4th Seminar of European Ministers of Education “Teaching remembrance: for a Europe of freedom and rule of law”. Nuremberg and Dachau, Germany, 5-7 November 2008

Speech by Minister Annegret Kramp-Karrenbauer, President of the KMK

6 November 2008

Eröffnungsrede
Präsidentin der Kultusministerkonferenz
Europarat - 4. Ministerseminar zum Holocaust-Gedenken

Anreden und Begrüßung:

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident [oder Stellvertreter]
sehr geehrter Herr Botschafter Bellatti Ceccoli,[Vertreter des Ministerkomitees des Europarates und Ständiger Vertreter San Marinos beim Europarat].
sehr geehrte Frau Brasseur
sehr geehrter Herr Mazza, [Leiter der Abteilung für Bildung und Sprachen der Generaldirektion IV]
hoch verehrte Kolleginnen und Kollegen,

ich freue mich außerordentlich, Sie hier in Nürnberg an historischer Stätte begrüßen zu können, bedanke mich für Ihr Kommen und freue mich auf einen guten Austausch von Anregungen zu unserem Thema. Das rege Interesse und die hochrangige Teilnahme weist auf die Bedeutung hin, die das Erinnern an den Holocaust und seine Vermittlung im Unterricht heute und in der Zukunft haben muss.

Mit den Ministerseminaren im Rahmen des Europarats-Projekts „Teaching Remembrance ...“ verfolgen wir gemeinsam das doppelte Ziel, die Erinnerung an den Holocaust und die Verhinderung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit als einen dauerhaften Bestandteil der Lehrpläne in den Mitgliedstaaten des Europarates zu etablieren. Wir haben dazu bereits 2001 die Einrichtung eines Gedenktages an Schulen beschlossen, der von jedem Mitgliedstaat seinen nationalen historischen Rahmenbedingungen entsprechend festgelegt werden kann. In den vorausgehenden Seminaren haben sich die Bildungsminister unter anderem mit dem Erinnern durch das kulturelle Erbe beschäftigt, mit der pädagogischen Bedeutung authentischer Gedenkstätten oder den Zeugnissen von Überlebenden des Holocaust für den Unterricht.

Hier in Nürnberg wollen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der Schule zur Verhinderung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit genutzt werden kann. Oder anders ausgedrückt: Wie können wir „Menschlichkeit“ als Ethos eines europäischen Staatsbürgertums verankern?

Die Wahl der Stadt Nürnberg als Tagungsort verdeutlicht die Leitlinien des Seminars: es wird thematisch ein Bogen gezogen von dem Unrechtsstaat des „Dritten Reichs“, der sich mit den Nürnberger Rassegesetzen einen scheinbar rechtlichen Rahmen schuf für die Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung der Juden bis hin zu den Nürnberger Prozessen und die Bedeutung der internationalen Gerichtsbarkeit zur Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit als unabdingbare Voraussetzung für ein Europa der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit.

Darin wird am Nachmittag des ersten Tages ein Besuch in der KZ-Gedenkstätte Dachau eingebettet sein. Wir wollen die Erinnerung an den Holocaust wach halten, seine Vermittlung durch die Einbeziehung von Zeitzeugen behandeln und ihre besondere Rolle im schulischen Unterricht erörtern. Den Abschluss der thematischen Beiträge bildet der Vortrag des ehemaligen polnischen Außenministers und Auschwitz-Überlebenden, Herrn Bartoszewskis, zu dem Thema eines „europäischen Bürgerethos“ („Towards a European citizens‘ ethos“), das auf die Idee eines europäischen Staatsbürgertums verweist.

Im Jahr 2008 bestehen gleich mehrere Anlässe, sich der systematischen Verfolgung jüdischer Menschen und des Holocausts zu erinnern:

o Die Novemberpogrome 1938 waren eine von den Nationalsozialisten organisierte und gelenkte Zerstörung von Leben, Eigentum und Einrichtungen der Juden im gesamten Deutschen Reich. Etwa 400 Menschen wurden ermordet oder in den Tod getrieben. Ab dem 10. November wurden ungefähr 30.000 Juden in Konzentrationslagern inhaftiert, wo nochmals Hunderte ermordet wurden oder an den Haftfolgen starben. Die Pogrome markierten den Übergang von der Diskriminierung und Ausgrenzung zur systematischen Verfolgung. Spätestens seit dem November 1938 mit dem Brand der Synagogen musste allen Deutschen klar sein, dass es um die Existenz der jüdischen Bevölkerung ging.

o 2008 feiern wir aber auch den 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel. Für die allermeisten der in aller Welt – insbesondere in Deutschland - lebenden Juden ist Israel religiöse und geistige Heimat. Wenn es verfolgte Juden in der Welt gibt, haben sie in Israel Zuflucht und Zukunft. Und: Wenn es in der nationalsozialistischen Zeit diesen Staat gegeben hätte, wären Millionen Menschen am Leben geblieben. Die Gründung des Staates Israel vor genau 60 Jahren symbolisiert den Sieg jüdischer Ethik über den Rassenwahn der Nationalsozialisten. Und: Für das Existenzrecht Israels einzutreten ist gewissermaßen zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland geworden.

Besonderes Anliegen und zentrale Frage, die ich mir als Präsidentin der Kultusministerkonferenz stelle:
Wir haben eine besondere Verantwortung, die Erinnerung an die Shoah wach zu halten.
Welchen Herausforderungen müssen wir uns heute stellen, wenn wir gegenüber jungen Menschen das Grauen des Holocaust thematisieren wollen?

- Deutschland hat während des nationalsozialistischen Gewaltregimes und während des II. Weltkrieges unendliches Leid über die Welt gebracht.
- Die Berichte der damaligen Zeitzeugen über die verübten Gräueltaten, die Dokumentationen und Darstellungen erschüttern
- aber es ist auch irritierend feststellen zu müssen, wie schnell die Gräueltaten aus der Zeit des Nationalsozialismus in Vergessenheit geraten können
- Ich darf Ihnen versichern: Das Thema „Nationalsozialismus und Holocaust“ ist im Schulunterricht in der Bundesrepublik Deutschland fest verankert. Es dürfte keine Schülerin und keinen Schüler geben, die bzw. der bei regelmäßigem Schulbesuch nichts über das düsterste Kapitel deutscher Geschichte erfährt.
- Richtig ist aber auch: Zwar ist der einmalige Zivilisationsbruch durch die Shoah noch kein Menschenleben alt. Durch das Aussterben der Zeitzeugen gehört diese Epoche jedoch bald nicht mehr zur Zeitgeschichte. Die damit einhergehende Historisierung droht die Einmaligkeit und das Besondere des Holocausts zu relativieren.
- Es muss um das Ziel gehen: die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus auch künftig wach zu halten. Denn für die Zukunft unseres Landes ist es von entscheidender Bedeutung, dass Demokratie und Achtung der Menschenwürde nicht selbstverständlich sind, sondern - in allen Bereichen des Zusammenlebens – immer neu verteidigt und gepflegt werden müssen.
- Pädagogen und Schülern wird dabei viel abverlangt: Die Jugendlichen müssen weit Zurückliegendes mit dem an sie gestellten Anspruch verbinden, das Geschehene als Teil der Vergangenheit und als Auftrag für die Zukunft des eigenen Volkes zu begreifen. In einer noch schwierigeren Situation befinden sich Jugendliche mit Migrationshintergrund. Warum sollten sie Empathie für die Opfer entwickeln, obwohl ihre Wurzeln nicht im Land der Täter liegen?
- Daher sollten wir in den Schulen den pädagogischen und fachlichen Ansatz ausweiten: Natürlich müssen Nationalsozialismus und Holocaust weiter ihren Platz im Geschichtsunterricht behalten. Das reicht aber nicht aus. Und frontale Überzeugungsarbeit geht sicher nicht in die richtige Richtung.
- Erfolg versprechender ist es meiner Meinung nach, die Verfolgung der Juden auch im Rahmen einer fächerübergreifenden Menschenrechtserziehung zu behandeln.
- Ich halte es auch für bedeutsam, die sichtbaren Zeichen jüdischen Lebens in Deutschland zu stärken: Die Synagogen, die Ausbildung neuer Rabbiner, die vielen jüdischen Kindergärten und Schulen – nicht zu vergessen die vielen Gesprächskreise christlich-jüdischen Dialogs.
- Das Miteinander von Juden und Nicht-Juden in Deutschland ist lebendiger und intensiver als wir es uns vor einigen Jahren noch vorstellen konnten.

Der leider viel zu früh verstorbene Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, war sich der verantwortungsvollen Aufgabe bewusst, vor der Eltern, Pädagogen, Historiker und die politische Bildung stehen, als er formulierte:

„Der Holocaust ist von diesem Land ausgegangen, er hat hier stattgefunden, in diesem Land befinden sich die authentischen Orte des Erinnerns, des Gedenkens. Vor allem Jugendliche sollten die Gedenkstätten in den ehemaligen Konzentrationslagern besuchen, denn das Wissen um das, was geschehen ist, entsteht zuerst und am intensivsten an den authentischen Orten des Grauens, an den authentischen Orten der Trauer - und hier meine ich nicht nur die intellektuelle Einsicht. Ich meine auch das emotionale Begreifen, so weit dies überhaupt möglich ist. Nur so können bei jungen Menschen, die ja selbst nicht schuldig sind, die Grundlagen für eine Haltung gelegt werden, die mir die einzig mögliche Konsequenz aus dem Geschehen zu sein scheint: Das heißt die Haltung, die Unverletzlichkeit der Person des anderen immer und überall zu respektieren - auch dann, wenn einem dieser andere zuweilen fremd erscheinen mag, und auch dann, wenn einem dies Anstrengungen, Zivilcourage, ja sogar Mut kosten kann.“

- Der Unterricht sollte aktuelle Bezüge herstellen, ohne damit die Singularität des damals Geschehenen in Frage zu stellen oder verwischen zu wollen.
- Jugendliche interessiert sehr wohl, was jüdisches Leben ausmacht – sie kennen es zu wenig – es gilt daher, Vorurteile abzubauen.
- Welchen kulturellen Verlust hat Deutschland durch den Holocaust erlitten?
- Was bedeutete Diskriminierung damals? Was macht heute Diskriminierung aus? Wie gehen Jugendliche aktuell damit um, wenn Menschen wegen ihres Aussehens, ihrer individuellen Lebensgestaltung, ihrer Kultur, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Nationalität oder Herkunft, ihrer Religion oder ihrer Behinderung benachteiligt werden?
Dies sind Fragen, die im Unterricht Ansatzpunkte bilden können für eine moderne Menschenrechtserziehung, die sich der Vergangenheit erinnert, aber zugleich junge Menschen zu Toleranz, Empathie und solidarischem Eintreten gegen Diskriminierungen jeder Art stärkt.
Ich danke ausdrücklich dem Auswärtigen Amt, der Bayerischen Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit sowie den Verantwortlichen der Tagungsstätten für die Zusammenarbeit und Unterstützung sowie allen Teams für die sehr engagierte Mitarbeit bei der Vorbereitung und Durchführung unserer Tagung.

In diesem Sinne freue ich mich über das große Interesse an diesem Ministerseminar und wünsche uns allen gute Gespräche in den nächsten beiden Tagen.