Władysław Bartoszewski

Erinnerung, Dialog und Toleranz als Grundlage des europäischen Ethos

Ansprache beim Seminar der Erziehungsminister der Länder des Europarats zum Thema „Gedenken an den Holocaust und die Verhinderung von Völkermorden in der Zukunft“ 

Nürnberg, 7. November 2008

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

dieses Seminar und auch der heutige Tag stehen ganz im Zeichen der Vorbeugung und der Didaktik. Der Erfahrungsübertragung und der erzieherischen Rolle der Erinnerung. Nicht zuletzt auch im Zeichen der Warnung. Dass Erziehung nicht immer einfach ist und dass Menschen leider die Eigenschaft haben aus logischer Argumentation nur selten persönliche Schlüsse zu gewinnen, weiß jeder, der schon mal versucht hat einem Kind zu erklären – kolloquial ausgedrückt – beim Spielen mit der Schublade auf die Finger aufzupassen. Es gibt solche Erfahrungen, die jeder und vielleicht auch jede Generation für sich machen muss. Aber es gibt auch solche, die den Nachkommen um jeden Preis erspart werden sollen und müssen.

 

Der große Albert Einstein, bekannt für seine bewundernswerte Fähigkeit Weltbewegendes in knappe Worte zu fassen, schreibt in einem seiner späten Texte: „Liebe Nachwelt! Wenn ihr nicht gerechter, friedlicher und überhaupt vernünftiger sein werdet, als wir sind bzw. gewesen sind, so soll euch der Teufel holen!“. Sehr drastisch ausgedrücktes Vermächtnis, und sehr klares zugleich. Aber eines, das vielleicht gerade in dieser unverschönerten Form notwendig ist, weil es – auf den Punkt gebracht – eine deutliche Wahl und Entscheidung ermöglicht. Diese Entscheidung können wir für künftige Generationen nicht im Vorfeld treffen. Wir sind ja nicht einmal im Stande gegenwärtig alle Erscheinungsformen der dunklen Seite menschlicher Seele zu eliminieren und Gräueltaten zu verhindern, die vor unseren Augen nach wie vor an vielen – manchmal gar nicht so entfernten – Orten der Welt geschehen. Was aber doch in unserer Macht liegt, ist der Nachwelt eindeutige Botschaft zu hinterlassen und zumindest Rahmenvoraussetzungen zu schaffen für ein Leben in Freiheit, im gegenseitigen Respekt, in der Achtung der Menschenwürde und Rechte. Kurz: wir können der Vernunft einen Nährboden geben, auf dem sie – so möchten wir alle hoffen – trotz wahrscheinlich unvermeidbarer gelegentlicher Rückschlage in der Zukunft gedeihen wird.

 

Es existiert wohl kein allgemeingültiges Rezept, die Rückkehr solch traumatischer und unfassbarer Zivilisationsbrüche wie der Holocaust in Europa ein für allemal zu verhindern. Dennoch setze ich meine Hoffnungen auf folgende drei Bedingungen: auf Erinnerung und Gedenken, d.h. auf den Umgang mit der Vergangenheit. Auf Begegnung und Dialog. Und besonders auf feste Verankerung der Werte wie Toleranz, Aufgeschlossenheit und Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Diesen drei, aus meiner Sicht fundamentalen Bereichen möchte ich die heutige Ansprache widmen.

 

Es mag zunächst eine Binsenwahrheit sein – und dennoch eine, die stets wiederholt werden sollte – wen ich behaupte, dass die Vergangenheit, mit allen ihren Schattenseiten, unser heutiges Dasein prägt. Wir sind Erben der Geschichte, ihrer Hochflüge und Rückschläge. Daher kommt gerade dem richtigen Gedenken eine enorme Verantwortung zu. Was heißt aber richtiges Gedenken?

 

Es ist nicht lange her, dass ich die Ehre hatte genau zu diesem Thema (im Juni dieses Jahres) bei der Veranstaltung zu Ehren von Frau Dr. Barbara Distel, der langjährigen Leiterin der Gedächtnisstätte Dachau, zu sprechen. Und zwar von der zukunftsorientierten Verantwortung, die jede Art der Auseinandersetzung mit vergangenen Tragödien in sich birgt: nämlich jener der Bildung. Gedenken ist ein Denkmal für die Ewigkeit, aber keines aus Steinen, sondern ein Denkmal in der Seele der Überlebenden und – sehr wichtig – der Nachkommen. Persönlich gehöre ich zu der letzten Generation der Zeitzeugen, die noch von den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der beiden Totalitarismen der NS und kommunistischer Regime berichten können. Bei künftigen Seminaren wie das heutige wird aber diese Stimme meiner Generation fehlen. Bleiben werden zwar Berichte und Bücher, aber die Lehre behält nur dann ihre Wirkungskraft, wenn sie fest verinnerlicht wird. Wenn sie im Geiste Verankerung findet. Mit einwenig Optimismus erfüllen mich hier die Worte des hauptsächlich für seine Aphorismen geschätzten polnischen Dichters Stanislaw Jerzy Lec, wonach der Mensch an einer fatalen Spätzündung leiden würde: er begreift nämlich alles erst in der nächsten Generation. Für mich ist das ein Grund für Hoffnung, wenn die Kinder die Fehler ihrer Väter und Großväter begreifen.

 

Richtiges Gedenken heißt also: Erinnerungen generationsübergreifend aufzubewahren, um auf ihrer Grundlage dieses schon erwähnte Begreifen zu ermöglichen. Gedenken ist auch als Ansporn für historische Diskussion und historischen Dialog zu verstehen. Denn Geschichte ist geradezu prädestiniert, um zur Dialogsplattform zu werden. Wir machen uns heute in Europa zunehmend Gedanken über die Wurzeln unserer Gegenwart. Es scheint auch das Bewusstsein heranzureifen, dass es ohne kritisches Nachdenken über die Vergangenheit unmöglich ist, einen vernünftigen Blick in die Zukunft zu werfen. Und es ist eine deutliche Tendenz sichtbar, gerade jetzt Erinnerungsstätten und Museen zu errichten. So viel Geschichte und Erinnerung gab es noch nie, behaupten manche.

 

Es ist aber gelegentlich beunruhigend, dass das Gedenken missverstanden wird und scheinbar dazu dient, alte Vorurteile aufs Neue aufleben zu lassen. Dass die europäischen Geschichtsperspektiven sehr unterschiedlich sind, darüber sprach ich ende September in gemeinsamer Podiumsdiskussion mit Herrn Europaparlamentspräsidenten Hans-Gert Pöttering in Berlin. Jedoch darf Gedenken an Traumen wie den Holocaust, wie Krieg, Vertreibung und Massenvernichtung niemals gegen jemanden gerichtet sein, obwohl es dieses destruktive Potenzial durchaus besitzt. Es darf nie politischen Zielen dienen und Vorwand für Realisierung kurzsichtiger Interessen liefern. Richtig verstandenes Gedenken in gemeinsamer historischer Reflexion schafft vor allem eine so wertvolle Gelegenheit zur Annäherung. Diese Chance gilt es wahrzunehmen und wertzuschätzen.

 

Aus diesem Grund setze ich mich für eine Europäisierung der geschichtlichen Debatte. Europa muss sich dadurch auszeichnen, dass seine Länder und Völker neben eigener Kultur auch eigene historische Erfahrungen zum gemeinsamen Diskurs beitragen. Das Gedenken an schmerzliche Geschichte wird erst dann entsprechende didaktische Rolle spielen und Früchte tragen, wenn es tatsächlich im europäischen Rahmen stattfindet.

 

Die Schlussfolgerung dieser Überlegungen zur ersten der drei genanten Voraussetzungen, den künftigen Generationen ein friedliches, respektvolles und gewaltfreies Leben zu ermöglichen ist nicht bahnbrechend, nicht revolutionär. Da soll sie auch nicht sein. Sie ist simpel und einfach, fast selbstverständlich: Erinnerung und Gedenken dienen nicht bloß dazu, über Tragödien wie der Holocaust in Schmerz und Trauer zu reflektieren. Gedenken und Erinnerung haben einen kreativen Charakter, eine dringende zukunftsorientierte erzieherische Aufgabe. Sie können uns in vielerlei Hinsicht zu besseren Menschen machen.

Die kommenden Generationen dürfen nicht vergessen, dass sich der Zweite Weltkrieg immer und ewig von den vorherigen Kriegen unterscheiden wird. Durch den geplanten Menschenmord, durch eine planmäßig durchgeführte Vernichtung von Millionen Menschen, durch das quälende psychische und physische Leid, das ihnen ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter angetan wurde, den langsamen Tod durch Hunger und Krankheiten in Konzentrationslagern und Ghettos, den gewaltsamen Tod bei Massenexekutionen und den Märtyrertod in den Gaskammern.

Die bittere Erfahrung lehrt uns, wie groß die Bedeutung des Fortschritts von Wissenschaft und Technik und der materiellen Kraft der Staaten ist. Die Erfahrung ist bitter, weil diese Kraft im 20. Jahrhundert gegen die Menschen gerichtet war. Wir müssen uns also auf eine gewisse universelle Wertordnung, auf einen ethischen Maßstab stützen, der sowohl die Juden, als auch die Bekenner aller christlichen Kirchen verbindet - an die Zehn Gebote, die Gott Moses auf dem Sinai übergeben hat. Eines dieser Gebote heißt: "Du sollst nicht töten!" Das soll nicht nur heißen: du sollst kein Verbrechen begehen, sondern auch: du sollst nicht zum Verbrechen aufwiegeln, du sollst das Verbrechen nicht akzeptieren, du sollst nicht gegen das Verbrechen gleichgültig bleiben. Denn Gedenken ist letztendlich auch eine Verpflichtung zum Handeln. Zum Aufbegehren gegen die Gleichgültigkeit.

 

Diese Forderung richtet sich natürlich besonders an alle, die für Gestaltung des Bewusstseins der neuen Generationen verantwortlich sind. Ich meine hier auch diejenigen, die das Vorstellungsvermögen der Menschen über die Medien beeinflussen. Wenn der Totalitarismus ein Ausdruck des Triumphes von Hass und Verachtung war, dann gebietet das Testament seiner Opfer, nachzudenken über Methoden, wie man sich dem Hass, der Verachtung und dem Gefühl einer eingebildeten Überlegenheit einer Nation oder einer Menschengruppe gegenüber anderen Nationen oder Menschengruppen wirksam widersetzen kann. Das kategorische Gebot für die Nachkommen muss auf entschiedenem Widerstand gegen etwaige Symptome aller Erscheinungen und Gefahren von Fremdenfeindlichkeit beruhen.

 

Keiner von uns ist von der Pflicht befreit, Folgerungen daraus zu ziehen, was sich an vielen mehr oder weniger bekannten Orten Europas ereignet hat, an denen der Hass die Oberhand gewonnen hatte. Der Sieg des Hasses währte nur kurz, aber der Preis seines Triumphes war zu groß, als dass man die Praxis des Hasses heute aus Unwissenheit oder durch Vernachlässigung in den Beziehungen zwischen den Menschen, zwischen Nationen, ethnischen oder konfessionellen Gruppen, zulassen dürfte. Das Rezept dagegen ist bereits in unserem europäischen Ethos enthalten. Es lautet: Güte, Vertrauen, Menschenliebe. Es steckt auch in der Kraft unserer Erfahrungen und des Dialogs.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

um den Dialog zu ermöglichen ist vor allem eines notwendig: die Bereitschaft zur breit verstandenen Begegnung. Vor wenigen Wochen, am 24. Oktober, hielt ich einen Festvortrag in Wien anlässlich des 50. Jubiläums des Bestehens des Instituts Janineum, einer mit katholischen Kreisen eng verbundenen Institution mit großen Verdiensten für akademischen und künstlerischen Austausch. Ich postulierte dabei, dass wahre Begegnungen zwischen Menschen, Meinungen, Kulturen und Völkern anstrengend sein können. Sie sind meistens mit persönlichem Engagement und oft mit Kompromissbereitschaft verbunden. Sie setzen Offenheit und Akzeptanz voraus. Doch letztendlich ist jede Begegnung ein Gewinn, denn sie erweitert Horizonte, hilft sich einander kennen zu lernen, andere Sitten und Meinungen erklärt zu bekommen. Und sich im Zuge dieses Prozesses der lästigen Vorurteile entledigen. „Vermeide niemand, der dir begegnet. Du findest leicht einen, dem du hilfst und einen, der dir helfen kann“, schrieb Johann Wolfgang von Goethe. Manchmal genügt es, wenn diese Hilfe auch nur darin besteht, das was vorher „fremd“ und unbekannt, vielleicht sogar furchteinflössend war, zum Vertrauten und Bekannten zu machen.

 

Begegnung schafft also eine Basis für Diskussion, oder besser: für den schon erwähnten Dialog. Sie findet im Gespräch und im Zuhören statt. Ihr Resultat kann selbstverständlich höchst unterschiedlich sein. Es gibt aber nichts Schlimmeres als Begegnungen im Voraus zu vermeiden und im sturen, gefährlichen, wenn auch für viele leider bequemen Unwissen von und über einander zu verharren. Solche Situationen – ein Mangel an wirklichen Begegnungen und am gegenseitigen Verständniswillen – ist willkommener Boden für Xenophobie und für Vorurteile. Die schlimmsten von ihnen entstehen nämlich dann, wenn Angehörige verschiedener Gruppen oder Vertreter unterschiedlicher Meinungen wenig bzw. gar keinen Kontakt miteinander haben. Kontakt im Sinne des wahren Dialogs. Auch historische Ressentiments werden dort konserviert – und zwar oft über Generationen hinaus – wo kein historischer Dialog zustande kommt. Wo keine Versöhnungs- oder sei es nur Annäherungsversuche unternommen werden. Dabei wären in zahlreichen Fällen Konflikte durch konsequent realisierte Begegnungen zu vermeiden.

 

Eine freiheitliche, tolerante und demokratische Gesellschaft ist das einzige auf Dauer wirkungsvolle Mittel gegen Hass und Verachtung. Eine solche Gesellschaft wird zum Träger der Verpflichtung einerseits die Erinnerung an begangene Verbrechen aufzubewahren, andererseits sich aber aktiv und mit Entschlossenheit allen Erscheinungsformen der Menschenrechtsverletzung, des gegen andere gerichteten Populismus und der Intoleranz zu widersetzen. „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“, heißt es nach Bertold Brecht.  

 

Somit haben wir alle die Verpflichtung: Dummheit, Aggressivität und Hass abzulehnen. Ich bin überzeugt, dass diejenigen, die in den Jahren des Schreckens die Möglichkeit hatten, sich dem Verbrechen zu widersetzen, sowie die, die vor dem Untergang gerettet wurden und die Taten der menschlichen Solidarität in Erinnerung rufen, in gewisser Weise dazu beigetragen haben, dass die Welt auch nach dem Holocaust nicht ganz ohne Hoffnung ist.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

abschließen möchte ich mit den Worten meiner hochgeehrten Kollegin und Freundin, Frau Prof. Dr. Erika Weinzierl aus ihrem Buch Zu wenig Gerechte – Österreicher und Judenverfolgung 1938 – 1945

 

„Das oberste Ziel jedweder Erziehungsbemühung sollte sein: die Weckung und Festigung der Überzeugung, dass die Menschenrechte nie und nirgends verletzt werden dürfen; dass sie von allen für alle verteidigt werden müssen und dass diese Verteidigung mit der Sprache beginnt. Steht doch schon in den Sprüchen Salomons: Tod und Leben sind in der Macht der Zunge. Nur eine konsequente und unermüdliche Erziehung in dieser Richtung erlaubt die Hoffnung, dass in kommenden Generationen nicht wieder nur einzelne Gerechte das Bildnis der Menschen wahren werden“.

 

Ich halte dies für eine gute Zusammenfassung des leitenden Gedankens dieses Seminars.

 

Vielen Dank!