit ihnen gemeinsam ihre Gesundheit verbessern und ineins damit ihre gesellschaftliche Eingliederung oder Wiedereingliederung erleichtern;

2. die durch die Konferenz "Gesundheit und Bürgerrechte: der Zugang zu Pflege für die Ärmsten Europas" (Strassburg, 8.-9. Februar 1996) formulierte Schlusserklärung zu berücksichtigen,

- um für die Zugänglichkeit von Pflege zu sorgen und den Gesundheitzustand der Gesamtbevölkerung, einschliesslich gerade auch der Ärmsten, zu heben;

- indem sie, in ständigem Kontakt mit den Lebensumständen der Bevölkerung und in enger Bezogenheit auf die übrigen öffentlichen Politiken, trotz finanzieller, wirtschaftlicher, technologischer, ökologischer u.a. Zwänge, eine sowohl gebietsmässig als auch hinsichtlich der gesundheitlichen Bedürfnisse ausgewogene Gesundheitspolitik ansteuern;

- indem sie die lokalen und regionalen Behörden bei der Einführung von Neuerungen für die bessere Erfüllung der gesundheitlichen Bedürfnisse der Bevölkerung unterstützen;

- indem sie die finanziellen Lasten wie auch die Ausarbeitung der Gesundheitspolitiken in angemessener und gebietsmässig wie individuell ausgewogener Weise teilen;

- indem sie eine Verschränkung der verschiedenen öffentlichen Politiken und deren vertikale wie horizontale Integration mithilfe eines Netzes von Aktionen anstreben, das nach dem Grundsatz der Nachbarschaftlichkeit von der Basis ausgeht und sich als föderale Struktur ausbreitet;

- indem sie so die Vereine, die NROs, den Freiwilligensektor und unsere bedürftigsten Mitbürger in die Konzeption, die Umsetzung und die Evaluierung der öffentlichen Politiken miteinbeziehen;

- indem sie nach dieser dezentralisierten, partnerschaftlichen, integrierten und pluralistischen Methode ausgefeilte nationale Gesundheitspläne erarbeiten;

3. alle nötigen Massnahmen zu ergreifen, um zu erreichen, dass die Fakultäten, die Schulen und die fachspezifischen Institutionen die studentischen, beruflichen, administrativen und politischen Kreise darauf vorbereiten, mit Personen, Familien und Gruppen zu arbeiten, die aufgrund ihrer Armut gesellschaftlich ausgegrenzt sind;

II - Der Europäischen Union

1. den europäischen Städten und Regionen zu helfen,

- nach der Methode, wie sie in der Schlusserklärung der Konferenz "Gesundheit und Bürgerrechte: der Zugang zu Pflege für die Ärmsten Europas" (Strassburg, 8.-9. Februar 1996) vorgeschlagen wird, neuartige Zugänge einzuführen, um den gesundheitlichen Anforderungen der Bedürftigsten besser nachzukommen;
- ihre Erfahrungen auf diesem Gebiet untereinander, insbesondere mit den zentral- und osteuropäischen Ländern, auszutauschen;

2. für die sich um die Mitgliedschaft bei der Europäischen Union bewerbenden Länder ein spezielles, auf das selbe Vorgehen gestütztes Programm bereitzustellen;

III - Dem Ausschuss der Regionen der Europäischen Union

eingedenk der vorliegenden Empfehlung und der Entschliessung 41 (1996) in Verbindung mit dem KGRE nützliche Vorstösse und Aktionen auf diesem Gebiet in die Wege zu leiten;

IV - Der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

bei Anbruch des dritten Jahrtausends in Partnerschaft mit dem KGRE eine weitgespannte Initiative für "Europa und seine Bürgerschaftspolitiken" ins Auge zu fassen;

V - dem Ministerkomitee des Europarats

1. den Europäischen Gesundheitsausschuss (CDSP) zu beauftragen, die Ergebnisse der Strassburger Konferenz über Gesundheit und Bürgerrechte bei seinen Arbeiten am Zugang zu Pflege zu berücksichtigen;

2. das mit der Vorbereitung der Europäischen Raumordnungsministerkonferenz beauftragte Komitee hoher Beamter zu bitten, die durch die/den KGRE in mehreren neueren Texten (insbesondere der Entschliessungen 243 (1993), 244 (1993), 40 (1996) und der Empfehlung 25 (1996)) formulierten sowie in der vorliegenden Empfehlung, der Entschliessung 41 (1996) und der Stellungnahme vonseiten der Kammer der Regionen wiederholten methodologischen Vorschläge zu berücksichtigen;

3. die vorliegende Empfehlung sowie die Entschliessung 41 (1996) mit der Bitte um Stellungnahme den Lenkungsausschüssen CDPS und CDSS sowie zur Kenntnisnahme an den CDDH und den CC-HER zu übermitteln.

ANHANG

GESUNDHEIT UND BÜRGERRECHTE
Der Zugang zu Pflege für die Ärmsten Europas
Strassburg, 8.-9. Februar 1996

SCHLUSSERKLÄRUNG

Die in Strassburg am 8. und 9. Februar 1996 auf Initiative des KGRE in der Konferenz "Gesundheit und Bürgerrechte: der Zugang zu Pflege für die Ärmsten Europas" versammelten Teilnehmer (europäische und nationale Politiker, Bürgermeister, Parlamentarier verschiedener europäischer Städte, Kommunen und Regionen, Delegierte von Organisationen, Fachleute und europäische Bürger),

Nach Prüfung und Diskussion der Politiken des Zugangs zu Pflege für die Ärmsten (Bedarfsanalyse, laufende Erfahrungen, Aussichten) der folgenden Städte und lokalen Gebietskörperschaften: STRASSBURG und BAS-RHIN (Frankreich), GÖTEBORG (Schweden), LONDON BOROUGH OF NEWHAM (Vereinigtes Königreich), FRANKFURT a.M. (Deutschland), BUDAPEST (Ungarn), CHARLEROI (Belgien), WIEN (Österreich), BRATISLAVA (Slowakei) und TIRANA (Albanien),

und nach einem GESPRÄCH AM RUNDEN TISCH über die Bedingungen allgemeiner Art (Bürgerschaft im Dienste der Gesundheit) und die besonderen Bedingungen (Gesundheit als ein Faktor der Bürgerrechte) für den Zugang zu Pflege,

A. STELLEN FEST:

Hinsichtlich des Zugangs zu Pflege

1. Es gibt, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau, so doch immer mit den selben Auswirkungen, in allen europäischen Ländern Personen, Familien und Bevölkerungsgruppen, die beim Zugang zu den im Rahmen des nationalen Gesundheitswesens angebotenen Pflegemöglichkeiten auf mehr oder weniger grosse Schwierigkeiten stossen. Verschiedene Hindernisse vereiteln, beschränken oder verzögern ihren Zugang zu den vorhandenen Diensten. Sie sind im wesentlichen finanzieller, institutioneller und kultureller Art und können sich, je nach Land und Personenkreis, unterschiedlich zusammensetzen;

2. Diese Schwierigkeiten stellen eine Verweigerung der in den staatlichen Verfassungen und Gesetzgebungen wie auch in den internationalen Abkommen, insbesondere der Europäischen Sozialcharta des Europarats5 , zuerkannten
Rechte dar; sie treffen jene Personen, Familien und Gruppen am härtesten, die den gesellschaftlich und politisch schwächsten, finanziell und kulturell bedürftigsten Schichten der Gesellschaft angehören, mit einem Wort: die ärmsten und verwundbarsten Teile der europäischen Bevölkerung;

3. Der totale oder partielle Nichtzugang zu Pflege schlägt sich in der fehlenden Auslastung der Gesundheitsdienste vonseiten eines nicht unbeträchtlichen Teils der europäischen Bevölkerung nieder, der ihrer doch faktisch am stärksten bedarf; hieraus können sich pathologische Prozesse ergeben, welche der physischen und psychischen Unversehrtheit von Personen, Familien oder Gruppen gerade unter dem Ärmsten Abbruch tun;

4. Andererseits zeugt der erschwerte Zugang zu Pflege für die Bedürftigsten von der Unangepasstheit der Gesundheitsdienste an die speziellen Probleme dieser Bevölkerungskreise. Wenn sie auch im allgemeinen keine spezifischen Pathologien aufzeigen, so weisen doch an verschiedenen Orten Europas in letzter Zeit durchgeführte Untersuchungen eine über dem Mittel liegende Sterblichkeit und eine um mehrere Jahre unterhalb des nationalen Mittels liegende Lebenserwartung für die am unteren Ende der gesellschaftlichen Stufenleiter Angesiedelten nach, eine erhöhte Erkrankungshäufigkeit mit vor allem auch dem Wiederauftauchen von Krankheiten wie der Tuberkulose, die für endgültig besiegt galten, mit einem erhöhten Auftreten psychischer Störungen, mit Zuständen chronischer Müdigkeit, beschleunigtem körperlichem und seelischem Verschleiss - kurz, einer Minderung auch der Lebensqualität.

Hinsichtlich der Gesundheitssysteme

1. Die Gesundheitsdefizite der Bedürftigsten und die Entwicklung der Krankheitsanfälligkeit zeigen einerseits das Ungenügen der Präventivaktionen und andererseits - trotz der wiederholten Reformen fast aller nationaler Gesundheitssysteme in Europa - ihre chronische Unfähigkeit auf, den Gesundheitsbedürfnissen der Bedürftigsten nachzukommen;

2. Die allgemeinen oder spezifischen Mängel der Gesundheitssysteme lasten vor allem auf den bereits mit ernsten wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten konfrontierten, verwundbarsten Gruppen. Sie verschlimmern ihre Lage und stellen eine zusätzliche Behinderung für die Ausübung einer normalen Tätigkeit dar, wie sie den Menschen im allgemeinen obliegen. Dadurch erschweren sie noch ein geselliges, staatsbürgerlich verpflichtetes Leben und behindern die volle Ausübung der bürgerlichen Rechte.

Hinsichtlich der übrigen gesundheitswirksamen Faktoren

1. Zusammen mit dem schlechten Gesundheitszustand und dem schwierigen Zugang zu Pflege der bedürftigsten Personen, Familien und Gruppen gehen ernsthafte Probleme im Zusammenhang mit der Ernährung, der Unterkunft, dem Analphabetismus, der Isolierung und der Arbeitslosigkeit einher; diese grundlegenden Mängel bedingen und verstärken sich gegenseitig. Das bedeutet, dass weder die - an sich dringend notwendige - Beseitigung der Hindernisse für den Zugang zu Pflege noch die Reform der Gesundheitssysteme ihr Ziel, nämlich die Verbesserung der Gesundheit der Bedürftigsten, erreichen können, wenn nicht die übrigen öffentlichen Politiken dazu beitragen, und vor allem nicht ohne ein übergreifendes und kohärentes Konzept für die Bekämpfung und die Prävention der Armut;

2. Das Fehlen einer Gesamtreflexion und einer multisektoriellen Politik des Kampfes gegen die Armut vereitelt zum vornherein alle Bemühungen um einen verbesserten Zugang zu Pflege für die Ärmsten. Damit wird die Gefahr gross, die ungelösten sozialen Probleme medizinisch definieren zu wollen, beziehungsweise die aus unannehmbaren Lebensumständen resultierende Verzweiflung psychiatrisch anzugehen;

Im Hinblick auf Lösungsmöglichkeiten

1. Die gegenwärtige Verschlechterung ist jedoch nicht unausweichlich. Zahlreiche nationale, häufiger regionale oder lokale Initiativen - beispielsweise auf städtischer Ebene - zeigen, dass es möglich ist, den gesundheitlichen Verfall der bedürftigsten Personen, Familien und Gruppen zu bremsen, dagegen anzugehen und den vielfältigen Prozess, von dem die schlechte Gesundheitslage nur eine der Folgen ist, sogar umzudrehen; doch bedarf es hierfür eines klar zum Ausdruck gebrachten politischen Willens;

2. Bei der Analyse solcher Initiativen zeigen sich die grossen Vorzüge von Nachbarschaftsdiensten und die ausschlaggebende Bedeutung der Kenntnisnahme und Berücksichtigung der Erfahrungen und Ansichten der bedürftigen Menschen, ihrer aktiven Einbeziehung - individuell, oder besser noch, in Gruppen - in die Erarbeitung, Durchführung und Beurteilung aller Projekte oder Programme zur Verbesserung ihrer Gesundheit sowie der Förderung ihrer Geselligkeit als eines wichtigen Bestandteils bürgerschaftlichen Lebens. Sie zeigt auch, wie wichtig für eine vollständige Nutzung der Pflegemöglichkeiten eine kontinuierliche Begleitung ist, die jedoch das Privatleben der Menschen respektiert und so ein Vertrauensverhältnis schafft;

3. Derartige Erfahrungen kommen der Allgemeinheit zugute: durch die Verbesserung der Gesundheitsindikatoren, die durch den Zustand der Bedürftigsten gesenkt werden, durch die aufgrund der besseren Ausnutzung der präventiven und gesundheitsdienstlichen Angebote erreichten Einsparungen sowie durch die Wiederherstellung der Mitbürgerlichkeit Jener, die ihrer aufgrund unhaltbarer Lebensumstände verlustig gegangen waren. Mit einer entsprechenden Evaluierung liessen sich solche Erfahrungen unter Städten und Gebietskörperschaften, die von vergleichbaren Problemen betroffen sind, austauschen;

4. Eine derartige Erkenntnis und Anerkennung der Würde der Armen bedeutet eine erhebliche soziale und moralische Bereicherung der Gesellschaft insgesamt. Ein Beitrag hierzu durch die Verbesserung der Zugänglichkeit von Pflege und Gesundheit für bedürftigste Personen, Familien und Gruppen entspricht einer bürgerlichen Verantwortung und zugleich einer ethischen Forderung, die alle angeht: politisch Verantwortliche, Verwaltungsmitglieder und Berufsleute in den medizinischen und den Sozialdiensten, Vereine, NROs und, auch, ehrenamtlich Tätige;

B. ERKLÄREN:

1. dass es in allererster Linie Sache der Staaten ist, für die Zugänglichkeit von Pflege zuhanden der gesamten, vor allem aber der ärmsten Bevölkerung, zu sorgen; für die Verbesserung des Gesundheitszustandes der Gesamtbevölkerung, vor allem aber der am stärksten benachteiligten Schichten zu sorgen; für eine trotz finanzieller, wirtschaftlicher, technologischer, ökologischer o.a. Zwänge ausgewogene Gesundheitspolitik zu sorgen, ausgewogen sowohl in territorialer Hinsicht als auch hinsichtlich des medizinischen Bedarfs Aller einschliesslich der Ärmsten;

2. dass es Sache der kommunalen und regionalen Behörden6 ist, in Umsetzung des Grundsatzes der Nachbarschaftlichkeit die Entwicklung des Gesundheitszustandes ihrer Bevölkerungen aufmerksam zu verfolgen; Mängel des Gesundheitssystems zu melden; mithilfe der zentralstaatlichen Behörden neuartige Aktionen ins Werk zu setzen, um den gesundheitlichen Bedürfnissen sämtlicher Bevölkerungsgruppen besser zu entsprechen, und diese Aktionen bekanntzumachen, um den Erfahrungsaustausch mit anderen, durch ähnliche Probleme betroffenen Körperschaften zu fördern;

3. dass ungeachtet der Tatsache, dass die kommunalen und regionalen Politiker für den Gesundheitszustand aller Bürger und vor allem der Ärmsten unter ihnen verantwortlich sind, ihre faktischen Kompetenzen im Bereich der Konzeption, Umsetzung und Verwaltung sehr oft unentwickelt sind; infolgedessen dürfen sich die Staaten nicht entlasten, indem sie sich auf die Verantwortung und Verpflichtung der kommunalen, insbesondere auch der grossstädtischen Parlamentarier stützen, ohne zugleich die finanzielle Belastung sowie die Konzeption einer Gesundheitspolitik angemessen und nach Kriterien der territorialen und personalen Ausgewogenheit zu verteilen; das gilt auch für alle übrigen öffentlichen Politiken, besonders diejenigen, die den Gesundheitszustand der Bevölkerung, vor allem der Armen, massgeblich beeinflussen;

4. dass die Entwicklung eines Gesundheitssystems durch eine Politik gesteuert werden muss, die jedoch Gefahr läuft, die Orientierung zu verlieren, wenn sie nicht ständig mit den Lebensumständen der Bevölkerung in Berührung steht; und dass andererseits eine Gesundheitspolitik nur dann wirklich sinnvoll ist, wenn sie in enger Verbindung mit den übrigen öffentlichen Politiken betrieben wird;

5. dass die Verschränkung der öffentlichen Politiken, ihre vertikale (Gemeinden, Regionen, Staat) wie auch ihre horizontale (von Bürger zu Bürger) Integration nur von einem territorialen Netzwerk vielfältiger, von der Basis ausgehender, föderativ miteinander verbundener Aktionen ausgehen kann. Die territoriale Dimension sowie die multisektorielle Partizipation sind die beiden wesentlichen Bedingungen jeder Integration, Koordination und Kohärenz öffentlicher Politiken;

6. dass ein solches Vorgehen den Bürgern, Vereinigungen, NROs, ehrenamtlichen Helfern - allen, die die verwundbarsten und mittellosesten unserer Mitbürger verteidigen - einen gewichtigen Spielraum gibt, sodass diese Mitbürger als Partner einbezogen werden können in die eigentliche Erarbeitung, Überwachung und Evaluation der öffentlichen Politiken;

7. dass es gilt, sich um die Erarbeitung lokaler, regionaler und endlich nationaler Gesundheitspläne nach dieser pluralistischen, partnerschaftlichen und in sich verknüpften Methode zu bemühen, gestützt auf Orte, wo das Gespräch und das Zuhören möglich ist, sowie auf dezentralisierte, mehr oder weniger formalisierte Strukturen für Information, Ausbildung, Reflexion und Konzertation und mit der Aufgabe, zu evaluieren und Aträge zu stellen;

8. dass jedes mittel- oder langfristige "Projekt" eine ständige, allgemeine staatsbürgerlich verantwortungsvolle Aufgabe ist, die es gestattet, zwischen kurzfristigen Lösungen (dringende Antworten auf dringende Situationen) und mittel- bzw. langfristigen Lösungen (Entwicklungsvorhaben) zu unterscheiden oder Verbindungen herzustellen. Die Lösung gesundheitlicher und sozialer Probleme ergibt sich aus einem gemeinsamen Handeln, das - sofern es verkrusteten Strukturen und wirkungslosen Abläufen ein Ende setzt, sofern es zu Initiativen und Neuerungen, vor allem mit den Ärmsten, ermutigt und zu einem politischen Handeln wird - dem Anwachsen der Anzahl gesellschaftlich Ausgeschlossener unter unseren Mitbürgern Abhilfe schaffen kann7.

C. EMPFEHLEN:

1. den Staaten, integrierte Politiken einzuleiten, die in Berücksichtigung der durch sie selbst zum Ausdruck gebrachten gesundheitlichen Bedürfnisse der ärmsten Personen, Familien und Gruppen zusammen mit diesen ihre Gesundheit verbessern und damit ihre gesellschaftliche Eingliederung oder Wiedereingliederung erleichtern; den verschiedenen in diesem Sinne arbeitenden territorialen Stufen, Organisationen, Vereinigungen usw. die dafür nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen;

2. den Städten und Regionen, ihre Anstrengungen - auch durch spontane und innovatorische Aktionen - um die Förderung der Bürgerschaftlichkeit Aller, vor allem auch auf gesundheitlichem und sozialem Gebiet, fortzusetzen und zu intensivieren;

3. den medizinischen Fakultäten, den Schulen für Gesundheits- und Sozialarbeiter und den Weiterbildungsinstituten, die Studenten und Berufsleute darauf vorzubereiten, ihren Arbeitsplatz in jenem sozio-ökonomischen Umfeld aufzuschlagen, auf das ihre Arbeit abzielt, ihr Ohr den Erfahrungen und Ansichten der ärmsten Personen, Familien und Gruppen zu öffnen und diese zu vertreten; auch sollen Verwaltungspersonal und Politiker für die Arbeit mit denjenigen ausgebildet werden, die in grosser Armut und gesellschaftlicher Ausgrenzung leben;

4. dem KGRE, den Erfahrungsaustausch zwischen diesen Weg beschreitenden Städten, aber auch mit den übrigen europäischen Städten zu fördern, da die Gesundheit der Bedürftigsten immer mehr zu ihrer aller Sache wird; den Erfahrungsaustausch weiter zu betreiben und seinerseits durch vermehrte Reflexion und erhöhtes Engagement für die Ärmsten umfassender zu gestalten;

5. dem Europarat als Garanten der Menschenrechte, in seiner Arbeit die Respektierung der Würde aller Menschen immer stärker mit den Grundrechten (Arbeit, Unterkunft, Gesundheit), ohne welche es keine echte Bürgerschaftlichkeit gibt, zu verbinden; und mithilfe geeigneter Mittel eine immer stärkere Partnerschaft zwischen seinen Mitgliedern zu fördern als Element eines international solidarischen Verhaltens mit jenen Ländern, die durch die Armut ihrer Bürger am stärksten betroffen sind.

1 Diskussion und Zustimmung durch die Kammer der Gemeinden am 18. November 1996 und Annahme durch den Ständigen Ausschuss des Kongresses am 19. November 1996 (siehe Dok. CPL (3) 10, Entschliessungsentwurf vorgelegt von Frau K. Brodnianska, Berichterstatterin)

2 Die Schlusserklärung figuriert im Anhang. Berichterstattend nahmen die folgenden Städte und Regionen an der Konferenz teil: Budapest (Ungarn), Bratislava (Slowakische Republik), Charleroi (Belgien), Göteborg (Schweden), Frankfurt am Main (Deutschland), London Borough of Newham (Vereinigtes Königreich), Strassburg und Bas-Rhin (Frankreich), Tirana (Albanien), Wien (Österreich).Zu den anwesenden NRG gehörten: die nationale Liga der kommunalen Selbstverwaltungen (Rom), die Internationale Bewegung ATD Quart Monde (Brüssel und Paris), die Europäische Vereinigung der Allgemeinärzte (UEMO) und die Gruppe "Gesundheit" der NRO mit beratendem Status beim Europarat.

3 Weitere einschlägige Texte sind: die Entschliessung 236 (1992) betreffend die Europäische Charta der Partizipation der Jugendlichen am Leben der Kommune und der Region; die Entschliessung 255 (1994) betreffend die Arbeit der lokalen und regionalen Behörden im Hinblick auf AIDS und HIV-Infektion; die Empfehlung 5 (1994) betreffend "Europa und seine alten Menschen: auf dem Weg zu einem Generationenvertrag" sowie die Schlussfolgerungen der Konferenz von Siena; die Entschliessung 15 (1995) betreffend Lokaldemokratie: ein bürgerrechtliches Vorhaben.

4 Artikel 11 - Recht auf Schutz der Gesundheit ; Artikel 13 - Recht auf Fürsorge ; Artikel 30 - Recht auf Schutz vor Armut und gesellschaftlicher Ausgrenzung ; Artikel 31 - Recht auf Unterkunft

5 Siehe Artikel 11 - das Recht auf Schutz der Gesundheit und Artikel 13 - das Recht auf Fürsorge

6 Siehe die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung

7 Siehe die Entschliessung 243 über "Bürgerrechte und grosse Armut: die Erklärung von Charleroi", welche 1993 nach der Konferenz über "Europäische Gemeinden und Demokratie: die Armut durch Bürgerschaftlichkeit ausschliessen" (Charleroi, 5.-7. Februar 1992) durch die KGRE angenommen wurde.