Empfehlung 25 (1996)1 betreffend "Arbeitslosigkeit/Arbeit: neue Tätigkeiten und Berufe" - Einsatz und Perspektiven im kommunalen Zuschnitt

Der Kongress,

Erinnert

1. an die Stellungnahmen der Konferenz (KGRE) im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit (insbesondere die Entschliessungen 145 (1983), 178 (1986) und die Ergebnisse des Seminars von Stockholm (1993) über Staatsbürgerschaft und tiefe Armut: die Erklärung von Charleroi, die Entschliessung 244 (1993) sowie die Entschliessung 243 (1993) über das Recht auf Unterkunft und die Bedingungen seiner Umsetzung durch Gemeinden und Regionen sowie die Entschliessung 237 (1992) betreffend die Charta der Beteiligung der Jugend am Leben der Gemeinde und Region);

2. an die Empfehlung R(94)2 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Entwicklung der kleinen und mittleren Unternehmen;

Hat zur Kenntnis genommen

1. die am 3. Mai 1996 erfolgte Auflegung der Revidierten Europäischen Sozialcharta zur Unterzeichnung;

2. die Konklusionen der Weltgipfelkonferenz über die soziale Entwicklung (Kopenhagen, 11.-12. März 1995) und von Habitat II (Istanbul, 2.-13. Juni 1996);

3. die Ergebnisse der Konferenz der G7 über Beschäftigung (Lille, 2. April 1996);

4. die durch die Institutionen der Europäischen Union formulierten Vorschläge (Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über eine europäische Strategie zur Förderung lokaler Entwicklungs- und Beschäftigungsinitiativen (13. Juni 1995), Initiativstellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu den lokalen Entwicklungsinitiativen und der Regionalpolitik (25. Oktober 1995) und Konklusionen des Europäischen Rats von Florenz [...Juni 1996]);

5. die in den Konklusionen der durch den KGRE in Zusammenarbeit mit dem Regionalrat der Toskana vom 9.-10. Mai 1996 in Florenz durchgeführten Internationalen Konferenz über "Arbeitslosigkeit/Arbeit: neue Tätigkeiten und Berufe - Einsatz und Perspektiven im kommunalen Zuschnitt" angenommenen Ausrichtungen2;

Stellt fest,

1. Dass sämtliche europäischen Länder in eine Periode tiefgreifender Veränderungen ihrer wirtschaftlichen Strukturen eingetreten sind (neue Technologien und Herstellungsverfahren, Globalisierung usw.);

2. dass sich in den Ländern Mitteleuropas die mit deren Übergang zur Marktwirtschaft zusammenhängenden Handicaps mit denjenigen der neuen industriellen Revolution kumulieren;

3. dass diese Situation alle herkömmlichen sozialen Bezugspunkte über den Haufen wirft, ein wachsendes Risiko des sozialen Auseinanderbrechens darstellt und zusammen mit den Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen der Individuen den Sinn der menschlichen Existenz selbst in Frage stellt;

4. ein Anhalten, wo nicht eine Zunahme der Arbeitslosigkeit in fast allen europäischen Ländern, die die Jugendlichen und die am wenigsten qualifizierten Arbeiter besonders hart trifft;

5. eine entsprechende Verschlechterung der bereits ohnehin prekären Lebensbedingungen von Personen, Familien und Bevölkerungsgruppen;

Unterstreicht

1. dass diese Entwicklung und ihre Konsequenzen in krassem Widerspruch steht zu den in den Verfassungscharten und den grundlegenden internationalen Texten verankerten Prinzipien, und dass dies mit der Zeit, unseren Freiheiten und damit unsere Demokratien und die Zukunft unserer jungen Generationen gefährdet;

2. dass die Anstrengungen der Staaten, die hie und da unternommenen Versuche, wennschon lobenswert und nützlich, dem Ausmass des Problems doch nicht gerecht werden;

3. die Aktualität und Gültigkeit des Zugangs, wie ihn der KGRE in seinen neuen Texten vorschlägt, etwa in der Entschliessung 243 (1993) über Bürgerrechte und tiefe Armut, oder in der Entschliessung 244 (1993) über das Recht auf Unterkunft und die Bedingungen seiner Umsetzung durch die Gemeinden und Regionen sowie in den Schlussfolgerungen der Konferenz über Gesundheit und Staatsbürgerschaft - der Zugang zu Pflege für die Ärmsten in Europa (Strassburg, 8.-9. Februar 1996);

4. das Interesse der durch die Konferenz von Florenz vorgeschlagenen Richtlinien, worin der Akzent auf dem Zusammenhang zwischen der Solidarität und der Zukunft der menschlichen Betätigung liegt;

Ist überzeugt,

1. dass das Fehlen von Perspektiven zu Zukunftsangst führt, welche wiederum eine kollektive Unsicherheit mit sich bringt;

2. dass deshalb die Zukunft der menschlichen Beschäftigung im Zentrum der Aufmerksamkeit sowohl der Behörden, unabhängig von deren Zuständigkeitsebene, wie auch der Gesamtgesellschaft stehen müsse;

3. dass das einzige Mittel gegen die Unsicherheitsgefühle vor der Zukunft die Solidarität ist, welche daher durch Massnahmen, die eine Kontinuität in der Zeit gewährleisten, gewahrt und gefördert werden muss, um mitten in den durch die neue industrielle Revolution bewirkten Veränderungen doch einen friedlichen Übergang abzusichern;

4. dass sich die sozialen Probleme noch so lange verschärfen werden, wie sich die Beschäftigung nicht von den sie einengenden Hindernissen befreit haben wird;

5. dass diese Befreiung, die den kommenden Generationen Bewegungsraum geben soll, tiefgreifende wirtschaftliche, soziale und politische Reformen erfordert, die nicht zum guten Ende geführt werden können ohne ein verantwortungsbewusstes und solidarisches Handeln möglichst vieler Bürger - von den kleinsten Ortsbezirken über die Regionen und Staaten bis zu Gesamteuropa.

EMPFIEHLT

I. - den Behörden der Mitgliedstaaten des Europarats:

die in den zum Abschluss der Konferenz von Florenz angenommenen Konklusionen (im Anhang zu der Entschliessung 40 (1996)) enthaltenen Richtungsangaben zu berücksichtigen, im Hinblick darauf,

1. die Solidarität in Europa zu schützen und zu fördern, um zu verhüten, dass sich die Gesellschaft unrettbar in Reiche und Arme teilt, in solche, die bequem und in Sicherheit leben und solche, die am Wegrand zurückgelassen werden, insbesondere

- die absolute Notwendigkeit zu erkennen, dass neu nachgedacht werden muss über die Bedeutung der menschlichen Aktivität und ihrer Formen;

- die Revidierte europäische Sozialcharta zu unterzeichnen und/oder zu ratifizieren;

- zu fordern, dass die Solidarität (gesellschaftliche Kohäsion, volle Beschäftigung für alle) unter die mit zwingenden Kriterien versehenen Ziele mitaufgenommen werde, die die zwischenstaatliche Konferenz für die Revision des Vertrags von Maastricht festhalten wird;

2. die Kontinuität mit der Vergangenheit zu sichern und zugleich den Übergang in die Zukunft der menschlichen Beschäftigung anders zu gestalten, insbesondere

- dafür zu sorgen, dass die für die Stützung der Beschäftigung ergriffenen Massnahmen (Verringerung der Arbeitskosten, Flexibilität, Lohneinschränkung, Einteilung der Arbeitszeit usw.) nicht zuguterletzt die Arbeiter und die bescheidensten Haushalte noch mehr schwächen;

- die durch die kleinen und mittleren Unternehmen und andere Sektoren (das traditionelle Handwerk, den Agrotourismus, die Kulturgüter, den Umweltschutz und, hauptsächlich, den Zugang zum Wohnen) gebotenen Möglichkeiten vorab besser zu erkunden und hernach besser auszuwerten;

- sich mit mehr Aufmerksamkeit und Kohärenz auf die Hilfe zu konzentrieren, die den Arbeitslosen und den in Schwierigkeiten befindlichen Jugendlichen geboten wird;

- dafür zu sorgen, dass die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien tatsächlich den meisten, und unter den Jugendlichen: Allen, den Zugang zu der neuen Informations- und Lerngesellschaft öffnen; dies erfordert unter anderem eine klare Vision der technologischen Infrastrukturen der Zukunft sowie die Erprobung von sozial nützlichen Anwendungen;

- die Strukturen der beruflichen Ausbildung an die neue Situation anzupassen;

- Reformen im Hinblick auf eine Umverteilung von Beschäftigung und Einkommen einzuleiten;

3. die Hindernisse zu beseitigen, welche gegenwärtig die neuen Generationen daran hindern, ihren Beitrag an die Erneuerung der Welt zu leisten; dies erfordert

- eine Umstrukturierung der Erziehungs- und Ausbildungssysteme, eine Kräftigung des Bevölkerungssockels, den erbarmungslosen Kampf gegen das Schulversagen und den vorzeitigen Schulabgang;

- die Einführung einer Politik der Mehrsprachigkeit von früher Kindheit an;

4. die neuen, aus dem herkömmlichen Rahmen der Beschäftigung/Arbeit fallenden Tätigkeiten anzuerkennen (Schaffung eines neuen Tätigkeitssektors, konsequente Reform des Arbeitsrechts, Festlegung der kollektiven Aufgaben, die zu erfüllen sind, um verborgene Bedürfnisse aus den Potentialen nichtgenutzter menschlicher Ressourcen zu decken);

5. anzuerkennen, dass eine bis in die kleinsten Siedlungen hinein entfaltete Aktion für die Entwicklung der menschlichen Beschäftigung grundlegend ist für die Förderung des Bürgertums und daher sämtliche die Gemeinden und Regionen an der Ausübung ihrer Pflichten hindernden Hindernisse aufzuheben, sodass diese handlungsfähig werden und den in der Europäischen Charta für die kommunale Selbstverwaltung enthaltenen Grundsätzen zu voller Anwendung verhelfen können;

II. - der Europäischen Union,

1. dafür zu sorgen, dass die in der Europäischen Union zur Zeit geltenden "Konvergenzkriterien" vervollständigt werden durch solche, die sich auf die Aufrechterhaltung und Entwicklung der Solidarität beziehen;

2. weiterhin die Möglichkeit und Zweckmässigkeit eines Beitritts zur Europäischen Menschenrechtskonvention und zu der Revidierten Europäischen Sozialcharta zu prüfen;

3. auf jeden Fall eine unionsspezifische Strategie der Umsetzung der Revidierten Europäischen Sozialcharta ins Auge zu fassen;

4. in enger Zusammenarbeit mit dem Europarat vertiefte Überlegungen einzuleiten über die Bedeutung der menschlichen Tätigkeit und deren Erscheinungsformen zu Beginn des 21. Jahrhunderts sowie über die Folgen der neuen Situation für die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Organisation unseres Kontinents;

5. die kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften an dem Vertrauensabkommen für die Beschäftigung teilnehmen zu lassen und ihnen allen dabei eine reale Möglichkeit zu geben, sich als Gleichberechtigte an den durch den Europäischen Rat am 22. Juni 1996 in Florenz gutgeheissenen Pilotprojekten betreffend die "territorialen und kommunalen Beschäftigungsabkommen" zu beteiligen;

6. für die sich um die Aufnahme in die Europäische Union bewerbenden europäischen Länder ein auf den selben Modalitäten beruhendes Sonderprogramm auszuarbeiten;

III. - dem Regionalkomitee der Europäischen Union,

1. bei seiner nächsten Prüfung der Strategie der Kommission der Union für die Umsetzund der "territorialen und lokalen Beschäftigunsabkommen" die vorliegende Empfehlung und die in den Konklusionen der Konferenz von Florenz enthaltenen Richtungsangaben im Sinne zu behalten;

2. sodann in Verbindung mit dem KGRE in diesem Bereich nutzbringende Aktionen oder Initiativen ins Auge zu fassen;

IV. - der Parlamentarischen Versammlung des Europarats,

für die europaweite Sichtbarkeit der durch die Mitgliedstaaten für den Schutz und die Förderung der Solidarität geführten Politiken zu sorgen, um die Diskussion über die Beschäftigung, die Arbeit und die Zukunft der menschlichen Betätigung wirklich zu europäisieren und auch das Europäische Parlament und den KGRE damit zu befassen;

V. - dem Ministerkomitee des Europarats,

1. die Revidierte Europäische Sozialcharta zu einem echten gesamteuropäischen Instrument für den Schutz und die Förderung der Solidarität zu machen;

2. die Einleitung eines grossen multidisziplinären Kooperationsprojekts vorzusehen, dem alle zuständigen Lenkungsausschüsse, insbesondere der CDCC, CDPO, CDEM, CDPS, CDEJ, der Lenkungsausschuss für die Gleichheit von Frau und Mann sowie der CDSS angegliedert wären mit dem Ziel der systematischen Erkundung von neuen Politiken für die verschiedenen Bereiche, um so auf die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Zukunft der menschlichen Tätigkeit antworten zu können;

3. als erstes eine auf zwischenstaatliche Gegenseitigkeit gegründete echte Europapolitik der Vielsprachigkeit von frühester Kindheit an zu konzipieren, die bestimmt wäre, wachsende Massen junger Diplomierter überall in Europa zu beschäftigen; sodann Experten mit der zahlenmäßigen Bezifferung der Hunderttausende von Arbeitsplätzen zu beauftragen, die damit geschaffen werden könnten, sowie einer Evaluierung der zu erwartenden Seiteneffekte für die neuen Tätigkeiten und Berufe sowie für die Wirtschaft und Gesellschaft Europas;

4. ebenso eine Wohnungspolitik für die Obdachlosen und die Schlechtbehausten in den europäischen Ländern zu fördern, und diesen, sofern sie arbeitslos sind, über den Zugang zu einer eigenen Unterkunft eine Ausbildung im Hinblick auf ihre Wiedereingliederung in die Wirtschaft und die Gesellschaft zu sichern;

5. eine ad hoc geschaffene Expertengruppe zu beauftragen, ihm eine klare Vision der zukünftigen technologischen Infrastrukturen zu verschaffen sowie Hinweise über gesellschaftlich nutzbringende Anwendungen zu geben, um so allen Jugendlichen einen Zugang zu der neuen Informations- und Lerngesellschaft zu bieten.

 

1 Als Richtentscheid durch den Kongress angenommen am 4. Juli 1996 und durch den Ständigen Ausschuss des Kongresses am 5. Juli 1996 angenommen (siehe Dok. CG (3) 5, Empfehlungsentwurf vorgelegt von Frau P. Dini, Berichterstatterin)

2 Die Konklusionen sind der Entschliessung...(1996) des KGRE als Anhang beigefügt. Folgende Regionen und Städte haben sich als Berichterstatter an der Konferenz beteiligt: die Toskana (Italien), das Test-Tal (Vereinigtes Königreich), Dorsten/Nordrhein-Westfalen (Deutschland), Arraiolo-Alentejo (Portugal), Wallonien und Charleroi (Belgien), Nowy Sacz (Südost-Polen), Budapest (Ungarn), Helsinki (Finnland), Wien (Österreich). Ebenfalls beteiligt haben sich Vertreter der folgenden Organisationen: Europäischer Gewerkschaftsbund (Brüssel), JOC Européenne (Brüssel), Institut de Recherche du Mouvement International ATD Quart Monde (Brüssel), Association internationale des quartiers en crise (Brüssel), Internationale Föderation der sozial-kulturellen Nachbarschaftszentren (Strassburg), Association européenne des régies de quartier (Strassburg), Fédération européenne des associations nationales travaillant avec les sans-abri (Brüssel).