4th Seminar of European Ministers of Education “Teaching remembrance: for a Europe of freedom and rule of law”. Nuremberg and Dachau, Germany, 5-7 November 2008

Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse
By Prof Christoph Safferling

Vortrag am 7. November 2008 in Nürnberg

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

spricht man in Europa von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, nimmt Nürnberg eine bedeutsame Rolle ein. Das Reichsparteitagsgelände, auf dessen Grund wir uns hier befinden, steht in besonderer Art als Symbol für Unterdrückung und Tyrannei, der Schwurgerichtssaal, den Sie soeben besucht haben, steht für Bestrafung und Wie-dergutmachung im Falle schwerwiegendster Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Europa hat, nachdem es die schlimmsten Verbrechen, die menschlich überhaupt vorstellbar sind, erleben musste, einen Prozess der Vereinigung und Versöhnung eingeläutet, der in den letzten 60 Jahren zu einer ungewohnt friedlichen und prospe-rierenden Zeit geführt hat. Im Prozess des Erinnerns an die blutige Geschichte Europas und dem gleichzeitigen Bemühen, die Grausamkeiten der Vergangenheit nicht zu wiederholen, sind die Nürnberger Prozesse von besonderer Bedeutung. Wenn ich zu Ihnen nun in der folgenden halben Stunde über die Signifikanz der Nürnberger Prozesse sprechen möchte, so stehen vor allem drei Punkte im Mittelpunkt.

1. Die Errichtung von anerkannten internationalen Kernverbrechen als Magna Charta der Menschheit,

2. die Idee, einer internationalen Strafjustiz über den Grundsatz der Staatssouve-ränität, und

3. das fair-trial-Prinzip als Grundlage eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens.

Bevor ich zu diesen drei Punkten komme, möchte ich eine kurze Klarstellung treffen: Wir sprechen immer von den Nürnberger Prozessen, wir sprechen im Plural. Im Nürnberger Schwurgerichtssaal wurden aber zwei phänotypisch verschiedene Pro-zessarten durchgeführt. Zum einen der sogenannte Nürnberger Hauptkriegsverbre-cherprozess, der ein internationaler Strafprozess war, basierend auf der am 8. Au-gust 1945 in London verabschiedeten Charta des internationalen Militärgerichtshofs. Auf der Grundlage dieser Charta wurden von den alliierten Siegermächten, den USA, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und der Sowjetunion insgesamt 21 vormalige Nazi-Größen verfolgt. Auch wenn es anfangs so geplant war, fanden in der Folge keine weiteren wirklich internationalen Strafverfahren mehr statt. Der kalte Krieg war bei Beendigung des ersten und einzigen Hauptkriegsverbrecherprozesses am 1. Ok-tober 1946 bereits so weit fortgeschritten, dass kein zweites Mal eine Kooperation zwischen den westlichen Siegermächten und der Sowjetunion vorstellbar war. In der Folge wurden weitere NS-Verbrecher von nationalen Gerichten verfolgt und abgeur-teilt. Die weiteren Verfahren, die als sogenannte Nürnberger Nachfolgeprozesse in die Geschichte eingegangen sind, waren Prozesse, die allein unter US-amerikanischer Verantwortung durchgeführt wurden auf der Grundlage von Kontroll-ratsgesetz Nr. 10. Parallel wurden sowohl in der französischen wie der britischen, aber auch in der sowjetisch besetzten Zone Verfahren gegen Kriegsverbrecher durchgeführt, die allerdings nicht die gleiche Aufmerksamkeit und Bedeutung erlang-ten, wie die in Nürnberg durchgeführten zwölf Nachfolgeprozesse. Das lag auch dar-an, dass die Anklagestrategie der Vereinigten Staaten eine Konzentration auf ver-schiedene Berufsgruppen zum Inhalt hatte. Es wurden also vorsichtig ausgedrückt Stellvertreter-Prozesse geführt gegen Ärzte, Juristen, Mitglieder von Einsatzgruppen, gegen Industrielle und Diplomaten. Mit dem sogenannten Wilhelmstraßenprozess, also der Prozess gegen Angehörige des Auswärtigen Amtes, wurde im April 1949 diese Art der strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Diktatur in Nürnberg beendet. Während also der Hauptkriegsverbrecherprozess für die Internationale Strafjustiz als Vorbild, in eingeschränktem Sinn als Präzedenz, gelten darf, sind die Nachfolgepro-zesse trotz ihres nationalen Charakters für die Entwicklung des materiellen Völker-strafrechts und den moralischen Strafanspruch der internationalen Gemeinschaft be-deutsam. Soweit zur Klarstellung die Unterscheidung zwischen dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und den sogenannten Folgeprozessen.

1. Die Signifikanz des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses als ersten inter-nationalen Strafprozess besteht zunächst darin, dass im Nürnberger Statut die straf-rechtlichen internationalen Kernverbrechen aufgestellt worden sind, die bis heute dem Grunde nach Gültigkeit haben. Als erstes ist dabei das Verbot des Angriffskriegs zu nennen, Verbrechen gegen den Frieden, wie es in Art. 6 a des Nürnberger Statuts heißt. Als zweites sind die Kriegsverbrechen zu nennen, Art. 6 b des Nürnberger Sta-tuts und zuletzt die Kategorie der Verbrechen gegen die Menschlichkeit normiert in Art. 6 c des Nürnberger Statuts. Diese Liste an internationalen Verbrechen stellt in der Menschheitsgeschichte ein absolutes Novum dar. Entsprechend war die Aner-kennung dieser Verbrechenstatbestände im Verlaufe des Nürnberger Prozesses wie auch in der Nachwirkung höchst umstritten. Das gilt vor allem für den zuerst genann-ten Tatbestand des Verbrechens gegen den Frieden. Zwar gab es in dem sogenann-ten Briand-Kellogg-Pakt von 1928 als eine vertragliche Grundlage für die Ächtung des Krieges in der internationalen Politik; ein strafrechtliches Verbot war damit aller-dings nicht verbunden. Im Vergleich dazu war der zweite Tatbestand, die Kriegs-verbrechen, relativ unstreitig. Auf der Grundlage verschiedener Genfer Konventionen ebenso wie der Haager Landkriegsordnung von 1907 gab es tatsächlich gewisse Handlungen, die als Mittel und Methode der Kriegsführung bei Androhung von Strafe verboten waren. Eine völlige Neuschöpfung hingegen bilden die Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dieser Verbrechenstatbestand stellt den Versuch dar, die bis zum damaligen Zeitpunkt unvorstellbare Grausamkeit und Systematik in der Vernichtung von Menschenleben in einen Begriff und auch einen Straftatbestand zu gießen. Die sich dahinter verbergenden Straftaten, wie Mord, Folter, Versklavung, Ausrottung und dergleichen, sind in sämtlichen zivilisierten Staaten der Welt als strafbare Hand-lungen zweifellos anerkannt. Fraglich ist indes, wie man zum Ausdruck bringt, dass diese „einfachen Verbrechen“ in einem Kontext geschehen sind, der einen Angriff auf die Menschheit als Ganzes enthält. Im Nürnberger Verfahren war man in dieser Ka-tegorie relativ zurückhaltend, so dass der Tatbestand nur im Zusammenhang mit ei-ner kriegerischen Handlung Anwendung fand. Das bedauerliche Resultat dieser re-striktiven Handhabung: Verbrechen an der deutschen Bevölkerung wurden im Nürn-berger Hauptkriegsverbrecherprozess nicht thematisiert. Gleichwohl war im Nürnber-ger Statut mit der Formulierung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit die begriff-liche aber auch die juristische Grundlage für diesen neuen zusammenfassenden in-ternationalen Tatbestand gelegt. Im Kontrollratsgesetz Nr. 10 wurde der Tatbestand geöffnet und der Begehungszusammenhang mit dem Krieg als Voraussetzung ge-strichen. Die moderne Tatbestandsfassung, wie etwa in Art. 7 des Römischen Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof, sieht den internationalen Charakter des De-likts dadurch erfüllt, dass die Einzeltat im Zusammenhang mit einem ausgedehnten oder systematischen Angriff auf eine Zivilbevölkerung stehen muss. Ein Krieg bzw. ein bewaffneter Konflikt ist hingegen nicht (mehr) erforderlich. Diese Liste der Verbre-chenstatbestände wurde von den Vereinten Nationen bereits im Jahr 1946 bestätigt.

In dieser Liste der internationalen Verbrechen fällt auf, dass der Völkermord nicht enthalten ist. Der Tatbestand des Völkermordes war im Jahre 1945 juristisch nicht existent. Erst drei Jahre später, im Jahre 1948, gelang es, durch eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Konvention zur Verhütung und Be-strafung von Völkermord zu verabschieden. Dieser Straftatbestand knüpft, wenn Sie so wollen, an die Verbrechen gegen die Menschlichkeit an, betont dabei im Speziel-len aber die Vernichtung einer besonders abgrenzbaren Gruppe. Es handelt sich da-bei um eine national, ethnisch, rassisch oder religiös definierte Gruppe. Die Konven-tion und damit den Tatbestand des Völkermordes verdanken wir dem unermüdlichen Engagement des polnischen Juristen Raphael Lemkin. Raphael Lemkin war selbst die Flucht über Skandinavien in die USA gelungen, verlor aber fast seine ganze Fa-milie im Holocaust. Nach Kriegsende diente er zeitweise im US-amerikanischen An-klägerteam des obersten Bundesrichter Robert H. Jackson und versuchte dort, seine Idee eines Völkermordtatbestandes zu verwirklichen, konnte sich aber mit dieser neuartigen Herangehensweise nicht durchsetzen. Erst drei Jahre später gelang ihm der Durchbruch. Heute steht der Völkermord in Art. 6 des Römischen Statuts für den internationalen Strafgerichtshof an erster Stelle der internationalen Kernverbrechen. So hat der Völkermord historisch zwar seinen Ursprung in den Verbrechen der Nati-onalsozialisten an der jüdischen und an anderen Minderheiten, er ist juristisch in der strafrechtlichen Aufarbeitung in der unmittelbaren Kriegsfolge allerdings nicht zur Anwendung gelangt.
Damit wird auch ein weiterer Umstand deutlich: Im Nürnberger Hauptkriegsverbre-cherprozess ging es vornehmlich, der US-amerikanischen Anklagedoktrin entspre-chend, um die Ahnung des Führen eines Angriffskriegs. Der Holocaust, die Vernich-tung von Minderheiten und menschenunwürdigen Lebens, trat demgegenüber eher in den Hintergrund. Das entspricht nicht unserer heutigen Wahrnehmung, erklärt sich aber aus den soeben skizzierten juristischen Rahmenbedingungen und dem Um-stand, dass das wahre Ausmaß der Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz und an-derswo erst im Laufe des Prozesses bzw. erst einige Jahre später mit der Auffindung des sogenannten Wannsee-Protokolls im Jahre 1948 deutlich wurde. Es mag zugleich als Ironie der Geschichte angesehen werden, dass vor allem die US-amerikanische Regierung im letzten Jahrzehnt die Verabschiedung eines Tatbestan-des „Führen eines Angriffskriegs“ auf internationaler Ebene bislang erfolgreich torpe-diert hat. In Nürnberg war es doch gerade dieser Tatbestand, den das US-amerikanische Anklägerteam um Robert Jackson für alle Zukunft festgestellt haben wollte.

2. Kommen wir zu meinem zweiten Punkt. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherpro-zess wurden zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Staatssouveräni-tät, der Grundsatz der Immunität von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern sowie das Rückwirkungsverbot zugunsten einer Bestrafung führender Staatsmänner zurückgestellt. Bereits nach dem ersten Weltkrieg wurde eine Bestrafung des als Ag-gressor ausgemachten deutschen Kaisers Wilhelm II. im Versailler Vertrag kon-templiert. Allerdings kam es zu einem solchen Verfahren nie, zumal nicht nur der vorgesehene Straftatbestand, Verbrechen gegen die Heiligkeit der Kriege, reichlich unbestimmt war, sondern auch weil die Niederlande dem verfolgten Kaiser politi-sches Asyl gewährten. Prozesse gegen Kriegsverbrecher durchzuführen wurde auf der Grundlage des Versailler Vertrages schließlich Deutschland, also der nationalen Justiz aufgetragen. Aus der langen Liste vermeintlicher Kriegsverbrecher wurden schließlich sechs Verfahren vor dem Reichsgericht durchgeführt, die als sogenannte Leipziger Prozesse in die Geschichte eingegangen sind. Die geringe Zahl der tat-sächlichen Verfolgten wurde noch „garniert“ mit der großen richterlichen Milde, mit der das Gericht den Angeklagten begegnete. Eines haben diese Verfahren deutlich gemacht: Eine unabhängige Justiz zur Durchführung von Kriegsverbrecherprozessen findet sich sicherlich nicht dort, wo Richter und Angeklagte die gleiche Nationalität besitzen. Die milden Haftstrafen verbunden mit vorzeitigen Entlassungen und Be-gnadigungen sprechen von einem Misserfolg auf ganzer Linie, legt man einen gewis-sen Abschreckungseffekt von Strafprozessen als Maßstab an die Leipziger Prozesse an. Spätestens in der Moskauer Deklaration von 1943 legten sich die Alliierten des-halb auf eine Strafverfolgung der schlimmsten NS-Verbrecher nach dem Sieg über Nazi-Deutschland fest. Die Strafverfolgung sollte auf verschiedenen Ebenen erfolgen und insbesondere dort, wo es keinen expliziten territorialen Bezug gab, sollte eine koordinierte, internationale Strafverfolgung etabliert werden. Nach der totalen Kapitu-lation am 8. Mai 1945 begann daher neben der verwaltungstechnischen Organisation der Besatzungszonen zugleich die Arbeit an einer internationalen Strafverfolgung der Hauptkriegsverbrecher. Auch wenn sich mit Hitler und Goebbels die bedeutendsten Figuren und Repräsentanten des NS-Regimes bereits durch Selbstmord der Strafver-folgung entzogen hatten, standen insbesondere Göring, Rudolf Heß als Hitlers Stell-vertreter, Dönitz als Hitlers Nachfolger, mehrere Wehrmachtsgeneräle wie Keitel und Jodl, verschiedene Reichsminister, wie von Riddentrop und Albert Speer, auch weite-re Repräsentanten des Unrechtssystems noch zur Verfügung. Mit der Anklage auch der politischen Führungsebene Nazi-Deutschlands wird klar, dass der Grundsatz der Immunität für Taten, die in Ausübung eines öffentlichen Amtes begangen werden, bei schweren Menschlichkeitsverbrechen keine Gültigkeit mehr hat. Das gilt selbst dann, wenn das jeweilige nationale Recht so ausgestaltet ist, das die Taten keinen Geset-zesverstoß darstellen. Auch wenn eine rückwärtige Anwendung von Strafrecht nach allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzipien, die auch zur damaligen Zeit Geltung hatten, nicht statthaft ist, so kann das doch dort nicht gelten, wo die Grundlagen der zivilisier-ten Welt selbst von den angeklagten Personen angegriffen wurden. Dies einer streng positivistischen Rechtsdogmatik zunächst widersprechenden Grundlagen basieren zunächst auf einer zutiefst moralischen Überzeugung, darüber hinaus aber auch auf einem allgemeinen Gerechtigkeitsverständnis, sowie auf der Überzeugung, dass es die Weltgemeinschaft nicht zulassen kann, dass ihre eigenen Grundlage selbst er-schüttert werden. Kurz nach Abschluss der Strafverfolgung von NS-Verbrechen in Nürnberg haben sich die europäischen Staaten mit der Verabschiedung der Europäi-schen Menschenrechtskonvention und der Gründung des Europarates eine men-schenrechtliche Verfassung gegeben, die genau diese Werte widerspiegelt. So wur-de auch in Art. 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention der Grundsatz des Rückwirkungsverbotes anerkannt, zugleich in Abs. 2 aber festgestellt, dass dieses Rückwirkungsverbot dann keine Wirkung haben kann, wenn die Tat nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war. Diese Ausnahme vom nullum crimen Grundsatz wurde zunächst von der Bundesre-publik Deutschland als offensichtlicher Versuch, die Nürnberger Prozesse im Nach-hinein zu rechtfertigen, bei der Ratifizierung mit einem Vorbehalt versehen. Nach dem Wiederaufleben der Idee einer internationalen Strafjustiz zunächst durch die Schaffung des Jugoslawientribunals im Jahr 1993, sodann durch die Verabschiedung und Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs, ist die Bundesrepublik Deutsch-land im Jahre 2001 auch formal auf die europäische Linie eingeschwenkt und hat den Vorbehalt zu Art. 7 Abs. 2 EMRK offiziell zurückgezogen.

Die Legitimität von Strafverfahren hängt allerdings auch von einer gewissen gleich-mäßigen Anwendung ab. Eine willkürliche Bestrafung widerspricht elementar dem Rechtsstaatsprinzip. Nach Nürnberg sah sich das Völkerstrafrecht in genau dieser Falle. Der kalte Krieg machte es politisch unmöglich, die Versuche, die seitens der Vereinten Nationen unternommen wurden, einen permanenten Strafgerichtshof ein-zurichten, in die Tat umzusetzen. Bemühungen dieser Art wurden offiziell bereits in den frühen fünfziger Jahren wieder eingestellt. Auf anderen Ebenen jedoch wirkte das in Nürnberg Erreichte fort. So wurden die Genfer Konventionen bereits 1949 neu und umfassend formuliert, versehen auch mit einer ganzen Reihe an konkreten straf-rechtlichen Drohungen. 1977 wurde in den Zusatzprotokollen ein weiterer Fortschritt erreicht. Ähnlich auch auf Ebene der Menschenrechte. Nicht nur im Zusammenhang mit dem Europarat und der Europäischen Menschenrechtskonvention wurden hier Fortschritte erreicht, auch auf internationaler Ebene wurde 1966 mit der Verabschie-dung des internationalen Pakts für bürgerliche und politische Rechte ein menschen-rechtlicher Durchbruch gefeiert. Wie schon erwähnt wurde 1948 mit der Verabschie-dung der Völkermordkonvention ein neuer strafrechtlicher Tatbestand konkret ge-fasst. All das sind Nachwirkungen von Nürnberg. Eine internationale Strafverfolgung fand indes nicht mehr statt, auch wenn es an Gelegenheiten nicht gemangelt hätte.

Die Legitimität von Nürnberg war fast 50 Jahre mit dem Makel behaftet, dass die ein-zigen Verfolgten die besiegten Deutschen waren, und in Deutschland die Meinung deshalb weit verbreitet war, die Nürnberger Prozesse wären ein Akt von Siegerjustiz gewesen. Interessanterweise gelang allerdings ein Durchbruch kurz nachdem der kalte Krieg mit dem Fall der Mauer 1989 sich dem Ende zuneigte. Als auf dem Terri-torium des ehemaligen Jugoslawiens sich ein grausamer Bürgerkrieg entfaltete, rea-gierten die Vereinten Nationen in Erinnerung an den Nürnberger Prozess mit der Er-richtung eines internationalen Straftribunals als Unterorgan des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. So ungewöhnlich dieser Schritt formal wie politisch war, so sehr zeugte er doch davon, dass die Idee einer internationalen Strafverfolgung, wie sie in Nürnberg praktiziert wurde, noch lange nicht in Vergessenheit geraten war. Eher im Gegenteil: Das Statut des Jugoslawientribunals vom 28. Mai 1993 erinnert stark an das Statut des Internationalen Militärtribunals vom 8. August 1945. Danach, so möchte man meinen, ging alles ganz schnell. Bereits ein Jahr später wurde ein weite-res Tribunal vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zur strafrechtlichen Verfol-gung des Völkermordes Ruanda eingerichtet. Im Jahre 1998 schließlich verabschie-dete eine internationale Konferenz das Statut für den Internationalen Strafgerichts-hof, der am 1. Juli 2002 in Kraft getreten ist. Die Überzeugung, dass ein Kernbestand der Menschenrechte auch für jeden Staatsmann verbindlich ist, und dass der Grund-satz der Staatssouveränität hinter den Schutz dieser Menschenrechte auch durch Strafrecht zurück zu stehen hat, darf im Grundsatz weltweit als anerkannt gelten.

3. Eine große Herauforderung für das internationale Strafrecht bildet das Strafverfah-rensrecht. Im Vorfeld des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses war es mehr als strittig unter den alliierten Siegermächten, ob tatsächlich ein rechtsstaatlich aus-gestattetes Strafverfahren angewendet werden sollte, oder ob nicht eine summari-sche Prüfung völlig ausreichend sei. Zudem wurde die Schuld der Angeklagten im Grunde als bewiesen und feststehend angesehen. Es ist vor allem das Verdienst des amerikanischen Chefanklägers Robert H. Jackson, dass in Nürnberg schließlich der Versuch unternommen wurde, ein Strafverfahren durchzuführen, das rechtsstaatli-chen Anforderungen genügen kann. Entscheidet man sich für ein Strafverfahren, so Robert Jackson in seiner Rede vor der amerikanischen Gesellschaft für internationa-les Recht am 14. April 1945, so muss grundsätzlich von der Unschuld der Angeklag-ten ausgegangen werden. Ist man nicht bereit, den Angeklagten freizusprechen, so darf man kein rechtsstaatliches Strafverfahren durchführen.

Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess wurde dieser Grundsatz bei aller Kritik im Einzelnen, ernst genommen, was man auch daran ablesen kann, dass mit von Papen, Fritsche und Neurath gegen den erbitterten Widerstand der sowjetischen Richter immerhin drei Personen freigesprochen worden sind. Robert Jackson war im übrigen von der Mühe, die ein internationales Strafverfahren mit sich bringt, selbst überrascht, da er beim Beginn des Prozesses im November 1945 noch davon aus-ging, dass bis Weihnachten die Verurteilungen vorlägen. Dass es schließlich noch weitere zehn Monate dauerte, ist aus heutiger Sicht gleichwohl überraschend, be-denkt man, dass die Verfahren vor dem Jugoslawientribunal in der Regel mehrere Jahre beanspruchen. Auch wenn das Strafverfahren in Nürnberg aus heutiger Sicht an Fairness einiges zu wünschen übrig lies, muss doch berücksichtigt werden, dass den Angeklagten jeweils ein Verteidiger zur Seite gestellt wurde, dass ihnen ausrei-chend Zeit und Gelegenheit gegeben wurde, Beweise, die zur Entlastung dienen, vorzutragen und ein aufwendiges Dolmetschersystem die Verständlichkeit gewähr-leistete.

Lassen sie mich zusammenfassend folgendes festhalten:
Die Signifikanz von Nürnberg zeigt sich vor allem in drei Punkten: Es gibt eine Liste von Kernverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegs-verbrechen und Verbrechen des Angriffskriegs, die Gültigkeit hat gegenüber jeder Person, sei sie Staatsoberhaupt oder auch nicht, und die mittels eines fairen Verfah-rens vor internationalen Richtern durchgesetzt werden kann. Der Nürnberger Haupt-kriegsverbrecherprozess hat in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht nur eine Fülle nationaler Strafprozesse ausgelöst, man spricht hier von weit über 10.000 Strafver-fahren weltweit, nimmt man den asiatischen Raum mit dazu, und hat ein Bemühen in Gang gesetzt, schlimmste Verbrechen strafrechtliche zu ahnden, unabhängig von Raum und Zeit, denkt man an die spektakulären Prozesse der Folgezeit etwa den Ulmer Einsatzgruppenprozess, den sogenannten Ausschwitz-Prozess in Deutsch-land, den Eichmann-Prozess in Jerusalem, die Verfahren gegen Papin oder Trouvier in Frankreich und etliche mehr. Diese Verfahren sind in Europa Teil der kollektiven Erinnerungskultur. Erinnerung an die schlimmsten Übergriffe, die schlimmsten Verbrechen, die sich Menschen gegenseitig antun können, die Erinnerung aber zugleich an die Möglichkeit, mit diesen Verbrechen fertig zu werden, in rechtsstaatli-chen Verfahren eine passende Antwort zu finden und so ein friedliches Zusammen-leben in Zukunft zu fördern und zu ermöglichen. Ausgehend von Nürnberg hat sich daher weltweit die Meinung durchgesetzt, dass Völkerstrafrecht der Beginn eines Neuanfangs sein kann, der es überflüssig macht, auf archaische Reaktionsmuster wie Rache und neuerlichen Krieg zurückzugreifen. Dabei, meine Damen und Herren, darf man nicht übersehen, dass in Nürnberg vergleichsweise ideale Verhältnisse vor-lagen. Der Krieg war zu Ende, das rechtskulturelle Umfeld war einem strafgerichtli-chen Verfahren aufgeschlossen gegenüber, der Großteil der Bevölkerung sah in den Angeklagten die Verantwortlichen für Krieg und Leid und befürwortete daher eine Verurteilung. Diese Grundbedingungen sind allerdings eher selten. In Jugoslawien hatte der Bürgerkrieg noch nicht einmal seinen Höhepunkt erreicht, als der Sicher-heitsrat das Jugoslawientribunal einrichtete. In Ruanda besteht ein ausgeprägtes alternatives Reaktionsmodell, was mit strafrechtlicher Aufarbeitung kaum vergleich-bar ist, in Kambodscha gibt es kein Vertrauen gegenüber Gerichtsverfahren. Die Nürnberger Prozesse zeigen zwar einen und in dem konkreten Fall – wie ich finde – erfolgreichen Weg, grausames Unrecht aufzuarbeiten und ein friedliches Zusammen-leben in der Zukunft zu gewährleisten, es ist aber keinesfalls der einzige und wird nicht in jeder Situation der richtige Weg sein. Für Europa freilich bedeuten die Nürn-berger Prozesse den Beginn einer lange anhaltenden friedlichen Vereinigung, die weltweit bislang ihresgleichen sucht. Das moderne Europa der Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit hat auch in Nürnberg seinen Ursprung.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.